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PROLOG

Dieser Geruch!

Res ging langsam durch den Stall. Er kontrollierte die Seile, die zum Anbinden der Kühe gebraucht wurden. Den Holzboden, den er im letzten Herbst kurz vor Wintereinbruch neu gezimmert hatte. Die Leitungen der Melkmaschine. Immer wieder schaute er nach oben zum Dach und war erleichtert, dass er keinen Schaden entdeckte. Der Stall hatte den Winter ebenso gut überstanden wie der Rest der Alphütte. Alles war bereit.

Dieser Geruch!

Bald würde es wieder so weit sein: Kühe, die von der Weide kamen, Stroh, Mist, frische Milch. Das erzeugte diesen speziellen Geruch. Ein Geruch, der nicht nur in die Kleidung drang, sondern in alle Poren.

Und in die Seele.

Es war dieser Geruch, den Res liebte. Aber auch hasste. Der Geruch von Liebe. Von Ablehnung. Liebe, als er als Bub im dunklen Stall des alten Familienbetriebs im Tal auf dem Schoss seines Vaters sass und die Euter der Kühe streicheln durfte. Ablehnung, als er das erste Mal auf einem einbeinigen Melkschemel sitzen sollte, ausrutschte und in den Mist fiel. Wie ihn der Vater aus dem Stall jagte. Und er auch keinen Trost bei der Mutter fand.

Warum nicht?

Ja, warum nicht? Es war eine von vielen Fragen …

Res passierte den Durchgang zur Hütte und schloss die Stalltüre. Dann schwenkte er den Holzarm, an dem das grosse Käsekessi hing, hin und her und stellte ein leises Quietschen fest. Er ging in die Scheune, holte die Ölflasche und schmierte das Scharnier. Jetzt war wirklich alles bereit.

Res verriegelte die Hütte und pfiff Kobi, dem schwarzen Labradormischling. Dieser kam nach einiger Zeit angetrottet. Allerdings eher ungern, denn er kaute an irgendetwas herum.

«Eine halbtote oder ganz tote Maus gefangen?», fragte Res. «Du bist ein echtes Raubtier.» Er strich Kobi mit seiner grossen, adrigen Hand über den Kopf. Dieser würgte das, was auch immer es war, herunter und wedelte.

«Na los, nach Hause oder Spaziergang?»

Kobi trabte auf dem schmalen Weg Richtung Tal.

«Faule Socke! Los, wir machen eine Runde.»

Res ging mit grossen Schritten den Trampelpfad der Kühe entlang. Der schmale Weg führte ihn über die Hochebene und über einen Hügel steil hinunter in den Wald. Kobi trabte voran, blieb immer wieder stehen, schnüffelte oder blickte zurück zu seinem Herrchen.

Res hörte tief unten in der Schlucht das Tosen des Bachs. Dann entdeckte er plötzlich die alte Waldhütte. Sie war ziemlich verfallen. Die Bretter hingen herunter, die Stürme und der Schnee hatten ihr in all den Jahren zugesetzt. Den nächsten Sturm würde sie kaum überstehen. Wie viele Stunden und Tage hatte er hier als Jugendlicher verbracht? Mit seinem Bruder, manchmal auch mit Schulfreunden.

Und mit Mädchen.

Wie geht es meinem Baum?, fragte er sich plötzlich. Res ging hinter die Hütte. Da bei der Feuerstelle stand er. Sein Vater hatte die Feuerstelle zusammen mit seinen Söhnen gebaut. Stein für Stein. Dann hatte sich der Vater an die grosse Tanne gelehnt, einen Stumpen angezündet, geraucht und zugeschaut, wie seine Buben Feuer machten. Oder es versuchten. Wie sie scheiterten und wie sie sich schliesslich stritten, weil es jeder besser wissen wollte, wie es geht.

Zu blöd, Feuer zu machen, hatte der Vater gemurmelt.

Res schluckte. Dann lächelte er. Später hatte er gelernt, Feuer zu entfachen. Es war ganz einfach. Und die Mädchen waren immer so beeindruckt. Ja, die Mädchen. Es war so unbeschwert damals.

Res betrachtete seinen Baum. Die Tanne. Er liess den Blick nach oben zur Baumspitze schweifen. Ein gesunder, starker Baum.

Erinnerungen. Viele Erinnerungen. Aber eine war ihm gerade ganz präsent. Er ging nochmals zur zerfallenen Hütte. Auf der Rückseite musste die Stelle sein. Die Holzwand war tatsächlich noch einigermassen intakt, durch die grosse Tanne war sie auch etwas geschützt. Res untersuchte die Bretter. Und er fand die Stelle. Er kratzte das Moos und den Dreck weg.

Da kam es zum Vorschein, das kleine Herz. Darunter war auch noch ein A und ein Plus-Zeichen zu erkennen. Doch der zweite Buchstabe fehlte. Er war verschwunden. Res untersuchte die Stelle ganz genau und stellte fest, dass jemand diesen Buchstaben herausgeschnitzt haben musste. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Die Schnitte sahen frisch aus. Oder war im Sturm vielleicht ein Ast dagegen geknallt?

Egal. Es war nur eine Erinnerung. Aber eine wunderschöne. Eine an ein ganz besonderes Mädchen …

«Los, Kobi, weiter!»

Der Labradormischling trabte Richtung Tal. Doch Res pfiff ihn zu sich. Er wollte noch nicht zurück, er wollte zum Bach und dann den Berg hinauf. Er krempelte die Ärmel seines Flanellhemdes hoch und ging los. Aber er kam nur langsam vorwärts, weil er immer wieder über Stämme steigen musste, die am Boden lagen. Kobi hüpfte darüber und robbte manchmal auch unten durch.

Der Sturm hat ordentlich gewütet, stellte Res fest. Doch plötzlich kam ihm die Sache seltsam vor. Die Bäume lagen nicht alle in der gleichen Richtung am Boden, sondern kreuz und quer. Res betrachtete die Abbruchstellen. Und entdeckte Einschnitte einer Säge. Sie waren deutlich zu erkennen. Andere waren nur geritzt. Res wunderte sich. Was war hier los? Hatte er nicht kürzlich bei einem Bier im Pub von Kollegen gehört, dass in einigen Wäldern Bäume angeschnitten worden seien? Sie hatten dem keine grosse Bedeutung zugemessen. Darüber gelacht. Und spekuliert, dass Ausserirdische geheime Botschaften hinterlassen hätten …

Res durchquerte den Wald und erreichte den Bach. Das Wasser glitzerte, sprudelte über die Steine, Tausende Tropfen flogen in regelmässigen Bahnen durch die Luft. Weiter. Jetzt wieder steil bergauf. Res erreichte die Baumgrenze, ging immer weiter und war bald viel höher als die Alp. Hier oben lag zum Teil noch Schnee. Kobi rannte los und wälzte sich in einem Schneefeld. Res kam hinterher, stapfte durch den nassen Schnee, sank immer wieder ein. Er atmete schwer, aber es tat gut.

Immer weiter.

Dann stand er vor der Geröllhalde. Sie war nur zum Teil als Steinwüste zu erkennen, denn auf ihr lag noch sehr viel Schnee. Res ging weiter. Und Kobi hüpfte ihm hinterher. Hechelnd.

Res gönnte sich erst eine Pause, als er vor der Wand stand. Wieder viele Erinnerungen. Die Klettereien mit seinem Bruder. Der Unfall! Wie Stefan heruntergefallen war, sich am Bein verletzt hatte. Ein Donnerwetter vom Vater, eine Salbe von der Mutter, das war alles, was es gegeben hatte. Keinen Trost, keine Umarmung.

Warum nicht …?

Res liess sich in den Schnee fallen. Kobi kam zu ihm und leckte ihm übers Gesicht. Res drückte ihn an sich. Er spürte den schnellen Herzschlag des Hundes. Nach einiger Zeit wurde er ruhiger. Res wollte sich nur etwas ausruhen und dann nach Hause gehen. Er schloss die Augen. Nur kurz …

Als er aufwachte, war es schon ziemlich dunkel. Res fror. Er rollte die Ärmel seines Hemdes hinunter. Er hatte Durst und schob sich etwas Schnee in den Mund. Er stand auf und blickte um sich. Kobi war viel weiter unten, rannte jetzt aber zu ihm herauf.

Res wollte ihm entgegengehen, doch dann entdeckte er Skispuren. Sie stammten wohl von den letzten Tourenfahrern dieses Frühlings. Res folgte ihnen. Sie führten der Felswand entlang zur Krete. Dort verloren sie sich. Die Stürme hatten den Schnee weggetragen. Wahrscheinlich hatte sich auf der Krete eine gefährliche Wächte gebildet, ein gefährlicher Überhang aus Schnee. Trotzdem ging Res weiter.

Nicht nach Hause. Er konnte nicht. Es trieb ihn weiter bergauf.

Auf der anderen Seite des Bergkamms musste dieser Couloir sein – der Eiskanal. Dieser enge Korridor zwischen den Felsen, im Winter ein Adrenalinkick für gute Skifahrer.

Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Die Venus strahlte hell. Die schmale Sichel des Mondes erhob sich über dem Horizont. Wind kam auf. Res ging weiter Richtung Krete. Kobi blieb vor dem nächsten Schneefeld stehen, liess Res vorbei und machte keinen Schritt weiter.

«Los, komm, wir gehen da lang!», rief Res.

Doch Kobi bewegte sich nicht mehr. Er bellte. Wedelte. Bellte erneut. Drehte sich um und trabte den Berg hinunter. Blieb wieder stehen und kläffte. Er streckte dabei die Vorderpfoten aus und duckte sich.

Res stapfte durch das Schneefeld. Weiter Richtung Krete und dann diesen Kanal hinunter! Nein, unmöglich! Der Eiskanal war viel zu steil, fast senkrecht. Er würde ihn schon gar nicht erreichen. Denn jetzt erkannte er deutlich die mächtige Wächte. Wenn er sie betreten würde, würde er einbrechen, eine Lawine aus Eis, Nassschnee und Steinbrocken auslösen.

Trotzdem trieb es ihn weiter.

Hier war es also passiert. Hatte seine Mutter wirklich nur den Adrenalinkick gesucht? Sie war eine ausgezeichnete Skifahrerin, sie kannte jede Abfahrt, jede Route, jeden Stein, jeden Baum. Auch den Eiskanal.

«Dieser verdammte Eiskanal», murmelte Res.

Tanze mit dem Schnee, hatte seine Mutter immer gesagt. Und war über den Schnee geschwebt, hatte ihre langen Haare im Wind herumwirbeln lassen und vor Freude laut gejauchzt und gesungen.

Hatte sie geschrien, als sie in den Tod stürzte?

Res zog es weiter. Kobi war ihm jetzt doch gefolgt, bellte ihn aber immer wieder an.

«Du findest den Weg nach Hause auch ohne mich», rief Res dem Labradormischling zu. Dieser kauerte im Schnee und kläffte nun ununterbrochen.

Doch Res ging weiter. Er sank immer tiefer ein. Manchmal bis zu den Oberschenkeln. Hier lag deutlich mehr Schnee. Res spürte Felsen unter seinen Füssen. Noch stand er also nicht auf der Wächte, nicht über dem Abgrund. Er machte vorsichtig einen Schritt. Sank erneut ein. Fand aber wieder Halt.

Er hörte ein leises Grollen. Dann Steine aufschlagen. Sie stürzten auf der anderen Seite des Kamms den Eiskanal hinunter. Die Aufschläge wurden immer leiser, aber sie waren noch lange zu hören. Die Furche war tief.

Noch einen Schritt. Noch immer fester Boden unter dem Schnee.

Weiter! Weiter! Res hörte das Bellen des Hundes nicht mehr.

Plötzlich eine Frauenstimme. Sie rief seinen Namen, seinen Taufnamen. «Andres!» Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er schaute sich um. Aber niemand war zu sehen.

«Andres!»

Res blieb stehen. Keuchte. War es die Stimme seiner Mutter? Er war sich nicht sicher. War es möglich, dass er sich nicht an ihre Stimme erinnern konnte? Egal. Er ging weiter. Er musste weitergehen. Jetzt. Der Wind wurde stärker. Es war ein eiskalter Wind.

«Andres!»

Noch ein Schritt. Wieder spürte er festen Boden. Weiter! Der nächste Schritt …

Kein fester Boden mehr.

«Andres!»

Alpsegen

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