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28. Dezember

REDAKTION «SCHWEIZER PRESSE», ZÜRICH-WOLLISHOFEN

Um 10.30 Uhr betrat Myrta Tennemann den Konferenzraum. Bereits anwesend waren der stellvertretende Chefredakteur Markus Kress, People-Chef Benedikt Graber, Nachrichtenchefin Michaela Kremer und Fotochefin Gabriela von Stetten.

«Ich habe meine Weihnachtsferien kurzfristig abgebrochen, weil wir dringend über eine Story sprechen müssen», begann Myrta. Sie legte ihr iPhone demonstrativ auf den Tisch. «Auf diesem Handy habe ich ein äusserst delikates und, so hoffe ich, exklusives Bild.» Sie drückte auf dem Mobile herum und gab es dann Gabriela von Stetten, die zu ihrer Linken sass.

«Bitte schaut euch das Bild zuerst genau an, bevor ihr etwas dazu sagt.»

Das Handy ging von Hand zu Hand. Nachrichtenchefin Michaela Kremer konnte ein «Ach, das ist ja schräg» nicht unterdrücken.

«Was denkt ihr?», fragte Myrta nachdem sie das iPhone zurückbekommen hatte.

«Für mich ist das eindeutig», meldete sich Michaela sofort zu Wort. «Hier sitzt unser beliebter Luis Battista mit einer unbekannten jungen Frau und flirtet, was das Zeug hält. Er hält sicher nicht nur Händchen mit der Lady.»

«Wo hast du das Bild her?», fragte die Fotochefin.

«Das spielt im Moment keine Rolle. Kennt jemand die Frau?»

Alle schüttelten den Kopf und schauten zu People-Chef Benedikt Graber.

«Hey, ich kenne auch nicht alle Leute», rechtfertigte sich der junge Abteilungsleiter. «Aber die Dame ist sicher keine Prominente.»

«Es ist Karolina Thea Fröhlicher, die Tochter von Gustav Ewald Fröhlicher.»

«Der Fröhlicher, dem die Parlinder AG gehört?», fragte der stellvertretende Chefredakteur Markus Kress und kratzte sich gleichzeitig an seiner Glatze. Benedikt Graber schaute verdutzt zu Myrta: «Sorry, aber ich …»

«Schon gut», sagte Myrta. «Man kann nicht alles wissen.» Sie lächelte und genoss es, ihrem Team gezeigt zu haben, wer der Boss war. Dann ergänzte sie: «Wir müssen es aber noch verifizieren, damit wir ganz sicher sind, dass es die junge Fröhlicher ist.»

«Wer hat das Bild gemacht? Wann? Wo?», wollte die Bildchefin wissen.

«Das Foto wurde am 25. Dezember im Skigebiet Corviglia im Engadin aufgenommen.»

«Von wem?», hakte Gabriela von Stetten nach.

«Joël Thommen.»

«Vergiss es, Myrta», sagte Markus Kress sofort. «Ich weiss, dass du mit ihm befreundet bist. Aber du weisst auch, dass wir keine Arbeiten mehr von Joël annehmen.»

«Ist gut, Markus», fauchte Myrta. «Nur weil er einmal Mist gebaut hat, heisst das nicht, dass dies immer der Fall ist.»

«Myrta! Fotos von diesem Kerl kommen mir nicht ins Blatt!», schnauzte der stellvertretende Chefredakteur.

Locker bleiben, nicht provozieren lassen, sagte sich Myrta. Sie hasste ihren Stellvertreter, konnte aber nichts gegen ihn unternehmen, weil er ihr vom Geschäftsführer als Aufpasser aufs Auge gedrückt worden war.

«Easy, mein Lieber», sagte Myrta ganz sachlich. «Wir machen Folgendes: Gabi, du checkst alle möglichen Bildquellen ab und vergleichst das Foto mit anderen Aufnahmen von Karolina Thea Fröhlicher. Dass es sich bei der anderen Person eindeutig um Luis Battista handelt, ist wohl allen klar, oder?»

Die Führungscrew nickte.

«Gut. Dann bitte ich die People- und die Nachrichtenabteilung, je einen Reporter abzustellen, die beiden sollen heute alles zu diesem Thema recherchieren. Wir und die Reporter treffen uns hier um 17 Uhr zu einer Besprechung. Okay?»

«Myrta, bitte, du hast …» setzte Kress an.

«Okay?», unterbrach ihn Myrta schroff.

LABOBALE, ALLSCHWIL, BASELLAND

Die Aussicht von Carl Koellerers Büro war nicht berauschend: Ein bisschen Grünzeug war zu sehen, vor allem aber eine Betonanlage des Zementgiganten Holcim. Gleich dahinter befanden sich die schweizerisch-französische Grenze und noch ein bisschen weiter der EuroAirport Basel-Mulhouse. Deshalb tauchten immer wieder tieffliegende Jets vor Koellerers Fenster auf. Phil Mertens stellte sich vor, in einem dieser Flugzeuge zu sitzen und wegzufliegen. Wohin, wusste er allerdings nicht.

Koellerer trug ein weisses Hemd mit einer dunkelblauen Krawatte. Er hatte die Ärmel zurückgerollt und setzte sich nun zu Phil Mertens und dessen Vorgesetzter, Forschungs-Chefin Mette Gudbrandsen. Während Phil wie fast immer seinen weissen Laborkittel trug, sass seine Chefin im dunklen Hosenanzug neben ihm und zupfte einige Fusel weg.

«Phil, Mette», begann Carl Koellerer und schaute beide nacheinander an. «Ich gratuliere Ihnen zu diesem Erfolg», fuhr er in nahezu akzentfreiem Englisch weiter. «Die Resultate sind also eindeutig?» An seinem Tonfall war deutlich zu hören, dass Koellerer diesen Satz nicht als Frage, sondern als Bestätigung verstanden haben wollte.

«Ich denke, ja», sagte Phil.

«Mette, was meinen Sie?», fragte Koellerer. Auch bei dieser Frage liess der CEO keine Zweifel darüber offen, welche Antwort er vernehmen wollte.

«Wir haben es mit unseren Teams in Holland und China überprüft», antwortete die grossgewachsene Norwegerin. «Es gibt keine Zweifel.»

«Gut», sagte Koellerer knapp.

«Natürlich handelt es sich ausschliesslich um Resultate im Labor», meldete sich Phil nun wieder zu Wort. «Und an Labortieren. Wie sich BV18m92 ausserhalb unserer Versuchsreihen …»

«Das ist mir auch klar», sagte der Deutsche ein wenig schnippisch. «So viel verstehe ich von der Forschung gerade noch. Es geht bloss darum, was wir unserem Kunden präsentieren können. Wie ich erfreut feststellen darf, haben wir seine Erwartungen sogar übertroffen. Nicht wahr?»

«Ganz ohne Zweifel», bestätigte Mette, nickte ganz leicht, wobei ihr kurzer blonder Pferdeschwanz auf und ab wippte.

«Dann sollten wir nicht zögern, unseren Kunden zu informieren.»

«Carl, darf ich Sie etwas fragen?», warf Phil ein. «Wer ist dieser Kunde, und was hat er mit unseren Forschungsergebnissen vor?»

Carl Koellerer lächelte. Mette Gudbrandsen fixierte Phil mit ihren stechend blauen Augen. Phil lächelte Mette an.

«That’s it, lieber Phil», antwortete Carl Koellerer und stand auf. «Wir sind ein modernes Unternehmen, jeder Mitarbeiter hat eine Kernkompetenz. Solche Fragen gehören nicht zu Ihrer.»

Carl Koellerer lächelte.

REDAKTION «SCHWEIZER PRESSE», ZÜRICH-WOLLISHOFEN

Da Joëls iPhone wegen der Feuchtigkeit und der darauffolgenden Akku-Austausch-Aktion von Polizist Strimer doch nicht mehr hundertprozentig funktionierte – beim Lösen der Schrauben oder beim Entfernen des Displays war wahrscheinlich ein Schaden entstanden, der zu einem Wackelkontakt geführt hatte – sprachen Myrta und Joël übers Festnetz miteinander. Myrta hatte ihn im Spital angerufen und ihn, nachdem er den üblichen Redeschwall beendet hatte, gefragt, wie er zu diesem Bild des flirtenden Superministers gekommen sei.

Sei keine schwierige Sache gewesen, antwortete Joël. Sie müssten es ja nicht an die grosse Glocke hängen, aber im Prinzip sei es purer Zufall gewesen.

«Wo hast du das Bild aufgenommen?»

«In diesem Bergrestaurant unterhalb des Piz Nair.» Trotz der gebrochenen Nase klang Joël wieder ziemlich normal.

Myrta googelte zu einer Website mit einer entsprechenden Landkarte. «Du meinst auf der Corviglia?»

«Nein, unterhalb des Piz Nair.»

Myrta scrollte nach oben. «Lej da la Pêsch?»

«Kann sein. Einfach dort, wo die Abfahrt vom Piz Nair endet und ein Sessellift hochfährt.»

«Ja, das sehe ich, müsste in der Nähe von jenem Ort sein, an dem man dich gefunden hat. Was ist dann passiert?»

«Was soll schon passiert sein?»

«Joël, du wärst schier gestorben da oben, das ist passiert.»

«Ach, das weisst du ja …»

«Nein, ich weiss, was der Polizist sagt. Du hast gesoffen, hast die Bahn verpasst, hast einen in die Fresse gekriegt, bist dann den Hang hochgelaufen, hast noch das Bein irgendwie verstaucht und wärst später fast erfroren. So war es also?»

Joël antwortete nicht.

«Ich warte, Joël. Wie war es wirklich?»

Joël zögerte: «Das bleibt aber unter uns, klar?»

«Ja.»

Seine Schilderung über die dramatischen Ereignisse auf dem Berg hörte an jener Stelle im Schnee auf, an der er nach seinem Sturz vom Sessellift eingeschlafen oder bewusstlos geworden war.

«Dann wurdest du also zufällig von Party-People entdeckt und gerettet», sagte Myrta, nachdem sie während Joëls Vortrag schon mehrmals «Oh mein Gott!» ausgerufen hatte. «Was für ein Glück du hattest!», fügte sie an.

«Jepp!»

«Und wo ist deine Kamera?»

«Weg! Die haben mir diese Idioten gestohlen. Da waren noch tolle Bilder von so einer italienischen Braut drauf!»

«Aha. Und warum sollen sie dir die Kamera gestohlen haben?»

«Weil sie dachten, sie würden Fotos von Battista darauf finden. Ich checke eh nicht, warum ein Bundesrat plötzlich solche Bluthunde an seiner Seite hat, das gab es noch nie.»

Myrta klärte Joël darüber auf, dass die Bodyguards eher wegen der Dame, Karolina Thea Fröhlicher, anwesend seien. Sie erklärte ihm auch gleich, wer diese junge, schwerreiche Dame war. Schliesslich fragte Myrta: «Warum haben sie dir denn das Handy gelassen?»

Joël schwieg. Sollte er ihr sagen, dass er bedroht wurde? Er war sich noch immer nicht sicher.

«Joël!»

«Ja, ja, ich bin noch da.»

«Also, das Handy?»

«Nichts …»

«Hör auf, ich weiss, dass da noch was ist, also raus mit der Sprache.»

Schliesslich erzählte Joël, die Täter hätten vergessen, ihm das Handy wegzunehmen, dass er aber mittlerweile Besuch bekommen habe und bedroht würde. «Aber das bleibt unter uns», betonte er zum Schluss erneut.

«Wir sollten Anzeige erstatten!»

«Vergiss es.»

«Warum?»

«Vergiss es. Ich will das Foto in der Zeitung und ein gutes Honorar dafür, und dann lassen wir die Sache gut sein. Alles andere gibt nur Ärger, zudem weiss ich nicht, wie die Kerle reagieren würden.»

«Okay.»

«Myrta, du musst einfach wissen, diese Typen werden ziemlich böse sein, wenn das Bild erscheint. Ich meine, die haben gedroht, nicht nur mich, sondern auch andere …»

«Keine Sorge. Abwarten.»

«Wie viel bezahlst du mir?», wollte Joël wissen.

«Abwarten.»

«Und erwähne bloss nie und nirgends meinen Namen.»

«Abgemacht.»

«Ich vertraue dir, Myrta. Ich vertraue dir wirklich!»

«Ich dir.»

«Kannst du.»

«Sicher?»

«Natürlich. Die andere Geschichte ist Schnee von gestern. Dumm gelaufen, okay?»

«Du hast mir saufende Fussballer verkauft und der Fotochefin erzählt, du hättest die Bilder mit dem Einverständnis des Clubs gemacht. Kress ist jetzt noch sauer auf dich.»

«Dein dämlicher Unterhund soll sich nicht so aufspielen. Die Story war gar nicht so schlecht, oder?»

«Vergiss es, Joël. Noch so ein Ding, und ich bin weg vom Fenster.»

CORVIGLIA, ST MORITZ

Jachen Gianolas Gäste speisten im exklusiven Bergrestaurant. Da die Damen heute keine grosse Freude am Skifahren gezeigt hatten, ging Jachen davon aus, dass das Essen mehrere Stunden dauern würde. Darauf hatte er keine Lust. Er holte sich sein Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant und setzte sich an den Skilehrertisch. Das aufgeregte Gequatsche seiner jungen Kolleginnen und Kollegen langweilte ihn aber. Er beschloss, ins Zelt hinauszugehen und sich dort ein Bier zu genehmigen.

Vorher rief er seinen Freund Karl Strimer an und erkundigte sich nach dem Zustand des auf der Lej da la Pêsch geretteten Skifahrers. Der Polizist erzählte ihm, der Typ habe wirklich Glück gehabt und werde wohl wieder gesund.

Jachen Gianola war froh.

Als Karl sich erkundigte, warum er an diesem Fall so interessiert sei, gab er zur Antwort, sein Gast, der Bundesrat, habe ihn danach gefragt.

REDAKTION «SCHWEIZER PRESSE», ZÜRICH-WOLLISHOFEN

Um 17 Uhr traf sich die Führungscrew der «Schweizer Presse» mit den zwei Reportern zur Besprechung. Fotochefin Gabriela von Stetten zeigte einige Fotos von Karolina Thea Fröhlicher. Viele waren es nicht. Und auf den meisten trug sie einen Reithelm. Trotzdem war eindeutig, dass sie es war, die Joël zusammen mit Luis Battista ertappt hatte.

Anschliessend berichteten die beiden Reporter, sie hätten auf die Schnelle keine Verbindungen zwischen der Familie Battista und der Familie Fröhlicher gefunden. Einzig bei der Verlegung des Hauptsitzes des Parlinder-Konzerns von Deutschland in die Schweiz tauche der Name Luis Battista auf. Das war vor sechs Jahren. Luis Battista sass damals noch im Parlament, war Mitglied der Wirtschaftskommission und hatte den Umzug in einem Interview begrüsst.

«Was wissen wir über die Parlinder AG?», fragte Myrta.

«Das ist ein riesiger, etwas unübersichtlicher Konzern», erklärte Nachrichtenreporterin Elena Ritz. «Seit sechs Jahren in Liestal ansässig …»

«Deshalb Battistas Freude», unterbrach der stellvertretende Chefredakteur Michael Kress. «Der ist doch Baselbieter. Parlinder und Fröhlicher sind sicher tolle Steuerzahler.»

«Fröhlicher selbst hat seinen Wohnsitz in Riehen, Kanton Basel-Stadt», fuhr Elena Ritz fort. «Über ihn ist wenig Privates zu finden. Er taucht nur im Zusammenhang mit seiner Firma auf. Und selbst da sehr selten. Parlinder ist ein Firmenkonglomerat aus allen möglichen Branchen. Gegründet 1906 von Gerhard Parlinder in Oberösterreich als Müllereibetrieb, später Ausbau zur Lebensmittelhandlung, nach dem Krieg Beginn der Zusammenarbeit mit dem deutschen Kaufmann und Handelsvertreter Gustav Fröhlicher senior. In den 50er-Jahren Übernahme durch Fröhlicher, Schliessung sämtlicher Läden, Konzentration auf die Lebensmittelproduktion und den Grosshandel. Seit 1979 wird die Firma von Gustav Fröhlicher junior geleitet, der sich offiziell Gustav Ewald Fröhlicher nennt.» Elena betonte den zweiten Vornamen. «Er hat den Rohstoffhandel stark erweitert, die Abteilung Lebensmitteltechnologie und -chemie geschaffen und auch diverse chemische Unternehmen übernommen. Heute ist die Firma auf der ganzen Welt tätig, sie geriet immer wieder in die Schlagzeilen der Wirtschaftsmedien wegen des Verdachts auf unerlaubte Absprachen und Schmiergeldzahlungen, allerdings konnte ihr nie etwas nachgewiesen werden. Der Firma scheint es gut zu gehen.»

«Danke», antwortete Myrta.

«Also, was machen wir?», fragte Michael Kress und fügte gleich hinzu: «Wenn dein Joël uns wieder verarscht und das Bild nicht echt ist, sondern im Photoshop zusammengeklickt, sind wir am Ende. Einen solchen Prozess können wir nie bezahlen. Wir müssen uns absichern. Wir sollten das mit dem Verleger besprechen.»

«Wir sollten vor allem einige Heftchen mehr verkaufen, sonst werden wir alle bald gar nichts mehr bezahlen, weil wir keinen Lohn mehr erhalten. Also, schreibt die Geschichte. Und knallt das Bild auf die Titelseite!»

«Und mit welcher Schlagzeile?», fragte Kress.

Myrta überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie: «Erwischt, Ausrufezeichen. Bundesrat Battista am Fremdflirten.»

LABOBALE, ALLSCHWIL, BASELLAND

Er verdiente zwar viel Geld, doch sein Name würde niemals an einer Universität erwähnt werden. Das hatte sich Phil Mertens zu Beginn seiner Karriere anders erhofft. Heimlich hatte er vom «Mertens-Prinzip» geträumt, das einmal den nächsten Generationen von Wissenschaftlern vermittelt würde. Tatsächlich hatten er und sein Team wohl eine spektakuläre Arbeit zustande gebracht. Aber die Welt würde nie erfahren, welches Genie dahinter steckte. Gut, er wusste, das mit dem Genie war vielleicht ein bisschen übertrieben, die Konkurrenz war auch nicht doof, aber trotzdem, ein bisschen Ruhm und Ehre hätten ihm schon gefallen.

Eine halbe Million Schweizer Franken Jahresgehalt brutto, steueroptimiert verwaltet, wie die Firma stets versicherte, mit Weissgeld-Garantie. Zusätzlich je nach Geschäftsgang bis zu einer halben Million Bonifikation in Form von Wertpapieren aller Art, ebenso garantiert lupenrein sauber. Plus ein Haus, ein Auto und alle Reisekosten, egal ob geschäftlich oder privat. Nicht schlecht in Zeiten wirtschaftlicher Depression und grassierender Finanzkrise.

Als Phil Mertens realisierte, dass er philosophierte und sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren konnte, beschloss er, Feierabend zu machen. Es war bereits kurz vor 21 Uhr. Er wollte gerade den Rechner hinunterfahren, sah aber das Fenster auf dem Computerschirm blinken, in dem die Meldung angezeigt wurde, dass sich seine Chefin Mette Gudbrandsen im Hochsicherheitslabor im U4 aufhielt.

Als er unten ankam und sämtlichen elektronischen SecuritySchnickschnack hinter sich hatte, rief er: «Na, Mette, immer noch am Arbeiten?»

«Hey, Phil, du auch?», antworte sie ganz ruhig, sie schien keineswegs von seinem Besuch überrascht zu sein.

«Ich mache Schluss», sagte Phil. «Kann ich dir helfen? Suchst du etwas?»

Natürlich war Mette die Chefin, aber das Labor war Phils Reich. Es interessierte ihn schon, was sie hier trieb.

«Nein, ich wollte bloss wieder einmal Labor-Luft schnuppern, diesen typischen Geruch von Essigsäure und Desinfektionsmittel! Schade, dass ich heute fast nur noch im Büro sitze.» Sie schaute durch die dicken Glasscheiben ins Heiligtum des Labors hinein, dort, wo all das, was sie am Computer berechnete, Wirklichkeit wurde. Jene Zone war nur mit komplettem Schutzanzug und durch Schleusen erreichbar. «Hier passiert doch der spannendste Teil der Arbeit», sinnierte Mette.

Phil glaubte ihr kein Wort, sagte aber: «Das geht uns doch allen so. Wirst du sentimental?»

«Nein, nein, natürlich nicht», antwortete Mette sofort. «Aber wenn ich schon unseren, oder besser gesagt deinen Grosserfolg als Vorgesetzte verantworten darf, möchte ich dieses Gefühl hoher Wissenschaft wieder in mir aufleben lassen.»

«Oh, ich verstehe …»

Mette lehnte sich an den Labortisch und verschränkte die Arme. Dadurch wurde ihr Busen etwas angehoben und erschien jetzt ein gutes Stück grösser. Sie griff sich an den Kopf, zog den Gummi von ihrem strengen, kurzen Pferdeschwanz, warf die halblangen, blonden Haare in den Nacken und lächelte Phil an. «Wie war dein Weihnachtsfest?»

Phil wandte den Blick sofort ab, drehte sich um und tat so, als putzte er im Schüttstein einen Fleck weg. Er spürte, wie Mette ihn anstarrte.

«Es war okay», sagte er und dachte: Wie idiotisch ist das alles? Mette ist doch eine nette Frau, eine interessante Kollegin, warum sollte sie ein falsches Spiel mit mir treiben? Warum können wir nicht normal miteinander umgehen? Warum dieses Misstrauen?

«Wünschst du dir manchmal nicht auch, Phil, wir könnten nochmals Studenten sein?», fragte sie.

«Also doch sentimental», stellte Phil fest und fügte gleich hinzu. «Bei dir ist es ja noch nicht so lange her, Mette, schliesslich bist du einiges jünger als ich.»

«Tja, zwölf Jahre …»

Phil erwartete, dass sie noch etwas anfügte. Die Pause machte ihn nervös, also sagte er rasch: «Lass uns gehen!»

Im Lift sprachen sie kein Wort. Phil achtete darauf, dass er so weit wie möglich von ihr entfernt stand und sie nicht anschaute. Wie das Labor war auch der Fahrstuhl videoüberwacht – trotzdem wollte Phil auf Nummer sicher gehen. Er war schliesslich ein Mann und sie eine Frau, langbeinig, blond, sexy. Die geringste Zweideutigkeit seinerseits könnte seine Karriere zerstören.

Legt sie es darauf an?, fragte er sich. Und wenn ja, warum? Ich werde langsam paranoid.

Um 21.36 Uhr rollte er in seinem Volvo XC90 aus der Tiefgarage der Firma. Er fuhr einige Meter bis zum Tankstellen-Shop Coop Pronto. Dieser liegt direkt vor dem Biotechnologie-Unternehmen Actelion, das mit seinem verschachtelten Bau eine architektonische Sehenswürdigkeit der gesamten Region geschaffen hat. Phil bestaunte es immer wieder. Das Gebäude mit seinen übereinander gestapelten Stahlträgern konkurrenziert locker den ebenso eigensinnigen «Campus des Wissens» des Pharmakonzerns Novartis und auch sämtliche Bauten des zweiten Basler Pharma-Riesen Roche. Dagegen war der Betonklotz von Labobale äusserst schlicht. Im Gegensatz zu den Grossen der Branche galt bei Labobale der Grundsatz: Bloss nicht auffallen. Trotzdem wäre es schön, in einem attraktiveren Gebäude zu arbeiten, dachte Phil. Ein blödsinniger Gedanke, sagte er sich sofort, denn wo er in Zukunft weiterforschen würde, hing stark von seinem Virus BV18m92 ab.

Phil kaufte sich im Shop eine Flasche Charles-Bertin-Champagner und einen kleinen Blumenstrauss. Ein bisschen Feiern mit seiner Frau dürfe er schon, fand er. Er würde Mary von einem kleinen Erfolg erzählen, mehr nicht.

Nach dem Einkauf schrieb er auf seinem privaten Smartphone, einem Samsung, eine SMS an sie und kündigte sich für die nächste halbe Stunde an. Er startete den Motor und fuhr langsam an.

Plötzlich stoppte er und griff erneut zu seinem Samsung. Er wählte die Twitter-App, meldete sich unter seinem Nickname @ spooky77 an und tippte: «Endlich Feierabend, cheers!» Er klickte auf «send» und liess diese belanglose Mitteilung via Internet in die Welt hinaus.

Dann fuhr Phil los. Links Richtung Bachgraben, Luzernerring, in den Tunnel auf die Autobahn, auf der doppelstöckigen Brücke über den Rhein. Das Radio spielte Chris Rea, «Driving home for Christmas». Phil drehte das Radio auf. Er liebte diesen Song.

Ein Blick auf sein Handy. Es zeigte eine Antwort auf seinen Tweet. @deroberti schrieb zurück: «cheers!»

Phils Information war angekommen. Er lächelte, liess seine Finger im Rhythmus der Musik auf dem Lenkrad tanzen, kalt lief es ihm den Rücken hinunter.

Ruhm und Ehre wollte er, bekam er aber nicht. Dafür hatte er Geld. Und Macht.

Das fühlte sich geil an.

Die Boulevard-Ratten

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