Читать книгу Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents. - Philipp Köster - Страница 9

Оглавление

Ideale Hebelverhältnisse

Fünfzig junge Radfahrer quälen sich den Badberg hinauf. Mit gebeugten Rücken umklammern sie die Lenker, gehen aus dem Sattel und treten wild in die Pedale. Sie wollen den Abstand verringern zu den beiden Akteuren, die scheinbar mühelos weit vor dem Feld fahren. Wolfgang Lötzsch vom Sportclub Karl-Marx-Stadt und sein Teamkollege Peter Lantzsch sind enteilt und fahren einem ungefährdeten Sieg entgegen. Nur noch wenige Kilometer sind es bis zum Ziel, da tritt der hoch aufgeschossene Wolfgang Lötzsch noch einmal in die Pedale und fliegt davon. Lantzsch muss abreißen lassen. Mit anderthalb Minuten Vorsprung – die Anstrengung der letzten Stunden ist ihm kaum anzusehen – kommt Lötzsch schließlich als Sieger ins Ziel. Überlegen gewinnt er die Straßeneinzelmeisterschaft über 130 Kilometer auf dem Sachsenring. Man schreibt den Juli des Jahres 1971.

Wolfgang Lötzsch gilt zu diesem Zeitpunkt bereits als größtes Radsporttalent der Republik. Mit vierzehn Jahren, kurz nach seinem Eintritt in den Sportclub, ist er den aufmerksamen Talentspähern in Karl-Marx-Stadt zum ersten Mal aufgefallen. Nicht unbedingt eine überragende Technik ist es, mit der er die Fachleute begeistert. Auch körperlich hat der Junge noch Defizite. Nein, vor allem die langen Beine des Jungen scheinen wie für den Radsport geschaffen. Ideale Hebelverhältnisse diagnostizieren sie mit Kennerblick – das könnte einer werden.

Doch zunächst kommt Wolfgang Lötzsch in der neu geschaffenen Schülerklasse A nicht zurecht. Er fährt noch mit dem Rennrad, das ihm seine Eltern zum Geburtstag geschenkt haben und landet zumeist weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen. Vor allem physisch kann er mit seinen oft schon muskulöseren Altersgenossen noch nicht mithalten, er ist ein Spätentwickler. Doch die Trainer im Sportclub Karl-Marx-Stadt kennen ihr Geschäft und wissen genau: Da passiert noch etwas im Körper des gerade fünfzehnjährigen Lötzsch.

Er trainiert nun bei Übungsleiter Paul Tennler. Der bringt ihm erst einmal bei, was es bedeutet, konzentriert und mit der nötigen Disziplin zu trainieren. Vorbei ist es nun mit den wilden Ausfahrten in die Umgebung von Karl-Marx-Stadt, vorbei mit der sturen Bolzerei. Tennler ist ein Mann der alten Schule, kein Verfechter moderner Trainingslehre. Radsport, das ist für ihn vor allem Kraft und Ausdauer. Auf dem Motorrad begleitet er seinen Schützling bei den Ausfahrten und bellt ihm Kommandos hinüber. Und Wolfgang Lötzsch lernt. Das Verhalten im Feld, die Fahrt am Hinterrad, der passende Zeitpunkt zum Angriff, die richtige Technik am Berg. Lötzsch begreift schnell und er spürt selbst, wie er von Einheit zu Einheit besser wird.

Bald schon platzt der Knoten bei Wolfgang Lötzsch. Wurde er auch in der Jugend B noch allzu oft von kräftigeren Gegnern abgehängt, so eilt er in der Jugend A von Sieg zu Sieg. Er wird souveräner DDR-Meister im Mannschaftsverfolgungsfahren. Er ist Mitglied des Teams, das am Pokal der Sozialistischen Länder teilnimmt. Und längst schon ist er einer der hoffnungsvollen Kandidaten, die sich die Trainer des Verbandes ausgeguckt haben. Sie sind auf der Suche nach potenziellen Medaillengewinnern für die Olympischen Spiele 1972 in München.

In einer Information des IM-Kandidaten »Siegfried Polland« vom 2. Dezember 1971 heißt es: »Der ausgezeichnete Nachwuchsfahrer Lötzsch wird in Zukunft hauptsächlich auf der Straße eingesetzt. Das wurde vom Radsportverband beschlossen, um aus der Misere auf der Straße herauszukommen. Nach Ansicht der Trainer des SCK ist dieser Beschluss falsch. Mit dem Lötzsch auf der Bahn könnte die Medaille in München (geplant ist eine silberne) vergoldet werden. Der Lötzsch würde sich noch in diesem Jahr in die Weltspitze auf der Bahn fahren.«

Lötzsch genießt nun alle Annehmlichkeiten der elitären Sportförderung der DDR. Im Sportclub wird er fortan nach Kräften gefördert und trainiert unter Peter Schiffner, einem ausgewiesenen Fachmann. Er fährt neuestes Material aus westlicher Produktion und wird bei Rennen so umfassend betreut wie ein erwachsener Fahrer. Und es geht prompt steil bergauf mit der Karriere. Bei der Spartakiade 1970 gewinnt er drei Goldmedaillen, zugleich wird er in der Jugend A dreimal DDR-Meister.

Wolfgang Lötzsch ist kaum noch zu bremsen. Wo immer ein Rennen stattfindet, meldet er für den Start. Der Sportreporter Lothar Branzke vom Radsportler spricht ihn während der Junioren-Sternfahrt, einem Rennen für die besten Fahrer der sozialistischen Länder, darauf an. Ob er denn nicht fürchten würde, bei all den Starts frühzeitig auszubrennen, fragt er den Sieger der Sternfahrt. Und der muss lachen: »Wissen Sie«, antwortet Lötzsch vom Rad herunter: »Ich fahre viel zu gerne Rad, als dass ich darüber zu grübeln anfangen sollte. Ich vertraue da völlig meinem Trainer. Mir macht einfach alles Spaß, das Training und das Rennen. Und so lange es Spaß macht, kann es mir sicherlich nicht schaden.« Und noch etwas will Branzke wissen: »Hast du ein Hobby?« Lötzsch lacht abermals: »Ich hab eines, nämlich Radfahren.«

Das passt zum jungen Wolfgang Lötzsch. Er ist besessen vom Radsport. Das fällt auf, auch in der Kinder- und Jugendsportschule, auf die er inzwischen gewechselt ist. »Wolfgang ordnet sich gut in die Klassengemeinschaft ein. Er ist eher zurückhaltend, wird von seinen Klassenkameraden und besonders von den Radsportlern sehr geschätzt. Eine Befragung ergab, dass sich letztere vor allem an ihn wenden würden, wenn sie auf sportlichem Gebiet Hilfe benötigten. Drei von sieben Schülern betrachten ihn als ihr Vorbild. Wolfgang zeigt eine vorbildliche Trainingseinstellung, er ist ehrgeizig und zeigt einen starken Willen.«

»Das war seine größte Stärke«, sagt auch Wolfram Lindner, sein ehemaliger Trainer in Karl-Marx-Stadt: »Sein unglaublicher Siegeswille. Wenn Jan Ullrich nur ein bisschen vom Siegeswillen des jungen Lötzsch haben würde, hätte Lance Armstrong keine einzige Tour de France gewonnen.«

Lindner erzählt gerne eine kleine Geschichte aus den frühen Zeiten, eine Geschichte aus dem tiefsten Winter. Über Nacht sind fünfzig Zentimeter Schnee gefallen, ganz Karl-Marx-Stadt ist von einer dichten Schneedecke eingehüllt. Das Training fällt aus, Lindner, der fünf Kilometer entfernt wohnt, fährt erst gar nicht zum Treffpunkt. Wie auch, angesichts der Schneemassen hätte er nicht einmal seine Autotür öffnen können.

Gegen zwei Uhr jedoch blickt Lindner aus dem Fenster und traut seinen Augen nicht. Denn auf der Straße vor seinem Haus steht Wolfgang Lötzsch mit seinem Fahrrad. Lindner läuft heraus und ruft: »Wolfgang, was machst du denn hier?« Lötzsch schüttelt sich den Schnee von den Schultern und blickt seinen Trainer an: »Ich dachte, wenn ich heute schon nicht Rad fahren kann, dann kann ich das Rad doch schieben.« Lindner schüttelt fassungslos den Kopf. Wolfgang Lötzsch hat sein Rad nicht nur die vier Kilometer bis zum Treffpunkt geschoben, sondern auch noch weitere fünf Kilometer bis zu Lindners Haus. Da ist er gerade einmal vierzehn Jahre alt.

Und seine Hartnäckigkeit wird bald Legende. Denn der junge Wolfgang Lötzsch ist noch kein großer Taktiker, wird vielleicht auch nie einer werden. Zum Sprinter eignet er sich ebenfalls nicht. Es fehlt ihm die Explosivität, das hat der erfahrene Paul Tennler sehr bald festgestellt. Was bleibt ihm also übrig, wenn er sich nicht auf die Dynamik im Schlussspurt verlassen kann? Er muss die Rennen vorher entscheiden. Und so reiht sich Wolfgang Lötzsch bereits in den Jugendrennen selbstverständlich von Beginn an in der Spitzengruppe ein und attackiert schon nach wenigen Kilometern nach Kräften. Mit großem Erfolg: Seinem ungeheuren Tempo können von Angriff zu Angriff nur wenige Fahrer folgen. So ist in den Jahren 1970 und 1971 der Rennverlauf der Straßeneinzelmeisterschaft ein gewohntes Bild bei allen Auswahlrennen der Jugend: Ein schließlich einsam enteilter Wolfgang Lötzsch vorneweg, mit weitem Abstand folgt das Feld.

Und doch wirft der Erfolg bald erste Schatten. Denn als Sportler im Sportclub gefördert zu werden, ist an strenge Bedingungen geknüpft. »Die Auslese war knallhart«, erzählt Wolfram Lindner, dem seit Ende der sechziger Jahre als Verbandstrainer die Sichtung und Ausbildung der Talente oblag. »Wer gefördert werden wollte, musste sportlich, moralisch und kaderpolitisch einwandfrei sein.«

Kaderpolitisch einwandfrei, das bedeutet, sich in gesellschaftlichen Organisationen zu engagieren und ganz selbstverständlich den Klassenstandpunkt einzunehmen. In der Jugend schauen sie noch nicht ganz so streng hin. Aber dann wird Lötzsch ein heißer Kandidat für Olympia in München und er soll mit zur Vorbereitung ins Trainingslager nach Belgien. Das ist nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet, und wie jeder Sportler benötigt auch Wolfgang Lötzsch für diese Auslandsreise zwei Funktionäre, die für ihn bürgen.

Das heikle Papier wird durch den Sportclub gereicht, und es fällt plötzlich auf, dass Wolfgang Lötzsch noch immer nicht in die SED eingetreten ist, obwohl man ihn mehrfach dringlich gebeten hat. Die Funktionäre erinnern sich nun auch an ein Gespräch mit dem Vater über die Zukunft seines Sohnes, in dessen Verlauf Alfred Lötzsch trotzig gesagt haben soll: »Hier gibt es ja nicht einmal Bananen!«

Und dann ist da noch die Sache mit Dieter Wiedemann, dem Cousin. Der war 1964 Dritter bei der Friedensfahrt und ist nach der Olympia-Ausscheidung in Gießen im Westen geblieben. Dass Wiedemann und Lötzsch verwandt sind, sickert allmählich auch im Sportclub Karl-Marx-Stadt durch, und in Windeseile machen allerlei Gerüchte die Runde in der Radsportszene. Dieter Wiedemann schmuggle heimlich Schlauchreifen, wird kolportiert, und womöglich habe auch der junge Lötzsch damit zu tun.

Die Nervosität im Süden der Republik steigt, denn erst Wochen zuvor ist der populäre Karl-Marx-Städter Eiskunstläufer Günter Zöller im Westen geblieben. »Was, wenn der Lötzsch uns nun auch im Westen bleibt? Da, wo es die Bananen gibt«, sagt ein Sportclub-Funktionär zu Wolfram Lindner, der inzwischen als Verbandstrainer in Berlin arbeitet, und lehnt die Bürgschaft für Lötzsch ab: »Daran verbrenne ich mir nicht die Finger«.

Lindner ist entsetzt. Mit Wolfgang Lötzsch aus Karl-Marx-Stadt will er die Krise des DDR-Radsports beenden. Er steht unter Druck, schließlich wird auch er an olympischem Edelmetall, an den Siegen bei den Weltmeisterschaften gemessen. Und nun soll sein bester Fahrer womöglich nicht mitfahren dürfen?

Es wollen sich in diesen Tagen viele Funktionäre nicht die Finger an der Causa Lötzsch verbrennen. Schließlich weiß jeder, was dem Bürger widerfährt, der für einen Republikflüchtling seine Unterschrift leistet. Und sie lassen sich auch nicht von Interviews überzeugen, wie jenem, das Reporter Lothar Branzke mit Lötzsch auf dem Sachsenring geführt hat. Am Ende des Gesprächs fragt Branzke, was Lötzsch als Jungwähler über die anstehenden DDR-Wahlen am 14. November denke. »Es wird ein großer Tag in meinem Leben sein«, antwortet Lötzsch im Radsportler: »Zum ersten Mal werde ich wählen. Als ein junger Bürger meines Staates, der mir und allen anderen Sportlern solche großzügige Förderung gewährt. Auf dem Stimmzettel werde ich den Kandidaten der Nationalen Front mein Vertrauen schenken. Es wird zugleich mein eigenes Versprechen sein, allen Ehrgeiz und alle Kräfte einzusetzen, dass ich künftig bedeutende Erfolge für mein Heimatland, die DDR, erringen kann.« So stand es hinterher im Radsportler, die gestelzten Worte hatte Branzke wohlmeinend für Lötzsch formuliert.

Aber Wolfgang Lötzsch hätte damals wohl noch genickt. Mein Heimatland, die DDR.

Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents.

Подняться наверх