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Selma fühlte sich wieder ganz als Reporterin.

Sie sass in einem klapprigen Auto, wurde auf ihrem Sitz hinund hergeworfen, weil die Strasse holprig war. Und weil die Fahrerin viel zu schnell fuhr. Wie früher, als sie als junge Fotografin in der Welt herumgereist war, die abenteuerlichsten Gegenden aufgesucht hatte und ab und zu auch in kritische Situationen geraten war. Stundenlang hatte sie in solchen Rostlauben gesessen und sich von Menschen fahren lassen, die nur Vollgas oder Vollbremsung kannten. Machos, die ihr, der jungen, hübschen Reporterin, beweisen wollten, wie toll sie fahren konnten.

In Krisengebieten war sie tagelang an irgendwelchen Checkpoints festgehalten worden. Und allzu oft war sie bei ihrer Arbeit von sturen Polizisten, Sicherheitsbeamten und Militärs schikaniert und behindert worden.

Das war nach ihrer Zeit bei der Zeitung «Aktuell» gewesen. Sie hatte die Nase voll vom Boulevard-Journalismus, von der Jagd nach Schlagzeilen, vom polternden Chef Jonas Haberer. Sie hatte gedacht, sie könnte auf eigene Faust tolle Fotoreportagen machen und sie den Magazinen verkaufen. Sie hatte die Leserinnen und Leser über die Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen aufklären wollen. Und sie hatte vor allem über die Zerstörung des Planeten informieren und die Leute aufrütteln wollen. Sie hatte Umweltskandale aufdecken, über die Ausbeutung von Tieren und die Ausrottung ganzer Tierarten berichten wollen. Doch sie hatte schnell erkennen müssen, dass sie naiv gewesen war und der Medienmarkt wegen der Digitalisierung anders, schneller und viel billiger funktionierte. Oft passierte es ihr, dass sie zu spät kam. Bis sie endlich an ihrem Ziel angekommen war – wenn überhaupt – hatte bestimmt schon ein anderer Reporter Material geliefert. Oder irgendjemand, der diesen Beruf nie erlernt hatte. Fotos konnte mittlerweile jeder mit seinem Handy schiessen, sie ins Netz stellen und für Aufsehen sorgen.

Selma musste nach einem Jahr zugeben, dass sie viel zu unerfahren war. Dass sie vielleicht auch zu wenig hart war für dieses Geschäft. Sie bekam von den Redaktionen zwar meistens grosses Lob für ihre tollen Bilder, aber kaufen wollten sie sie nicht. Die wenigen Geschichten, die sie an grosse Zeitschriften verkaufen konnte, deckten nicht einmal ihre Reisespesen.

Schliesslich hatte sich Selma auf schöne Bildreportagen spezialisiert und schnell Erfolg gehabt.

Eine weitere Vollbremsung katapultierte Selma nach vorne. Doch sie wurde vom Gurt zurückgehalten. Dieser schien in dieser Klapperkiste tatsächlich einwandfrei zu funktionieren. Sie standen vor einem Holzverschlag und einer kleinen Seilbahn. Selma befürchtete das Schlimmste. Die Gondel der Seilbahn bestand nur aus einer Holzkiste. Zudem waren die Aufhängung, die Seile, die Rollen und auch der erste Mast ziemlich rostig. Nie im Leben würde Selma mit dieser Bahn fahren.

Die Frau kurbelte nun mit sehr viel Kraft am Lenkrad, legte mit einem lauten Knacken im Getriebe den Rückwärtsgang ein und parkte den hellblauen Jeep direkt neben der Holzkiste der Bahn.

«Das ist aber nicht Ihr Ernst», sagte Selma vorsichtig.

Die Frau lachte. «Natürlich, damit fahren wir jetzt hoch. Ich muss nämlich auch zum Kohler-Bärg.»

«Danke, aber ich verzichte.»

«Keine Angst, war nur Spass», sagte die Frau. Sie stieg aus und öffnete die Ladeklappe des Jeeps. Dann band sie ihre Haare zusammen und hievte Selmas Rucksäcke, zwei weitere Rucksäcke und eine von Lebensmitteln überquellende Ikea-Tragtasche in die Holzkiste der Bahn. Den Beutel mit den frischen Alpkräutern nahm sie allerdings in die Hand. Nun rief sie mit ihrem Handy jemanden an und teilte ihm mit, dass er die Bahn laufenlassen könne. Tatsächlich begann sich kurz darauf die Gondel krächzend in Bewegung zu setzen. Selma dachte gerade daran, dass in ihrem Rucksack Fotomaterial von mehreren tausend Franken verstaut war. Wenn die Gondel abstürzen würde, wäre alles verloren. Bis auf die kleine Kamera, mit denen sie die Bilder des Lauenensees geschossen hatte und die sich Selma nun um den Hals hängte. Offenbar traute Martina der Bahn auch nicht ganz, schliesslich behielt sie die Kräuter lieber bei sich.

«So, jetzt müssen wir marschieren», sagte die Frau mit den blauen Augen und legte ein zügiges Tempo vor. Noch war der Weg einigermassen flach. Er führte durch einen schönen, romantischen Tannenwald. Die Reporterin machte mit der kleinen Kamera noch einige Aufnahmen und begutachtete die Baumstämme, fand aber keine Einritzungen oder sonstigen mutwilligen Beschädigungen. Schliesslich kamen sie an einem Wasserfall vorbei, den Selma ebenfalls fotografierte. Dann begann der steile Aufstieg. Die Frau ging im gleichen Tempo weiter. Selma geriet schnell ins Schwitzen.

«Ich bin auf dem Kohler-Bärg die Käserin», erzählte nun die Frau fröhlich. «Das habe ich dir ja schon gesagt. Ich bin übrigens Martina, entschuldige, habe mich gar nicht vorgestellt. Und geduzt habe ich dich auch schon. Sorry. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich. Wir sind ja etwa im gleichen Alter.»

«Klar ist das in Ordnung», keuchte die Reporterin. Allerdings schätzte sie die Frau einige Jahre jünger ein. «Ich heisse Selma.»

«Was für ein schöner Name. Selma wie die grosse Märchenerzählerin Selma Lagerlöf. Ach, ich liebe die Geschichte von Nils Holgersson und den Wildgänsen. Ich lese das Buch immer mit meinen Schülern. Deine Eltern waren sicher auch Fan von Selma Lagerlöf?»

«Ich weiss es nicht. Ich und meine Schwester haben beide Vornamen mit schwedischem Bezug. Unser Opa war Schwede.»

«Toll! Schweden muss auch so schön sein wie die Schweiz.» Martina sprach munter weiter während sie flink den steilen Bergweg hinaufging und dabei den Kräuterbeutel hin- und herschaukeln liess. Selma bekam nichts mehr mit, sondern konzentrierte sich darauf, einen Fuss vor den anderen zu setzen, um einigermassen Martinas Tempo mithalten zu können. Bei besonders steilen Passagen streckte Martina Selma ihre Hand entgegen und zog die Reporterin mit Schwung hinauf.

Nach einer guten halben Stunde blieb Martina endlich einmal stehen, drehte sich um und blickte ins Tal hinunter. Selma machte einige Aufnahmen dieser quirligen Frau. Martina lächelte in die Kamera. Die Reporterin hatte Mühe, ihre Kamera ruhig zu halten, weil ihr Puls zu hoch und ihre Atmung zu schnell war. Durch den Sucher der Kamera bemerkte sie aber, dass auch Martina nun einige Schweissperlen auf ihrer Stirn hatte.

Selma atmete kräftig durch, beruhigte sich und sagte nun zu Martina: «Dreh dich mal um und nimm kurz den Gummi aus den Haaren, damit deine Haare schön über die Schultern nach unten fallen. Und wenn ich ‹Jetzt› sage, wendest du den Kopf zu mir. Okay?»

«Okidoki. Klappe, die erste, Frau Regisseurin.»

Selma musste lachen. Dann rief sie: «Jetzt!» Martina drehte den Kopf, einige Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, Selma drückte auf den Auslöser. Ein tolles Bild!, war sich Selma sicher. Sie machte die Aufnahme noch dreimal. Dann forderte Selma Martina auf, einige Kräuter aus dem Beutel zu nehmen und daran zu riechen. Auch dies gab ein grossartiges Foto.

«Riech du mal», sagte Martina zur Reporterin und streckte ihr die Kräuter hin.

Selma nahm einen tiefen Zug: «Herb, würzig… was sind das für Kräuter?»

«Das verrate ich dir nicht. Aber wegen diesen Kräutern ist mein Käse der beste Käse der Welt.»

«Und warum verrätst du es mir nicht? So geheim?»

«Natürlich. Und ich vermute, dass du Reporterin bist und deshalb auf den Kohler-Bärg willst. Habe ich recht?»

«Ja. Bin ich angekündigt?»

«Ich habe davon gehört. Schön, dann bleibst du sicher einige Tage, oder?»

«Habe ich vor», antwortete Selma und betrachtete ihre Aufnahmen auf dem kleinen Bildschirm der Kamera. Sie lächelte. Denn sie fand die Bilder schön. Martina war eine fotogene Frau. Selma hätte kein besseres Model für diese Reportage finden können. Zarte Frau in romantischer Landschaft in einem knüppelharten Job als Sennerin und Käserin. So wäre ihre Reportage schnell im Kasten und sie könnte bald wieder nach Hause fahren und mit dem Schreiben beginnen.

«Uiii», meinte Martina plötzlich und starrte Selma an.

«Was ist?», fragte Selma erstaunt.

Jetzt grinste Martina.

Selma lächelte erneut.

«Da ist es wieder. Wie süss! Du bekommst so ein Grübchen in der Wange, wenn du lächelst. Ich bekomme das nur, wenn ich richtig lache.»

Martina tat so, als müsste sie lachen, und zeigte auf ihr Grübchen. Da musste Selma wirklich lachen, was Martina dazu anstiftete, ebenfalls laut zu lachen.

Ein verrücktes Huhn, dachte Selma, als sie weitergingen.

Nach etwas über einer Stunde Aufstieg erreichten die beiden Frauen den Chüetungel und damit die Bergstation der Materialseilbahn. Tatsächlich waren Selmas und Martinas Gepäck angekommen. Selma war erleichtert, vor allem, dass ihre Fotoausrüstung die Fahrt heil überstanden hatte. Sonst hätte sie die ganze Reportage nur mit der kleinen Kamera machen können. Bewegtbilder oder Aufnahmen mit der Drohne hätte sie vergessen müssen. Sie atmete tief durch und blickte auf die Alphütten: «Das also ist der Kohler-Bärg.»

«Nein», sagte Martina. «Jetzt sind wir erst auf rund 1800 Meter über Meer. Der Kohler-Bärg ist da oben», sie zeigte mit der rechten Hand nach links zu einem weiteren, steil ansteigenden Hang. «Er liegt auf knapp über 2000 Meter über Meer. Wir müssen also noch weiter aufsteigen.» Martina zeigte nun auf die rechte Seite: «Dieser Berg ist übrigens das Niesehorn und dahinter ist das Wildhorn.»

Martina packte Selmas schweren Rucksack, half ihr beim Anziehen und gab ihr den kleinen Handtaschenrucksack in die Hand. Danach katapultierte sie sich selbst ihre eigenen Rucksäcke plus die Ikea-Tasche über die Schultern, funkelte Selma mit ihren blauen Augen an und meinte lächelnd: «Auf geht’s!»

Selma konnte kaum glauben, welche Kraft in dieser Frau steckte. Zwar ging sie nun etwas langsamer weiter, doch Martinas Tempo war trotz der schweren Last immer noch hoch. Die Reporterin schoss auch jetzt wieder eine Menge Fotos: Die zierliche Martina, die diese riesige Last schleppte und lächelte.

Die Last wurde noch grösser. Denn Martina blieb immer wieder stehen, griff nach Steinen und packte sie in den Rucksack vor ihrer Brust.

«Sammelst du Kristalle?», fragte Selma keuchend.

«Nein, Figuren. Figuren für meinen Steingarten.»

«Figuren?»

«Da, schau!» Martina holte einen kleinen Stein aus dem Rucksack und zeigte ihn der Reporterin. «Siehst du dieses Gesicht?»

Selma sah es nicht. «Na, ja …»

«So ein freches Bubengesicht», meinte Martina und zeigte auf irgendwelche Linien im Stein. «Das ist Nils Holgersson.» Sie kicherte und marschierte weiter. «Du bist ja Selma», sagte sie fröhlich. «Und dieser Stein ist jetzt Nils!»

«Okay», sagte Selma nur und stapfte bergauf.

«Ich bin wieder da!», schrie Martina, als sie nach einer halben Stunde Fussmarsch endlich den Kohler-Bärg erreichten. «Und ich habe Besuch mitgebracht!» Dann wandte sie sich Selma zu: «Sie haben wohl schon mit Melken angefangen. Soll ich dir jetzt die Leute vorstellen oder später? Ich weiss halt nicht, sie sind im Stall …», sie musterte Selma von oben bis unten, «… wir sollten dir vielleicht erst mal Stiefel und ein Übergewand besorgen, sonst …»

«Lass mal», unterbrach Selma. «Ich schaue mich einfach rund um die Hütte und den Stall um und mache einige Fotos. Das Licht ist gerade so schön.»

Martina rannte in die Hütte und rief noch einige Male, dass sie wieder da sei. Selma befreite sich von ihrem Gepäck, lehnte den schweren Rucksack an die Holzwand neben der Türe, legte den kleinen Handtaschenrucksack oben drauf und setzte sich auf die Bank, die auf der anderen Seite des Hütteneingangs stand. Sie atmete durch. Sie sog die frische Bergluft tief in ihre Lungen. Es roch nach frischen Gräsern, ein wenig nach Kuhmist und nach einem noch etwas strengeren Geruch. Selma stand auf, ging nach links der Hüttenmauer entlang und entdeckte die Ursache für diesen Duft. Acht, neun, zehn Ferkel lagen in einem grossen Holzverschlag mit einem Unterstand und einem Durchgang zu einer kleinen Weide. Als Selma näher trat, schossen die Ferkel auf, quietschten und kamen sofort angerannt. Die Reporterin hielt ihnen ihre Hand hin. Die Ferkel streckten ihr ihre kleinen Rüssel entgegen, beschnupperten und stupsten Selmas Hand. Selma zückte ihre Kamera, ging in die Knie und machte Fotos.

Nachdem die Ferkel sich wieder etwas beruhigt hatten, hörte Selma ein Meckern und bimmelnde Glöcklein. Sie ging weiter der Mauer entlang und kam an einer Treppe vorbei, die in den Keller führte. Sie passierte auch die Toilette, deren Türe halboffen stand und gelangte schliesslich zu einem nächsten Gehege. Hier wurde sie von zwei weissen Ziegen angestarrt. Die Ziegen hielten den Kopf etwas schräg und meckerten erneut. An ihren Hälsen hingen kleine Glöcklein. Wie die Schweine hatten auch die Ziegen einen Unterstand und eine eigene kleine Weide.

Selma machte wieder einige Aufnahmen, ging zu den Ziegen, hielt auch ihnen die Hand hin und sagte: «Ihr seid wohl Saanegeissen.» Selma streichelte über ihre Köpfe. «Mein Traum vom Alpabzug mit einer Ziege wird also doch noch wahr. Sogar mit zwei echten, weissen Ziegen aus dem Saanenland.»

Hinter der Hütte stand ein alter Schilter – ein Motorkarren mit Ladebrücke –, der etwa in einem gleich erbärmlichen Zustand war wie der Jeep. Daneben lagen alte Reifen und Felgen, zwei leere Fässer, weiter hinten Motor- und Handsägen. Und in einem Holzbock, der mit frischen Spänen übersät war, steckte eine Axt. Vor dem grossen Tor zum Stall standen eine Sense, mehrere Rechen, Heu- und Mistgabeln. Alles machte einen sehr unordentlichen Eindruck.

Ein leises Surren war zu hören. Es kam eindeutig vom Stall. Selma öffnete das Tor einen Spaltbreit und schaute hinein. Es war nicht der eigentliche Stall, sondern eine kleine Scheune, die am Stall angebaut war. Auch dort präsentierte sich ein ähnliches Bild wie vor dem Tor: ein Durcheinander an Werkzeugen, Milchkannen, Körben. Eine weitere Sense lag auf dem Boden, mehrere Sicheln, eine grosse und eine kleine Säge. Selma entdeckte auch einige Plastikkannen und Kanister, auf denen chemische Zeichen und Warnplaketten prangten. Wozu braucht man solch gefährliche Produkte auf einer Alp?, fragte sich Selma. Weiter hinten stand eine Palette mit grossen Säcken, die ebenfalls mit Giftsymbolen gekennzeichnet waren. Schliesslich sah sie rechts in der Ecke die Quelle des monotonen Surrens: ein ziemlich neu aussehender Stromgenerator, auf dem «super silent» stand.

Die Reporterin schloss das Tor und ging zur Rückseite des Stalls. Hier roch sie Abgas. Sie sah ein Rohr, das durch ein schlecht abgedichtetes Loch in der Steinwand aus dem Stall und dann nach oben führte. Dort endete das Rohr. Feiner Rauch wurde herausgeblasen. Selma vermutete, dass es der Auspuff des Generators war.

Sie ging weiter und erreichte am anderen Ende des Stalls eine Betonfläche, die voller Kuhfladen war. Neben dem Trampelpfad, der von der Betonfläche auf die Weide führte, wuchsen Brennnesseln. Weiter hinten, gleich neben dem Misthaufen, sprudelte aus einem mit Schnitzereien verzierten Holzhahn Wasser in einen ausgehölten Baumstamm. Selma spähte kurz in den Stall, allerdings konnte sie nicht viel erkennen ausser einige Hinterteile von Kühen. Ein Tier muhte zünftig. Jetzt hörte Selma auch das leise, regelmässige Zischen der Melkmaschine.

Plötzlich schoss ein schwarzer Hund aus dem Stall. Selma erschrak. Der Hund wedelte, beschnupperte sie kurz und trabte wieder in den Stall zurück.

Selma schlenderte nach vorne zum Hütteneingang. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bergen verschwunden. Selma machte noch einige Fotos. Ein kühler Wind kam auf. Selma fröstelte. Sie ging zum Rucksack, um sich einen Pullover zu holen.

Als sie hinkauerte und sich am Rucksack zu schaffen machte, kam ein alter Mann mit einem grossen Eimer aus der Türe und stiess gegen sie. Selma schaute erschrocken auf. Der Mann funkelte sie mit seinen grünen Augen an. Von seinem Gesicht war nicht viel zu sehen, da er einen wilden, grau-weissen Bart hatte und eine Mütze trug. Er roch nach Stall.

Der Mann murmelte irgendetwas, was Selma aber nicht verstand. Die Reporterin stand auf, entschuldigte sich, dass sie im Weg stehe und streckte ihm die Hand entgegen: «Ich bin Selma Legrand-Hedlund, ich bin …»

«Keine Zeit», murrte der Kerl bloss und ging mit seinem Kessel und dem Melkstuhl am Po an Selma vorbei zu den Schweinen, denen er Milch in die Tränke goss. Die Ferkel quietschten laut.

Na toll, dachte Selma, zuerst das verrückte Huhn und jetzt ein Brummbär! Sie schlüpfte in den Pullover, setzte sich auf den Rand des grossen Steinbrunnens, der einige Meter vor der Hütte stand. Neben dem Brunnen war ein kleiner Steingarten. Das war also Martinas Steinsammlung. Selma kauerte sich nieder und betrachtete einzelne Steine. Mit viel Fantasie entdeckte sie tatsächlich alle möglichen Figuren: Zwerge, Trolle, Tiere. Sie erinnerten Selma an Ediths Fabelwesen.

Die Reporterin stand auf und wusch ihre Hände im kalten Wasser des Brunnens. Das Wasser plätscherte unaufhörlich. Allein dieses monotone Geräusch wirkte auf Selma sehr entspannend. Sie hätte sich am liebsten ins Gras gelegt und die Augen geschlossen.

Doch sie riss sich zusammen. Denn der Himmel färbte sich langsam zartrosa. Es dunkelte schnell ein. Selma schoss noch eine Anzahl Fotos. Zuletzt machte sie eine Aufnahme mit dem Handy. Dann kontrollierte sie, ob sie Empfang hatte. Sie hatte. Schwach zwar, aber immerhin. Sie schickte das Abendhimmelbild via Whatsapp an Marcel. Dazu schrieb sie: «Hei Marcel, du Farbenpsychologe: Ist das nun rosa, rosarot oder nach Goethes Farbenlehre pfirsichblüt?»

Es verging keine Minute, bis Marcel zurückschrieb: «Wie wäre es mit orange-rot? Abendrot ist immer orange-rot. Laut Goethe. Solltest du als Malerin wissen.»

«Klugscheisser. Ich male nach Intuition.»

«Alles gut bei dir auf der Alp? Oder muss ich dich schon abholen?»

«Alles gut.»

«Ho! Ho!» Das war eindeutig Martinas Stimme. «Ho! Ho!»

Selma ging zum Stall und sah, wie die Kühe ins Freie traten. Einige gingen oder rannten direkt auf die Weide, andere trotteten gemächlich zum Baumstamm-Brunnen und tauchten ihre Mäuler ins Wasser. Der schwarze Hund sprang herum, bellte und trieb die Kühe auf die Weide.

Als Martina Selma erblickte, hüpfte sie auf sie zu und liess ihre langen Haare im Wind flattern. «Die Männer machen nun den Stall, ich koche. Hilfst du mir?»

«Klar.»

«Hast du dein Zimmer schon entdeckt? Es ist da oben. Einfach die Aussentreppe hinauf und rechts. Du musst das Zimmer allerdings mit mir teilen. Ist das okay für dich? Wir kommen schon klar, was?»

In der Hütte war es warm. Mitten im Raum war die Feuerstelle mit Glut, ein Wassertopf hing darüber. Rechts auf einem grossen Schwenkarm aus Holz war das kupferne Käsekessi, abgedeckt mit einem Holzdeckel. Daneben waren fein säuberlich mehrere Schöpfkellen, die Käseharfe und viele weitere Utensilien aufgehängt.

Gleich hinter der Käserei, dem Hauptraum der ganzen Alphütte, befand sich die Küche. Dort herrschte im Gegensatz zur Käserei ein ähnliches Chaos wie hinter dem Stall. Auf dem Gasherd standen Pfannen, der Spültrog war voll mit schmutzigen Tellern, auf dem grossen Esstisch, der mit einem blumigen Plastiktischtuch bezogen war, befanden sich ein angeschnittenes Brot, eine offene Biskuitpackung und schmutzige Kaffeetassen.

«Ich muss nur kurz aufräumen, dann kann’s losgehen», meinte Martina und begann, rasant abzuwaschen. Selma half ihr. Dann kramte die Sennerin aus der Ikea-Tasche eine Packung Nudeln heraus und holte aus dem Schrank ein Einmachglas, das Martina der Reporterin stolz als selbst gemachte Tomatensauce präsentierte.

Keine halbe Stunde später rief Martina die Männer zum Essen. Der bärtige, alte Mann, mit dem Selma vor der Hütte zusammengestossen war, erschien nun ohne Mütze und nickte ihr wortlos zu. Dann betrat ein gross gewachsener Kerl die Küche, der ebenfalls einen Bart hatte. Keinen richtigen Bart. Auch keinen Dreitagebart. Es waren vielmehr einzelne Barthaare.

Er schaute Selma nicht an, nickte bloss, setzte sich und schöpfte sich und dem Alten die dampfenden Nudeln in die Teller. Schliesslich kam ein hagerer, etwas jüngerer Mann, glatt rasiert und wohlduftend, der sofort zu Martina stürmte und Selma nicht wahrzunehmen schien.

«Ich bin frisch geduscht», sagte er lächelnd zu Martina. «Riech mal!»

«Stefan, wir haben einen Gast», machte ihn Martina auf Selma aufmerksam. «Die angekündigte Reporterin! Sie hat den Weg tatsächlich gefunden. Ich habe ihr aber ein bisschen geholfen.»

«Hei», sagte Selma und reichte Stefan die Hand. «Ich bin Selma.»

Stefans Hand war gross, rau und kräftig. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. «Selma Legrand-Hedlund», sagte er. «Ich weiss. Und deine Schwester heisst Elin. Die Basler Mädchen.» Er wandte sich dem Alten zu: «Papa, erkennst du sie nicht?»

Der Alte schaute nicht von seinem Teller auf.

Stefan lies Selmas Hand los und rückte ihr einen Stuhl zurecht: «Bitte, setz dich zu uns.»

Selma blieb aber stehen und sah zum Mann mit dem ungepflegten Bart: «Dann bist du Andres. Andres Kohler. Stefans älterer Bruder.»

Der Kerl schaute auf, seine Augen waren ebenso grün wie diejenigen seines Vaters. Sie funkelten. Selma kannte diese Augen. Und sie glaubte, hinter dem ungepflegten Bart jetzt ein Lächeln zu sehen. Oder verzog er einfach die Mundwinkel?

«Ich bin Res», murrte der Kerl. «Kein Mensch nennt mich Andres.»

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