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Selma wollte gerade den Spachtel mit der roten Farbe auf ihrer Leinwand ansetzen, als sie im Treppenhaus ein Poltern hörte. Sie ignorierte den Lärm und strich mit dem Spachtel schwungvoll von links nach rechts über die aufgespannte Fläche. Dann kniff sie die Augen zusammen und stellte zufrieden fest, dass zumindest der Anfang vielversprechend wirkte.

Es polterte erneut im Treppenhaus. Selma seufzte und wartete. Sie ahnte, was jetzt kommen würde.

«Mon dieu!» Es war die Stimme ihrer Mutter. Solange ihre Mutter noch «Mon dieu» rufen konnte, war alles halb so schlimm. Selma blieb ruhig und wartete auf den nächsten Einsatz ihrer Mama.

«Selmeli!»

«Voilà», murmelte Selma und verdrehte die Augen. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihre Mutter sie mit «Selmeli» ansprach. Der Kosenamen erinnerte sie zu sehr an das alte Basler Stadtoriginal Selmeli – jene gute Seele, die immer an der Herbstmesse Popcorn verkauft und Geld für benachteiligte Kinder, Jugendliche und Senioren gesammelt hatte.

«Selmeli!», rief Mutter erneut. Selma legte den Spachtel auf die Farbpalette. Sie kniff noch einmal die Augen zusammen und stellte sich nun den nächsten Strich auf der Leinwand vor. Er müsste dieses Mal von rechts nach links führen. Und nach oben …

«Selmeli!» Und einige Sekunden später ein energisches: «Selma!»

Das war nun das entscheidende Stichwort. Selma wischte sich die Hände am Schurz ab, öffnete die Türe des Malateliers im Dachgeschoss, schaute ins Treppenhaus hinunter und rief: «Mama? Alles in Ordnung?»

Keine Antwort. Was Selma aber nicht erschreckte. Es war schliesslich nicht der erste Treppensturz ihrer Mutter. Selma kletterte die steile Holztreppe bis zu ihrer Wohnung im dritten Stock hinunter. Hier begann das eigentliche Treppenhaus mit Handlauf. Selma setzte sich auf den Handlauf und rutschte gekonnt zum zweiten Stock hinunter.

«Charlotte! Was ist passiert? Bist du verletzt?» Das war Leas Stimme, der Coiffeuse aus dem Erdgeschoss, die dort ihren Salon hatte.

Selma rutschte vom zweiten in den ersten Stock.

«Danke, Lea, sehr nett. Meine Tochter kann oder will mich nicht …»

«Ich bin da, Mama!», rief Selma und rutschte noch eine Länge Richtung Erdgeschoss. Lea half Charlotte gerade beim Aufstehen. Auf der Steintreppe lag eine Tasche mit Einkäufen. Zwei Brötchen und einige Kartoffeln waren herausgepurzelt. Eine Stufe höher lag ein Bund Pfingstrosen.

«Endlich», bemerkte Charlotte trocken und schaute Selma finster an.

«Hast du dir weh getan?»

«Natürlich nicht», sagte Charlotte geistesabwesend, denn sie war ganz darauf konzentriert, ihre langen, bordeauxrot lackierten Fingernägel zu begutachten. «Glück gehabt, meine Nägel sind heil geblieben. Aber meine Frisur sitzt wohl nicht mehr korrekt.»

Lea strich einige der weissen Strähnen von Charlotte Legrand-Hedlunds Haaren zurecht: «Alles bestens, Charlotte. Obwohl, wir müssten deine Bob-Frisur mal wieder ein bisschen in Schuss bringen.»

«Hach, Lea», meinte Charlotte in einem deutlich höheren Tonfall. «Was bist du doch für ein geschäftstüchtiges Fräulein.» Sie warf Selma einen strengen Blick zu: «Da könntest du von deiner Freundin etwas lernen.»

«Mama, ich arbeite! Ich war am Malen.»

«Ja, ja, die brotlose Kunst.»

Selma sammelte die Brötchen und die Kartoffeln ein, legte sie in die Tasche und schnappte sich dann die Pfingstrosen.

«Die sind übrigens für dich», sagte Charlotte lakonisch. «Damit wenigstens ein bisschen Farbe in dein Leben kommt.»

«Meine schwarze Phase ist längst vorbei. Ich male jetzt wieder mit allen möglichen Farben.»

«Aha, schön, gratuliere. Ich habe aber nicht die Farben auf der Leinwand gemeint, sondern die Farben in deinem Leben.»

Selma verkniff sich jeden Kommentar, weil sie keine Lust hatte, die immer gleichen Diskussionen zu führen. Vor allem nicht vor ihrer Freundin Lea. Stattdessen fragte sie ihre Mutter, ob sie Doktor Werner anrufen solle.

«Nicht nötig, François hat sicher Wichtigeres zu tun, als sich um eine alte Schachtel zu kümmern. Im Übrigen ist nur meine Strumpfhose am Knie etwas lädiert.»

Selma führte ihre Mutter in deren Wohnung im ersten Stock und setzte sie aufs alte und etwas abgewetzte Biedermeier-Sofa. Das Sofa passte so gar nicht in Charlottes Wohnung mit all den weissen Möbeln im schwedischen Landhausstil. Und sonderlich bequem war es auch nicht. Aber es war halt ein Erbstück der Legrands.

Selma begutachtete das linke Knie. Aus dem Badezimmer holte sie einen Wundspray und ein Pflaster und behandelte die kleine Schürfung. «Die Strumpfhose ist futsch, aber das Knie ist so weit in Ordnung», diagnostizierte Selma.

«Die Strumpfhose kann man doch noch flicken», räsonierte Charlotte.

«Sie ist gerissen, Mama. Aber zum Glück ist dir nichts passiert. In einigen Tagen sollte die Wunde verheilt sein.»

«In meinem Alter dauert das Wochen, Liebes. Jetzt kann ich wieder nur schwarze Strumpfhosen anziehen und sehe aus wie eine alte Tante.»

«Du kannst ja auch Hosen anziehen. Aber nicht die engen! Du musst halt mal die weiten aus der Kommode ausgraben, okay?»

Charlotte warf ihrer Tochter nur einen grimmigen Blick zu.

«Und Mama», fuhr Selma fort, «wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst keine schweren Taschen die Treppe hinaufschleppen? Und dann noch in diesen Schuhen! Du bist doch schon einige Male gestolpert.»

«Was ist denn mit meinen Schuhen?», fragte Charlotte empört, stellte ihren rechten Fuss schräg und betrachtete lächelnd ihre schwarzen Pumps.

«Das sind High-Heels!», sagte Selma.

«Aber, aber, Liebes. Ich bitte dich!»

«Für eine ältere Dame sind fünf Zentimeter hohe Absätze High-Heels.»

Charlotte Legrand-Hedlund zog ihren Fuss zurück, erhob sich mit einem leisen Stöhnen und zog ihren enganliegenden, hellblauen Jupe nach unten. Energisch meinte sie zu ihrer Tochter: «Keine Diskussion. Und nein, ich werde niemals ins Altersheim gehen. Nur falls du beabsichtigst, dies in deiner Ansage noch zu erwähnen. Das Altersheim ist zu teuer. Zudem müssten wir dann diese Wohnung neu streichen, um sie überhaupt vermieten zu können.»

«Einfach die Wände anpinseln hilft nicht, Mama. Wir müssten eigentlich das ganze Haus sanieren.»

«Eben.»

Charlotte zog ihre Pumps aus und humpelte in die Küche. Selma holte die Einkäufe und half ihr beim Einräumen.

«Danke», sagte Charlotte schliesslich. «Und vergiss die Pfingstrosen nicht, Selmeli.»

«Ja, Mama. Danke. Und bitte, zum tausendsten Mal, nenn mich nicht Selmeli, vor allem nicht vor anderen Leuten. Es nennt mich niemand mehr Selmeli.»

«Ach was, Liebes.»

Ja, es gab tatsächlich noch jemand, der Selma Legrand-Hedlund Selmeli nannte. Und sie auch durchaus wie ein kleines Mädchen behandelte. Aber von dem hatte sie schon länger nichts mehr gehört.

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