Читать книгу Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents. - Philipp Köster - Страница 8

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Damenrad im Schulausscheid

Wolfgang Lötzsch ist sechs Jahre alt, als er das erste Mal auf einem Rad sitzt. Die ersten Tritte sind noch ungelenk, und eigentlich ist das Damenrad seiner Mutter auch nicht für einen kleinen Jungen geeignet. Aber der Vater hat ihn nun einmal in den Sattel gesetzt, und nun fährt er schwankend die ersten Meter. Beinahe scheint es so, als würde er stürzen, aber Wolfgang fängt sich und das Rad. Dann fährt er Meter um Meter. Am Ende ist er gar nicht mehr herunterzubekommen vom Rad seiner Mutter. Nur ein paar Tritte in die Pedale, und schon hat er gemerkt, dass ihn das Radfahren glücklich macht – glücklicher als alles andere auf der Welt. Im Sattel zu sitzen, das Gesicht im Wind, die Sonne in den Speichen.

Seit diesem Tag, da ihm sein Vater hinauf geholfen hat, steigt Wolfgang Lötzsch nur noch vom Rad, wenn er unbedingt muss. Wenn die Schule ruft oder die Mutter zum Essen. Mittags ist es nun stets das gleiche Spiel. Kaum ist er aus der Schule zurück, wirft er den Ranzen in hohem Bogen in sein Zimmer, setzt sich aufs Rad und fährt davon. Das Chemnitztal saust er hinunter, die Leipziger Straße entlang. Oft fährt er allein bis zum Autobahnzubringer in Richtung Leipzig und kehrt erst dann um. Vielen Vereinsfahrern begegnet er dabei, die über den Jungen schmunzeln, der da so fleißig auf dem Damenrad in Richtung Zubringer strampelt. Anfangs ist er bei solchen Fahrten schnell aus der Puste, doch schon bald hält es ihn immer längere Strecken im Sattel.

Es sind glückliche Monate, glückliche Jahre. Weil ihn die Eltern fahren lassen und weil er merkt, wie er durch die endlosen Nachmittage im Sattel immer besser wird. Doch als der Sommer beginnt, sitzt er oft nicht auf dem Rad, sondern hängt am Radio. Denn dort bringen sie die Übertragungen von der Friedensfahrt: Das Etappenrennen durch die sozialistischen Länder, die Tour de France des Ostens, zieht auch Wolfgang Lötzsch in seinen Bann.

Anders als andere sportliche Großereignisse, die ebenfalls als Konkurrenz zu westlichen Veranstaltungen geplant wurden, ist die Friedensfahrt Mitte der sechziger Jahre in der DDR längst zum sportlichen Mythos geworden. Wenn die Etappen der Rundfahrt durch Sachsen und durch das Erzgebirge führen, dann säumen Hunderttausende begeisterter Zuschauer die Straßen. So groß soll die Euphorie gewesen sein, dass sich kein Baum mehr finden ließe, an dem man unauffällig einem menschlichen Bedürfnis hätte nachgehen können, notieren die Zeitungen beeindruckt.

Wie so viele andere Jungen kennt auch Wolfgang Lötzsch die Namen derer auswendig, die da vorneweg fahren: Er kennt den DDR-Fahrer Klaus Ampler, den Russen Gennadi Lebedjew und Jan Smolik aus der Tschechoslowakei. Und er kennt vor allem Dieter Wiedemann, seinen Cousin und sein großes Idol.

Wiedemann ist Radsportler, ein wirklicher Radsportler im Nationalkader. Dritter wird er bei der Friedensfahrt 1964. Kein Zweifel, Dieter Wiedemann ist einer der besten Straßenfahrer der noch jungen DDR, er steht vor einer großen Karriere. Bis er sich anlässlich eines Rennens in Gießen entschließt, im Westen zu bleiben, und von heute auf morgen in der DDR als Hochverräter gilt.

Die Familie Lötzsch erfährt von der Flucht erst nur bruchstückhaft – durch vereinzelte Andeutungen aus der Verwandtschaft. Es ist eine heikle Sache, denn auch entfernt verwandt zu sein mit einem, der geflohen ist, ist in der DDR der sechziger Jahre höchst verdächtig. Schließlich liegt ein Brief von Wiedemann im Postkasten, mit westlicher Briefmarke und den besten Wünschen. Und Alfred Lötzsch sagt: »Gut hat er das gemacht!«

Für Wolfgang Lötzsch ist das alles noch weit weg. Natürlich bleibt Wiedemann sein Idol, da sind Dreizehnjährige treu. Und dann dreht er das Radio noch einmal lauter, wenn sich die Stimme des Reporters knarzend aus dem Röhrengerät meldet und vom erbitterten Kampf der Fahrer an der steilen Wand von Meerane berichtet – jenem unvermittelten Anstieg direkt hinter einer Linkskurve, der die Fahrer auf nur 1,1 Kilometern so unglaublich ins Schwitzen bringt. Das wäre es doch, sagt er zu sich, selbst einmal mitzufahren, dabei zu sein im großen Pulk der Friedensfahrer – am Hinterrad der Stars, umjubelt von Hunderttausenden an der Strecke. So wie Ampler und all die anderen.

Doch noch ist das große Etappenrennen nur im Radio zu hören und sehr weit weg von der Chemnitztalstraße in Karl-Marx-Stadt. Da trifft es sich gut, dass auch die Oberschule Furth anlässlich der Friedensfahrt 1965 einen kleinen Schulausscheid fährt. Es ist ein harmloses Rennen, lediglich ein paar Kilometer misst die Strecke, auf der die Jungen der Schule um die Wette strampeln sollen. Und nur wenige Schüler haben Rennräder mit schmalen Reifen und echten Rennlenkern.

Wie viele andere steht auch Wolfgang Lötzsch mit seinem Tourenrad auf der Straße – mit Schutzblechen, einer Klingel und einer Rücktrittbremse. Und doch, das merkt er schnell: Er kann mithalten mit den kräftigeren Mitschülern auf den schnellen Rädern. So stark tritt er in die Pedale, so wuchtig ist sein Antritt, dass er am Ende stolzer Zweiter des Schulausscheides wird.

Erst einige Minuten später kommen viele der vorher noch so selbstbewussten Konkurrenten ins Ziel und stützen sich enttäuscht auf die Lenker ihrer blitzend neuen Rennräder. Zweiter, das ist doch etwas, denkt sich Wolfgang Lötzsch, aber das nächste Mal möchte ich gewinnen. Und ohne es zu merken, ist er endgültig und für immer dem Radsport verfallen.

Doch es muss sich etwas ändern. Er ist doch jetzt ein junger Radsportler, aber noch immer muss er seine Trainingsrunden auf einem alten Tourenrad drehen. Wenn er das Rad aus der Einfahrt schiebt, schämt er sich für den klobigen, schweren Stahlrahmen und den altertümlich gebogenen Lenker.

Da trifft es sich gut, dass Wolfgang Lötzsch am 18. Dezember Geburtstag feiert: Das ist nah an Weihnachten und eine gute Voraussetzung für ein großes Geschenk von den Eltern. Doch die machen es spannend, und erst, als er ins Wohnzimmer darf, wo bereits die Lichter des Weihnachtsbaumes brennen, macht sein Herz einen großen Sprung. Denn am Sofa lehnt sein erstes Rennrad.

Genau 643 Ost-Mark hat das Rad der Marke »Diamant« die Eltern gekostet. Es hat eine Zehn-Gang-Schaltung, schmale Reifen und keine Schutzbleche. In der Nacht findet Wolfgang Lötzsch kaum Schlaf. Er kann es nicht erwarten, die Füße in die Pedalschlaufen zu stecken und loszufahren – den Glücksberg hinunter, die Leipziger Straße entlang, zum Autobahnzubringer. Am nächsten Morgen fährt er früh los und dem Sonnenaufgang entgegen. Wie leicht es sich nun fährt, ohne den wuchtigen Ballast des stählernen Tourenrades. Wie gut es sich doch anfühlt, auf einem richtigen Rad zu sitzen.

Die Eltern betrachten die Begeisterung des Sohnes mit gemischten Gefühlen. Nachmittags ist Wolfgang kaum noch daheim, die Schularbeiten werden nur noch nebenher erledigt.

In den folgenden Monaten sieht man Wolfgang Lötzsch immer wieder in der Nähe der Geschäftsstelle des Sportclubs Karl-Marx-Stadt. Dort, wo sie richtige Rennen fahren, wo Trainer die Jugendfahrer ausbilden, wo sie in Gruppen zum Training fahren. Und eines Tages, nach der Schule, geht Wolfgang Lötzsch in die Geschäftsstelle und lässt sich einen Mitgliedsantrag der Sektion Radsport aushändigen. Zuhause legt er den Antrag auf den Wohnzimmertisch, die Eltern müssen unterschreiben. Sein Vater hat nichts dagegen, doch die Mutter macht sich Sorgen. »Das ist doch viel zu gefährlich, Wolfgang«, sagt sie und der Vater muss sie erst beruhigen. Dann unterschreiben sie, und Wolfgang bringt das Formular zurück zum Vereinsheim.

Es ist der Eintritt in ein streng abgezirkeltes System der Privilegien und Fördermaßnahmen. Denn im Radsport der DDR greifen längst jene ausgeklügelten Mechanismen, die aus dem Leistungssport ein schlagkräftiges Instrument im Kampf gegen Imperialismus und Faschismus machen sollen. Manfred Ewald, seit 1961 mächtiger Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes, trimmt die Sportclubs und Industriesportvereine eisern auf Medaillenkurs. Auch der Radsport atmet fortan im olympischen Vierjahrestakt.

Die stramme Ausrichtung auf Medaillen und Siege ist bis in den neuen Verein von Wolfgang Lötzsch hinein zu spüren. Mit den anderen Sportclubs konkurriert der SCK erbittert um die jungen Talente, vor allem an den Rändern der Einzugsgebiete jagen sich die Vereine gegenseitig den viel versprechenden Nachwuchs ab. »Es ging uns niemand durch die Lappen«, sagt Wolfram Lindner, damals Trainer in Karl-Marx-Stadt und später lange Jahre Nationaltrainer der Straßenfahrer: »Unser Sichtungsnetz war dicht geknüpft.«

Unterbietet ein Nachwuchsfahrer eines kleineren Vereins bei einem Rennen die strengen Normen des Verbandes, wird er sofort in ein Sichtungsprogramm aufgenommen und mehrfach beobachtet. Bestätigt er seine Leistung, wird ihm alsbald der Wechsel zum Sportclub nahe gelegt. Auch die Aufnahme in die Kinder- und Jugendsportschule ist dann nur noch Formsache.

Die Jahre, in denen Wolfgang Lötzsch die ersten Rennen für den Sportclub bestreitet, sind Jahre des Aufbruchs für den Radsport in der DDR. Denn seit den großen Tagen des Gustav Adolf Schur, den alle nur »Täve« nennen, steckt der DDR-Radsport in der Krise. Zwar gewinnt Klaus Ampler 1963 die Friedensfahrt, aber umso mehr fällt auf, dass für die DDR-Sportler bei den Olympischen Spielen nur noch wenig zu holen ist. Das gefällt Sportbundchef Ewald ganz und gar nicht. So treibt er die Verantwortlichen an, die Sichtungen zu optimieren, neue Trainingsmethoden zu entwickeln und vor allem viele Medaillen zu holen.

»›Ganz vorne ist zu weit hinten‹, so hat Manfred Ewald gedacht«, erinnert sich heute Wolfram Lindner, der damals an führender Position mit dabei ist, als die Kaderschmieden des DDR-Sports errichtet werden. Und die Republik belohnt die erfolgreichen Funktionäre reichlich. Wenn sie von großen Sportwettbewerben Edelmetall mitbringen, dann dürfen sie reisen, und kurze Zeit später steht ein fabrikneues Auto vor der Tür.

»Die ganze Sache mit Wolfgang Lötzsch hat mich mehrere Ladas gekostet«, sagt Wolfram Lindner heute. Lötzsch hätte sie ihm beschert. »Ganz sicher«, ist Lindner überzeugt.

Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents.

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