Читать книгу Lötzsch. Der lange Weg eines Jahrhunderttalents. - Philipp Köster - Страница 7
ОглавлениеEin Zettel mit blauer Tinte
Es ist März geworden im Jahre 1992, und Wolfgang Lötzsch hat nun doch einen Antrag auf Einsicht in seine Akte gestellt. Weil ihn Freunde gedrängt haben, weil sein langjähriger Weggefährte Wolfgang Schoppe auch schon einen solchen Antrag gestellt hat, weil es wohl einfach an der Zeit ist. Rund zwanzig Jahre ist es nun her, dass alles begann, nun will er wissen, warum alles so gekommen ist. Eines Tages liegt ein Schreiben von Joachim Gauck, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, im Briefkasten. Die Akteneinsicht ist genehmigt, wird Wolfgang Lötzsch mitgeteilt. Nun wartet er voller Ungeduld auf einen Termin.
Seine Akte, das weiß er, liegt im Jagdschänkenweg in Chemnitz, in einem achtgeschossigen Hochhaus, in dem früher die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt der Staatssicherheit residierte. Inzwischen verwaltet dort eine Außenstelle der Gauck-Behörde deren Nachlass und die Akten.
Lötzsch kennt das Gebäude, sie haben ihn schließlich oft genug dorthin vorgeladen. Als er in der Außenstelle anruft, um einen Termin zu vereinbaren, fragt er die Sachbearbeiterin, bis wann denn geöffnet sei. »Wir schließen um vier Uhr«, antwortet sie und Lötzsch sagt leichthin: »Dann komme ich um halb vier vorbei!« Da bittet die Sachbearbeiterin um eine Sekunde und schaut in ihrer Liste nach dem Namen »Lötzsch, Wolfgang« und nach den Beständen. Dann sagt sie langsam: »Ich denke, Sie sollten etwas mehr Zeit mitbringen.« Und wie sie das so sagt, da denkt Wolfgang Lötzsch auch, dass das wahrscheinlich am besten ist.
Am Abend vor dem Termin in der Außenstelle sitzt er im Wohnzimmer seines Hauses am Chemnitztalweg und kann die bangen Gedanken nicht mehr verscheuchen. Wer mag wohl Berichte über ihn geschrieben haben? Waren es Arbeitskollegen? Andere Radsportler? Ihm fällt ein Mitarbeiter des Sportclubs Karl-Marx-Stadt ein und ein Teamkollege aus der Betriebssportgemeinschaft, der immer argwöhnisch nachfragte »Wo hast du denn das her?«, wenn Wolfgang Lötzsch wieder einmal mit neuen Ersatzteilen aus dem Westen zu einem Rennen kam. Aber sonst? Vielleicht haben ihn Freunde bespitzelt? Er grübelt noch bis spät in die Nacht und ist dann beruhigt. Es fällt ihm niemand ein – beim besten Willen nicht.
Am nächsten Tag ist Wolfgang Lötzsch überpünktlich im Jagdschänkenweg. Er meldet sich an der Pforte, die Sachbearbeiterin holt ihn ab und führt ihn in ihr Büro in der zweiten Etage. Dort erklärt sie ihm, wie mit den Akten nach dem Gesetz verfahren wird: Dass er kein einziges Blatt Papier aus seiner Akte mitnehmen darf, aber alles kopieren lassen kann. Und dass noch lange nicht alle Decknamen der Inoffiziellen Mitarbeiter bereits entschlüsselt sind. »Das wird noch dauern«, sagt sie: »Wir stehen da gerade erst am Anfang.«
Wolfgang Lötzsch nickt, dann führt sie ihn ins Lesezimmer der Außenstelle, seine Akte liegt dort bereits auf dem Tisch. Er hat mit einer umfangreichen Akte gerechnet, 500 Seiten dick vielleicht. Doch die Akte »Lötzsch, Wolfgang« besteht aus fünf prall gefüllten Ordnern mit 1.500 Seiten Papier – fein säuberlich abgeheftet. Es sind zahllose Vermerke, Anordnungen, Berichte, Abschriften, Fotos, Protokolle und Notizen.
Wolfgang Lötzsch setzt sich auf einen Stuhl und beginnt zu lesen. Es ist eine Reise zurück in seine Jugend und Kindheit. Ein Vermerk über die Herkunft seiner Eltern liegt zuoberst, dann ein Fragebogen, den die Eltern einst ausfüllen mussten, damit der zwölfjährige Wolfgang auf die Kinder- und Jugendsportschule wechseln durfte. Auch Aktennotizen über die entscheidende Sitzung des Sportclubs Karl-Marx-Stadt finden sich, anschließend wurde er aus dem Verein geworfen. Jede Seite liest er sorgfältig und Zeile für Zeile. Es ist bereits später Nachmittag, draußen wird es schon dunkel, und Wolfgang Lötzsch hat nicht einmal hundert Seiten seiner Akte gelesen. Er muss wiederkommen, um weiterzulesen.
Mit vielen Namen im Kopf fährt er nach Hause. Er weiß jetzt, dass sein Trainer Roland Kaiser »Siegfried Polland« hieß, dass sich der Direktor der Jugendsportschule Bernd Egert den Namen »Remmert« gab und dass Karl-Heinz Koschmieder, der gutmütige Masseur im Sportclub Karl-Marx-Stadt, bei der Staatssicherheit unter dem Namen »Andreas Schmied« geführt wurde. Auch seine Chefin in der Gärtnerei hat Berichte über ihn geschrieben und zwei Mitstudenten an der Technischen Universität Karl-Marx-Stadt. Manche Klarnamen von Informellen Mitarbeitern sagen ihm nichts, auch bei längerem Nachdenken nicht. Vielleicht hat er sie nur ein oder zweimal in seinem Leben gesehen, nur zufällig und beiläufig sind sie in seine Akte geraten. Aber er nimmt sich vor, mit allen zu sprechen, die Berichte über ihn geschrieben haben. Er wird hingehen und eine einzige Frage stellen: Warum?
Am nächsten Tag sitzt er pünktlich um zehn Uhr wieder im Lesezimmer am Jagdschänkenweg und liest fieberhaft in seiner Akte. Und immer wieder wird ihm flau in der Magengrube. Natürlich, er wusste, dass sie ihn über Jahre beobachtet hatten. Ihn kann nicht überraschen, dass seine Fahrten nach Berlin nicht unbemerkt geblieben waren. Aber nun begreift er, dass die Staatssicherheit ihn nahezu vollständig kontrolliert hat – und das über Jahre.
Er findet Aufnahmen von abgehörten Gesprächen in seiner Wohnung, gestochen scharfe Fotos von ihm, aufgenommen bei seinen Besuchen in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin, und ausführliche Vernehmungsprotokolle aus dem Gefängnis. Nun erst erfährt er, dass auch im Haus seiner Eltern Abhörwanzen installiert waren, dass er während seiner Haft gesundheitlich ruiniert werden sollte und dass sie insgesamt fünfzig Informelle Mitarbeiter auf ihn angesetzt hatten. Fünfzig!
Wieder daheim, am späten Abend, klettert Wolfgang Lötzsch im Wohnzimmer auf einen Stuhl und klopft gegen den Querbalken in der Zimmerdecke. Es klingt hohl, und als er die Tapetenverkleidung abreißt, findet er dahinter zwei voll funktionstaugliche Wanzen.
In den folgenden Wochen ist Wolfgang Lötzsch viel unterwegs in Chemnitz. Bei Roland Kaiser, bei Karl-Heinz Koschmieder, bei Bernd Egert und vielen anderen, die Berichte geschrieben haben und deren Namen er in der Akte gefunden hat, wird er vorstellig. Warum haben sie die Berichte geschrieben? Diese Frage stellt er allen und hofft auf Erklärungen, die er versteht. Dass die Schreiber zur Mitarbeit gezwungen wurden. Dass sie nicht wussten, was mit ihren Berichten passiert. Dass sie Angst hatten. Dass sie keine Wahl hatten. Aber die meisten erklären sich nicht. Sie schweigen, manche komplimentieren ihn einfach hinaus, und am Ende hat sich nicht ein Einziger bei Wolfgang Lötzsch entschuldigt.
Ein paar Monate später macht Wolfgang Lötzsch noch einmal einen Termin im Jagdschänkenweg. Noch einmal lässt er sich die Akte vorlegen, noch einmal studiert er akribisch Seite um Seite. Und gerade ist er in das Protokoll einer Abhöraktion vertieft, da stutzt er plötzlich. Auf einem Zettel hat ein Inoffizieller Mitarbeiter seine Beobachtungen über Wolfgang Lötzsch notiert, handschriftlich mit blauer Tinte.
Den Decknamen dieses IM weiß er nicht zuzuordnen: »Wolfgang Lindner«. Ganz ähnlich hieß ja in jungen Jahren einer seiner Trainer. Wolfram Lindner aber kann es gewiss nicht sein. Doch wer war es dann?
Es sind nur ein paar Worte, hingeworfen auf einen Zettel, die Wolfgang Lötzsch immer wieder so konzentriert liest. Er starrt auf das kleine Papier in der Akte und denkt bei sich, dass er diese Schrift doch kennt. Nur woher?
Die Frage lässt ihm keine Ruhe, auch wenn er weiterblättert, andere Papiere liest und sich in Vermerke vertieft. Woher kennt er diese Schrift? Am Abend fährt er nach Hause, die Kopien seiner Akte stehen auf dem Beifahrersitz seines Wagens. 1.500 Seiten, in vier Ordnern gesammelt. Und als er in den Chemnitztalweg einbiegt, fällt ihm endlich siedend heiß ein, woher er die Schrift auf dem Zettel kennt.