Читать книгу Alpsegen - Philipp Probst - Страница 8

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«Selmeli, was für eine Freude!», schrie der Kerl im breitesten Berner Dialekt ins Telefon. «Mein Mäuschen! Oder Myysli, wie man bei euch in Basel sagt. Wie geht es dir?»

«Jonas! Schön von dir zu hören, wie immer laut und deutlich. Warte bitte kurz.» Selma schaute nach rechts und links, überquerte den Fussgängerstreifen und ging zur kleinen Plattform oben an der Treppe, die zu den Rheinschiffen hinunterführte. «Voilà, da bin ich. Wie geht es dir?»

«Ach, Selmeli, wie soll es einem alten, verbrauchten Kerl schon gehen? Meine Zeit ist vorbei. Mir fehlt eine Muse, ein Mäuschen! Eines wie du.»

«Lass gut sein, Jonas. Erstens bist du nicht alt, zweitens bin ich nicht jung, drittens bin ich kein Mäuschen und viertens heisse ich Selma.»

«Selmeli, Kleines …»

«Und klein bin ich auch nicht.»

«Du weisst, dass ich auf grosse Frauen stehe. Ha! Wir wären ein grossartiges Paar, Selmeli. Entschuldige, Selma natürlich, Madame Selma Legrand-Hedlund, alte schwedische Königsdynastie, veredelt mit französischem Adel und im noblen Basler Daig sess- und fresshaft geworden.» Jonas Haberer lachte. Er lachte so laut und unangenehm, dass Selma ihr Handy vom Ohr nehmen musste. Einige Passanten schauten irritiert zu ihr, lächelten dann aber. Selma lächelte verlegen zurück. «Wie geht es der Frau Mama?», wollte Jonas Haberer wissen, nachdem er sich beruhigt hatte.

«Danke der Nachfrage, alles bestens.»

«Sie nennt dich ja auch Selmeli.»

«Jonas, was kann …»

«Grüsse deine Mama ganz lieb. Eine wirklich entzückende Dame. Und so attraktiv.»

«Ich werde es ausrichten. Was kann ich für dich tun?»

«Ja, du hast recht, Selmeli, lassen wir den Quatsch mit den Nettigkeiten. Ich habe Arbeit für dich.»

«Lass hören.»

«Keine grosse Sache, bringt aber ordentlich Kohle. Und dir wird der Job Spass machen.»

«Ich steige weder in die Gosse, noch mache ich eine Recherche im Milieu. Diese Zeiten sind vorbei.»

«Das waren aber schöne Zeiten. Nein, Selmeli. Die Gesellschaft ‹Service Versicherungen› will für ihr Kundenmagazin eine Reportage über ein Schweizer Alpwirtschaft. Berner Oberland. Romantik. Alles gut. Alles schön. Tolle Fotos, himmelblau, einige Filme dazu, Clips – Bewegtbilder, wie man das heute nennt. Bewegtbilder, was für ein dämlicher Ausdruck!» Wieder prustete Jonas Haberer los, diesmal aber nur kurz. «Eben. Bewegtbilder. Und natürlich einen literarisch-geschwollenen Schönwettertext, wie nur du ihn schreiben kannst, Kleines.»

«Klingt gut.»

«Ha! Der alte Haberer wusste, dass dir das gefällt. Vielleicht verkaufe ich die Reportage später noch einem deutschen Hochglanzmagazin. Landluft, Landmist und wie diese Heftli alle heissen. Sennen sind hipp, das Alpleben liegt im Trend. Wird toll! Bist du dabei?»

Vor ihrem fotografischen Auge stellte sich Selma bereits die schönen Bilder vor, die sie machen würde. Also sagte sie zu.

«Wunderbar. Nächste Woche geht es los. Wenn das Wetter mitspielt. Du musst nichts machen. Der alte Haberer hat das Konzept bereits zusammengeschustert und wird es dir übergeben, wenn du mit dem Zug von Basel ins Berner Oberland tuckerst. Ich nehme an, du weigerst dich noch immer, mit dem Auto zu fahren, du grüne Gutmenschin.»

«Du kannst mir das Konzept auch mailen.»

«Papperlapapp! Ich bin nicht so digital, ich mag nicht immer e-mailen.» Er sprach das Wort absichtlich deutsch aus: e-mailen. «Der persönliche Austausch ist mir halt noch wichtig. Alte Schule, mein Mäuschen.»

Obwohl sie nicht wirklich begeistert war, sagte Selma zu. Schliesslich war Jonas Haberer ihr Auftraggeber. Und zudem war er es gewesen, bei dem sie das journalistische Handwerk gelernt hatte.

Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie nach dem Fotostudium an einer Akademie in Vevey am Genfersee auf dem Boden der Realität gelandet war. Da Werbung nicht ihr Ding war, wagte sie den Schritt in den Journalismus und träumte davon, eine weltbekannte Fotoreporterin zu werden. Auch wenn es nicht die ganz grosse Karriere wurde – Selma konnte sich in der Landschafts- und Porträtfotografie einen Namen schaffen. Und da sie dank Haberer und seinem damaligen Team auch eine gute Texterin und Rechercheurin geworden war, hatte sie heute den Vorteil, grosse Reportagen aus einem Guss abzuliefern.

«Schickst du mir wenigstens die Koordinaten per Mail, Jonas?», fragte Selma schliesslich. «Damit ich weiss, wann ich wo sein muss. Und ich mich auch noch ein wenig vorbereiten kann.»

«Geht klar, Selmeli. Geht klar, pass auf …» Haberer schien plötzlich abgelenkt zu sein, «… ich muss. Bonne journée.» Weg war er.

«Einen schönen Tag», wünschte auch Selma, obwohl die Verbindung bereits unterbrochen war. Typisch Haberer, sagte sich Selma, wenn er hat, was er will, ist man nicht mehr wichtig. Sie lächelte und liess den Blick über die Mittlere Brücke schweifen.

«Jonas Haberer, der Kotzbrocken», murmelte sie und musste lachen. So hatten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen damals bei der Gratiszeitung «Aktuell» ihren Chef heimlich genannt: «Kotzbrocken Haberer.»

Selma ging zurück in die Confiserie. Marcel war aber bereits gegangen und bezahlt hatte er auch. Vielleicht musste er ja zu seiner zweiten Schicht. Also versuchte sie ihr Glück an der Eisengasse, der Bushaltestelle an der Schifflände. Und tatsächlich: Marcel richtete sich gerade im Cockpit eines Busses der Linie 33 ein.

«Excusez», sagte Selma, «hat etwas länger gedauert. Danke für den Kaffee.»

«Wenn dein Berner Schreihals Haberer anruft, geht es immer etwas länger. Kommst du mit?»

«Klar, eine Station, zum Totentanz.»

Marcel fuhr los und musste sich vorsichtig einen Weg durch die vielen Radfahrer erkämpfen. «Die Haltestelle beim Totentanz heisst übrigens Universitätsspital», korrigierte er Selma kurz darauf. «Aber du hast recht, früher war es tatsächlich die Haltestelle Totentanz.»

Selma erinnerte sich gerade an ihr erstes Zusammentreffen mit Marcel. Es lag schon gut zwei Jahre zurück, Selma hatte von der Schifflände zum Marktplatz mit ihrer schweren Fototasche einen 100-Meter-Sprint zurückgelegt, um das 8er-Tram zum Bahnhof noch zu erreichen, das an der Schifflände gerade losgefahren war. Sie war damals in eleganten Lackpumps mit ziemlich hohen Hacken unterwegs, weil sie im Kultur- und Kongresszentrum in Luzern an einer Musikgala die Solisten porträtieren musste. Am Marktplatz hatte der «8er» dann auf sie gewartet. Und Selma war nach vorne zum Fahrer gegangen und hatte sich bedankt. Der Fahrer war Marcel. Er hatte zu ihr gesagt, dass ihre Leistung, in High-Heels zu rennen, zwar beeindruckend, ihrer Gesundheit aber wenig förderlich sei. Klugscheisser!, hatte Selma gedacht. Doch bei der zweiten und dritten zufälligen Begegnung in einem Tram oder Bus hatte sich Marcel als durchaus charmant erwiesen. Und erst recht, als sie sich ebenso zufällig in der Confiserie Seeberger getroffen und das erste Mal einen Kaffee zusammen getrunken hatten.

«Für mich ist die Haltestelle Universitätsspital immer noch der Totentanz», sagte Selma jetzt. «Ist mir schleierhaft, warum man diese Haltestelle umgetauft hat. Schliesslich ist und bleibt das der Totentanz.»

«Ja, aber beim Totentanz liegt halt auch das Universitätsspital. Und ganz ehrlich, Selma: Möchtest du in ein Spital einrücken, dessen Bushaltestelle Totentanz heisst?»

«Du philosophischer Psychologe», foppte ihn Selma.

Marcel stoppte und öffnete die Türen: «Hast du von Haberer einen neuen Fall erhalten?»

Selma lächelte nur.

«Okay, wann geht’s los?»

«Bald. Ich melde mich.» Selma stieg aus und warf Marcel wie immer eine Kusshand mit den immer gleichen Worten zu: «Pass auf dich auf, mein Liebster.»

«Pass auf dich auf, meine Liebste.»

Selma ging durch den kleinen Park zu ihrem Haus am Totentanz und betrat Leas Coiffeursalon.

«Kannst du etwas machen?», fragte sie ihre Freundin und zupfte an ihren Haaren herum.

«Der Anlass?»

«Fotoreportage auf einer Alp.»

«Hm? Kurzhaarfrisur?»

Selma zog entsetzt die Luft ein.

«Na, dann kürze ich hinten und auf der Seite ein bisschen, so dass du einen schönen Schnitt hast, die Haare aber gut zusammenbinden oder hochstecken kannst. Falls du Kühe melken musst.»

«Kühe melken?»

«Das macht man doch auf einer Alp. Und käsen.»

«Ich fotografiere aber.» Noch einmal fuhr sie mit ihren Händen durch die langen Haare. «Also gut. Schneiden. Aber nicht zu kurz.»

«Keine Angst. Wie immer. Aber du musst noch ein bisschen warten. Habe gerade eine andere Kundin. Geniess in der Zwischenzeit die Kopfmassage.»

Eine Auszubildende wusch Selma die Haare und massierte gekonnt Selmas Kopf. Die Reporterin schloss die Augen und dachte an die wunderschöne Bergwelt und freute sich immer mehr über den Auftrag.

Ihr vibrierendes Handy holte sie in die Realität zurück. Nach dem die Auszubildende ihre Behandlung beendet hatte, warf Selma einen Blick auf ihr Smartphone. Haberer hatte ihr tatsächlich das Mail geschickt.

Die Alpwirtschaft, die sie besuchen sollte, lag bei Gstaad, oberhalb des Lauenensees. Selma spürte, wie ihr Puls schneller wurde.

Haberer hatte auch den Namen der Bauernfamilie geschickt.

Selma bekam Herzrasen.

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