Читать книгу Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents. - Philipp Köster - Страница 6
ОглавлениеProlog
Wenn Wolfgang Lötzsch nicht mehr nachdenken möchte, dann setzt er sich auf sein Fahrrad und fährt seine Lieblingsstrecke über Weißbach und Scharfenstein nach Schmalzgrube und zurück. Nicht mehr nachdenken darüber, was gewesen wäre, wenn…
Wenn er damals im Jahre 1971 in die SED eingetreten wäre. Wenn sein Vater nicht gegenüber Funktionären gesagt hätte, es gäbe in der DDR keine Pressefreiheit. Wenn nicht gleichzeitig der Eiskunstläufer Günter Zöller in den Westen geflüchtet wäre. Und wenn nur ein Funktionär des Sportclubs Karl-Marx-Stadt ihm vertraut hätte. Vielleicht wäre Wolfgang Lötzsch heute ein ehemaliger Weltmeister, ein Olympiasieger, ein mehrfacher Gewinner der Friedensfahrt. Ein Sportidol, weit über Chemnitz und Deutschland hinaus bekannt.
Wolfgang Lötzsch hatte alle Anlagen. Er war ein Jahrhunderttalent. »Das größte Talent der DDR«, sagt der ehemalige Nationaltrainer Wolfram Lindner noch heute. Aber dann erschien er dem Staat, für den er Medaillen holen sollte, als nicht mehr zuverlässig. Erst stieß man ihn aus, dann schikanierte und bespitzelte man ihn und schließlich steckte man ihn ins Gefängnis. Die Akte des Wolfgang Lötzsch bei der Staatssicherheit umfasste 1.500 Seiten Papier. Schwarz auf weiß steht darin, wie er binnen Jahresfrist vom Hoffnungsträger zum Staatsfeind wurde. Wie ihn Freunde verrieten und Arbeitskollegen verpfiffen. Aber auch, wie sehr der Staat ihn gefürchtet hat.
Denn Lötzsch ist nicht zerbrochen wie so viele vor und nach ihm. Er hat dem Staat die Stirn gezeigt. Er ist weiter Rad gefahren – gegen die Nationalfahrer und gegen den inneren Schweinehund. Er hat Rennen gewonnen, die nicht zu gewinnen waren, mit einem zwanzig Jahre alten Rahmen gegen die hochgerüstete Konkurrenz. Und er hat widerstanden, als sie ihn großzügig wieder aufnehmen wollten, wenn er nur mit ihnen zusammenarbeiten würde. Er hat widerstanden. Aber er hat einen hohen Preis gezahlt. Weil es verlorene Jahre waren. Im Westen wäre Wolfgang Lötzsch reich geworden, im Osten berühmt.
Heute hat er sein Auskommen und ein Haus in Chemnitz. Und der Radsport hat ihn nicht losgelassen. Als Mechaniker im Profi-Team Gerolsteiner wartet er die Räder solcher Stars wie Davide Rebellin, Georg Totschnig und Danilo Hondo. »Ich bin zufrieden«, sagt er. Es ist nicht die Gegenwart, die schmerzt.
Wolfgang Lötzsch tritt energisch in die Pedale, fährt über Weißbach, Scharfenstein nach Schmalzgrube. Das Gesicht im Wind, die Sonne in den Speichen. Und kein Gedanke mehr an 1.500 Seiten Papier.