Читать книгу Alpsegen - Philipp Probst - Страница 7

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Gedankenverloren stieg Selma die Treppe hinauf. Im zweiten Stock blieb sie kurz stehen, legte ihr Ohr an die Wohnungstüre. Es war nichts zu hören.

Wie viele Jahre waren vergangen, als sie das letzte Mal in dieser Wohnung war? Wie es da drin wohl aussah? Hatte ihre Mutter sie jemals wieder betreten? Selma wusste es nicht. Und getraute sich auch nie, danach zu fragen. Das war ein schwieriges Thema. Ein ganz, ganz schwieriges. Elin, Selmas jüngere Schwester, hatte an einem Heiligen Abend einmal gefragt. Ausgerechnet am Heiligen Abend!

Charlotte Legrand-Hedlund hatte danach kein Wort mehr gesprochen. Dafür hatte sie im Wandtresor nachgeschaut, ob der einzig bekannte Schlüssel zu dieser Wohnung noch dort lag. Zuvor hatte sie einen Hofknicks gemacht, denn der Tresor war hinter einem Gemälde von Gustav IV Adolf versteckt, dem abgesetzten schwedischen König, der anfangs des 19. Jahrhunderts für einige Zeit in Basel im Exil gelebt hatte.

Selma ging hinauf zu ihrer Wohnung, stellte die Pfingstrosen in eine Vase und schaute zum Fenster hinaus auf den Rhein. Ihre Gedanken rotierten. Irgendwann würde ihre Mutter schon einsichtig werden. Es pressierte zwar nicht, Charlotte war gesund und mobil und würde eigentlich auch nicht stolpern. Wenn sie statt Pumps endlich flache Schuhe tragen würde. Aber die High-Heels konnte man ihr nicht wegnehmen, schliesslich war Charlotte Legrand-Hedlund eine Dame. Ja, sie war wirklich eine.

Und auch wenn sie durchaus noch viele Jahre in ihrem geliebten Haus «Zem Syydebändel» würde leben können – für Selma war es höchste Zeit, sich zumindest um eine Alterswohnung oder ein Altersheim zu kümmern und vielleicht sogar einen Platz zu reservieren. Im Alter konnte immer etwas passieren. Selma oder Lea waren nicht immer im Haus und konnten helfen. Natürlich würde man Betreuung und Hilfe organisieren können, trotzdem: Selma war es einfach nicht wohl. Aber da kämpfte sie nicht nur mit ihrer Mutter, auch ihre Schwester Elin sträubte sich. Eine Legrand-Hedlund geht niemals in ein Altersheim, lautete Elins Devise.

«So ein Blödsinn», murmelte Selma. «Dieser falsche Familienstolz! Nur weil unser Grossvater und unser Vater in diesem Haus gestorben sind.»

Sie drehte sich um und ging langsam auf und ab. Das alte Parkett knarrte. Welche Geheimnisse sind wohl in dieser Wohnung im zweiten Stock versteckt?, fragte sie sich. Und vor allem: Woher kommen die seltsamen Geräusche, die Schritte, die sie nachts manchmal hörte?

Plötzlich hatte Selma das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen.

«Warte!», rief Lea, als Selma bereits draussen war. «Willst du den Malschurz nicht mit einer Jacke tauschen?»

Selma bemerkte ihren Fauxpas erst jetzt und kam zurück.

«Aber Madame», sagte Lea schnippisch und lachte. «Eine Legrand-Hedlund im Malschurz in der Öffentlichkeit!»

«Ein Skandal», gab Selma zurück. «Ein Fasnachtssujet!»

«Und nimm die Haarklammer ab, Süsse.»

«Oh! Ich brauch eh eine neue Frisur. Wann hast du Zeit?»

«Für dich immer. Wenn es sein muss, jeden Tag.»

Die beiden Frauen lachten. Dann spurtete Selma die Treppe hinauf, schlüpfte aus der Malschürze, schnappte sich ihre Jeansjacke, nahm die Haarklammer ab, wuschelte ihre dunkelbraunen Haare und rutschte wieder die Geländer hinunter.

Sie machte von ihrem Haus «Zem Syydebändel» einen Spaziergang über die Mittlere Rheinbrücke ins Kleinbasel. Von dort schlenderte sie flussaufwärts in Richtung Wettsteinbrücke. Ihre Gedanken waren immer noch bei ihrer Mutter und der ganzen Familiengeschichte. Als sie gerade unter der Wettsteinbrücke durchging, erhielt sie ein Whatsapp von Marcel. Er fragte sie, ob sie Zeit und Lust für einen Kaffee hätte.

Sie hatte Zeit. Und mit Marcel käme sie wenigstens auf andere Gedanken. Also drehte sie um und ging zurück.

Selma und Marcel trafen sich in der Confiserie Seeberger an der Schifflände, ganz in der Nähe des Hauses der Legrand-Hedlunds am Totentanz. Marcel biss gerade in einen Buttergipfel, als Selma auftauchte. Schnell schluckte er und wischte sich den Mund sauber, um Selma mit drei Küsschen zu begrüssen.

«Was macht die Kunst?», fragte Marcel.

«Was macht die Linie 16?», fragte Selma zurück. Marcel arbeitete bei den Basler Verkehrs-Betrieben als Wagenführer und Chauffeur. Da Marcel an der Schifflände seine Pause verbrachte, ging Selma davon aus, dass er gerade auf der Linie 16 gewesen war. Schliesslich war hier Endstation dieser Linie, und die Fahrerinnen und Fahrer machten hier oft den Schichtwechsel.

«Bin heute mit dem Bus unterwegs. Komme von der Linie 36. Aber nun erzähle! Ich spüre es: Dich bedrückt etwas.» Marcel verschlang gierig den Rest des Croissants.

«Mein lieber Hobby-Psychologe …»

Marcel hob den Zeigefinger, kaute, schluckte und meinte dann: «Diese Croissants! Herrlich. Aber …», er klopfte sich auf seinen wirklich nicht dicken Bauch, «sie machen dick. Okay, Selma. Ich bin kein Hobby-Psychologe, sondern Psychologe ausser Dienst.» Marcel lächelte und nippte an seiner Kaffeetasse. «Das macht einen sehr grossen Unterschied.»

Selma bestellte sich einen Latte Macchiato und löffelte genüsslich den Milchschaum ab.

«Na los, was ist?», hakte Marcel nach.

«Nichts. Alte Familiengeschichte. Meine Mama ist heute Morgen gestürzt. Sie hat sich nicht wirklich verletzt, veranstaltete aber das übliche Tamtam.»

«Hast du heute schon gemalt?»

«Ich hatte gerade angefangen, als …»

«Mit welcher Farbe?», unterbrach Marcel.

«Rot.»

«Rot?» Marcel runzelte die Stirn und wollte gleich noch etwas sagen.

«Stopp, stopp!», intervenierte Selma. «Wenn du jetzt den dämlichen Spruch ‹Rot wie die Liebe› bringst, nenn ich dich wirklich nur noch Hobby-Psychologe.»

«Ich könnte dir jetzt einen längeren Vortrag halten. Über Goethes Farbenlehre und deren Bedeutung für den Menschen.»

Selmas dunkelbraune Augen funkelten. Sie mochte Marcel einfach. Sie mochte ihn sogar sehr. Seinen feinen Humor, seine Empathie, seinen Intellekt. Auch wenn er manchmal ein kleiner Klugscheisser sein konnte. Wie damals, als sie ihn im Tram kennengelernt hatte.

Selma lächelte. Plötzlich hob sie ihre Hand und hielt sie an ihre rechte Wange, tat so, als wollte sie sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch abstützen. Doch Marcel ergriff ihre Hand und zog sie weg. Selma versuchte ihr Lächeln zu unterdrücken, was ihr aber nicht gelang. Sie prustete laut drauflos.

«So gefällst du mir.»

Selma beruhigte sich und sagte: «Du weisst, dass ich das blöde Grübchen in meiner Wange nicht mag.»

«Und du weisst, dass ich es liebe. Es macht dein Lächeln einzigartig.»

«Du alter Charmeur», meinte Selma und strich Marcel über die Wange. Sie spürte winzige Stoppeln: «Oh, hat es heute Morgen für die Rasur nicht mehr gereicht?»

«Frühdienst. Musste um …»

«Entschuldige», unterbrach ihn Selma und kramte ihr Handy aus der Jackentasche. Sie betrachtete das Display und sagte: «Da muss ich rangehen.» Sie stand auf und rückte ihren Stuhl beiseite.

«Du kannst auch hier telefonieren», meinte Marcel erstaunt. «Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander.»

«Das nicht. Aber du kennst ja den Typen, der anruft. Der schreit so laut ins Telefon, dass alle Gäste mithören können.»

Marcel verdrehte nur die Augen.

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