Читать книгу Alpsegen - Philipp Probst - Страница 10

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Je höher sich der Zug das Tal hinaufwand, desto höher schlug Selmas Herz. In Zweisimmen hatte sie noch einmal umsteigen müssen, jetzt sass sie in einem Panoramawagen der Montreux-Oberland-Bahn Richtung Gstaad und konnte die Aussicht geniessen.

Die Erinnerungen flogen ihr nur so zu: Dort entdeckte sie einen Wanderweg, von dem sie sicher war, ihn schon abgelaufen zu sein. Und da war doch dieser Hang, den wir im Winter mit den Skiern hinuntergesaust sind, sinnierte Selma.

Der Zug erreichte Saanenmöser. Selma drückte sich fast die Nase am Fenster platt. Denn jetzt glaubte sie wirklich, all die geheimen Wege und Pfade zu entdecken, die sie und Elin im Winter auf ihren Abfahrten vom Hornberg erkundet hatten. Nächster Halt Schönried, der Blick hinauf zum Horneggli. Und wieder die schönen Erinnerungen. Wie es dem weissen Elefanten oben auf dem Gipfel wohl gehen mag, von dem ihre Skilehrerin Edith immer erzählt hatte, fragte sich Selma. Edith, die Frau des mürrischen Bauern, die Mutter der beiden Nachbarsbuben, die Frau mit den schönen langen Haaren, die Selma so bewundert hatte. Die so schön golden glänzten. Die in der Luft herumwirbelten, wenn sie elegant und leicht die Piste herunterwedelte und den Kindern immer zurief: «Ihr müsst tanzen!»

Ja, der weisse Elefant und all die Zwerge und Fabelwesen, von denen Edith immer behauptet hatte, dass es sie ganz sicher gebe. Man müsse nur genau hinschauen, Freude empfinden und ein offenes Herz haben. Dann würde man sie sehen. Elin und Selma waren sich sicher, die Wesen entdeckt zu haben. Schliesslich waren sie auch davon überzeugt, ein offenes Herz zu haben.

Selma angelte ihr Handy aus dem kleinen Rucksack und schrieb ihrer Schwester ein Whatsapp: «Hei, Elin! Rate mal, wo ich bin: Erinnerst du dich an die Heimat des weissen Elefanten und all der anderen Fabelwesen? Liebe Grüsse, Selma.»

Der Zug fuhr nun langsam hinunter nach Gstaad. Selma bewunderte diese liebliche Märchenlandschaft mit den vielen Hügeln und Bergen, den fetten grünen Wiesen und den mächtigen Tannen.

Ihr Handy vibrierte: «Hei, grosse Schwester. Du bist in Gstaad, ich weiss. Mama hat’s gesagt. Ihr geht es übrigens nicht so gut. Sie hat Schmerzen wegen ihres Treppensturzes. Sie ist jetzt bei uns. Liebe Grüsse, Elin.» Selma antwortete nicht. Ihre gute Laune wurde gerade etwas getrübt. Typisch Charlotte: Kaum war sie weg, musste sie Elin anrufen und ihr ihr Leid klagen.

In Gstaad stieg Selma gleich ins Postauto um, das nach Lauenen fuhr. Allerdings nahm sich Selma vor, vor ihrer Heimreise noch durch den mondänen und weltbekannten Touristenort zu schlendern, um festzustellen, was sich in Gstaad in all den Jahren geändert hat. Gab es diese Bäckerei mit den leckeren Streuselkuchen noch? Die Käserei, in der Selmas Vater in bester Ferienlaune immer drei oder vier Kilo Bergkäse eingekauft hatte? Käse, den zu Hause in Basel niemand mehr essen wollte und den die Mutter schliesslich über mehrere Wochen in Gratins, Aufläufen und Käseschnitten verarbeitete.

Und gab es auch diese Boutique mit all den Scherenschnitten noch? Scherenschnitte als Bilder, aber auch gedruckt auf T-Shirts, Tassen und Tellern. Selma war fasziniert von diesem traditionellen Kunsthandwerk, das im Saanenland noch immer gelebt wurde. Ihr gefielen die Motive: Alpszenen mit Menschen und Tieren. Und vor allem mit Bäumen. Mit mächtigen, starken Bäumen, die oft im Zentrum der Motive standen oder gar das Grundmotiv darstellten. Auf den Ästen spielten sich dann die Szenen aus dem bäuerlichen Leben ab, auf ihnen standen Menschen, Tiere, Häuser.

Sie wollte unbedingt in diesen Laden! Denn dort wurden auch Trachten angeboten. Wie hatte sie sich doch als junges Mädchen eine Tracht gewünscht und sich vorgestellt, einmal mit einer echten Saanegeiss am Seil an einem Alpabzug teilzunehmen.

Bei der Dorfausfahrt Richtung Lauenen musste der Bus wegen eines Lieferwagens kurz anhalten. Da entdeckte Selma am Strassenrand mehrere Bäume, die deutlich beschädigt waren, mit einer Axt verletzt und einer Säge geritzt. Selma dachte an den Zeitungsartikel über den Baumfrevler, den ihr Haberer mitgegeben hatte …

Zuhinterst im Tal angekommen, stieg Selma aus dem Postauto, band ihre Haare mit dem Gummi zusammen, schulterte ihren schweren Rucksack und nahm den Handtaschenrucksack an ihre Brust. Aus diesem holte sie die kleine, aber äusserst teure Kamera hervor, die sie für Schnappschüsse verwendete. Sie orientierte sich kurz an den Wanderwegweisern, blickte den Hang hinauf und sah, dass ihr ein zünftiger, gut anderthalbstündiger Aufstieg über den Chüetungel zur Alp der Familie Kohler bevorstand. Zuerst machte sie allerdings noch einen kurzen Fussmarsch zum Lauenensee. Sie ging am Restaurant vorbei, auf dessen Gartenterrasse einige Wanderer sassen. Sie passierte auch den kleinen Steg, der hinaus aufs Wasser führte. Zwei junge Frauen lagen darauf und sonnten sich. Selma ging weiter und fotografierte das glitzernde Wasser, die Uferlandschaft und die Hügel und Berge dahinter. Es war bereits später Nachmittag. Die Sonne tauchte das Panorama in ein weiches Licht. Selma war eine Fotografin alter Schule und verzichtete so weit wie möglich auf Fotofilter und aufwendige Nachbearbeitungen am Computer. Ihre Bilder sollten natürlich sein, authentisch.

Selma ging dem Ufer entlang, stieg dann den Berg hinauf, um einen noch besseren Standort für ihre Aufnahmen zu erreichen. Die Reporterin gönnte sich eine Pause, legte ihre Rucksäcke ab und setzte sich ins Gras. Sie genoss den Blick auf den See und die imposanten Berge. Und die Ruhe. Es war nur das Zirpen der Grillen im trockenen Gras zu hören. Selma nahm ihre Kamera und fotografierte, aber das leise Klicken ihrer Kamera empfand sie in diesem Moment als störend.

Selma blieb eine Weile sitzen, atmete tief durch. Dann stand sie auf, schulterte ihre Rucksäcke und kraxelte noch höher hinauf. Sie fotografierte den Lauenensee nun von noch weiter oben, war ganz begeistert von dieser wunderschönen Natur und vergass die Zeit. Schliesslich gelangte sie auf einen Schotterweg.

Jetzt muss ich aber wirklich los!, befahl sich Selma und schaute sich um. Sie hatte die Orientierung verloren. Deshalb zückte sie ihr Handy, öffnete Google-Map und sah, dass sie sich auf der falschen Talseite befand. Sie musste die Schotterstrasse hinunter und auf der anderen Seite den Aufstieg zur Alp der Kohlers in Angriff nehmen. Selma seufzte und ärgerte sich über sich selbst. Aber nur kurz. Schliesslich hatte sie tolle Fotos machen können.

Sie wollte gerade losmarschieren, als sie ein Motorengeräusch hörte. Es wurde rasch lauter. Der Motor stotterte, dann jaulte er auf. Er klang gefährlich. Selma brachte sich neben dem Feldweg in Sicherheit. Der Wagen war ziemlich schnell unterwegs und zog eine dichte Staubwolke hinter sich her. Er donnerte an Selma vorbei. Die Reporterin wurde von der Wolke regelrecht verschluckt. Sie konnte kaum mehr sehen und musste husten.

Bremsen quietschten, der Staub legte sich langsam. Eine Frau mit leuchtenden blauen Augen lehnte sich aus dem Fenster eines hellblauen Jeeps. «Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gesehen», rief die Frau auf Hochdeutsch, was Selma etwas irritierte. «Alles in Ordnung?»

Selma trat auf den Weg zurück und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. Dann nahm sie den Gummi aus ihren Haaren, lehnte sich nach vorne, um den Dreck aus ihren Haaren zu schütteln. Dabei verlor sie wegen des schweren Rucksacks fast das Gleichgewicht.

«Geht es?», fragte die Frau, die Selma jetzt am Arm festhielt und ihr half, sich aufzurichten.

«Findet eine Rallye statt?», fragte Selma säuerlich.

«Ähm, nein, ich bin nur etwas spät dran, wir melken bald die Kühe.»

«Sind Sie Sennerin?»

«Ja, also nein. Ich bin auf einer Alp angestellt. Als Käserin. Aber ich bin Deutsche, wie Sie sicher hören. Ich lebe eigentlich in Dresden und bin Lehrerin. Habe mir aber eine Auszeit genommen. Bereits meine zweite. Ich war letzten Sommer schon hier oben.»

Die Frau mit den blauen Augen war deutlich kleiner als die Reporterin und wirkte sehr zierlich. Sie sprach schnell und trat dabei ständig von einem Bein aufs andere, fuchtelte mit den Armen und liess ihre langen, blonden Haare herumwirbeln. «Wo wollen Sie denn mit Ihrem grossen Rucksack um diese Uhrzeit noch hin? Zur Geltenhütte? Oder zur Wildhornhütte? Da sind Sie aber ganz falsch! Sind Sie Bergsteigerin? Ach, Sie wollen sicher aufs Wildhorn. Das würde ich auch mal gerne. Aber eben, keine Zeit. Also zur Geltenhütte oder zur Wildhornhütte müssen Sie da drüben hochsteigen.» Die Frau zeigte auf die andere Seite des Tals. Dann wandte sie sich wieder Selma zu: «Ihr Rucksack muss ganz schön schwer sein. Ich war heute in Gstaad einkaufen, habe deshalb auch viel Gepäck. Dann musste ich noch auf einer Alp frische Kräuter für unsere Schmiere holen, mit der wir den Käse einreiben, sie ist unser Geheimrezept. Aber dann habe ich mich verquatscht und muss jetzt ein bisschen Gas geben. Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?»

Selma war sprachlos. Zu surreal erschien ihr diese wirblige Frau mit dem rasanten Mundwerk und dem ebenso rasanten Fahrstil in dieser idyllischen Umgebung. Sie war dauernd in Bewegung, liess ihre schlanke, fast zarte Figur und ihre ebenso zerbrechlich wirkenden Arme und Beine herumzappeln. Sie hatte ein schönes, feines Gesicht mit markanten Wangenknochen. Sie liessen ihre grossen blauen Augen noch grösser erscheinen.

«Na?», hakte die Frau nach. «Wollen Sie mitfahren?»

«Nein, ich will nicht zur Geltenhütte, auch nicht aufs Wildhorn. Ich möchte auf die Alp der Familie Kohler.»

«Oh. Dann kommen Sie mit.»

Alpsegen

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