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17. August

NEUNLINDENTURM BEI OBERROTWEIL, DEUTSCHLAND

Um 23.28 Uhr schoss eine besonders helle Sternschnuppe durch den westlichen Nachthimmel und verschwand hinter dem Totenkopf. Christian notierte Zeit, Himmelsrichtung und Helligkeit in seinem Notizbuch, das den Namen «Christians Sternbeobachtungen» trug. Die Helligkeit bewertete der 12-Jährige mit einer Neun. Die höchste Note, die Zehn, hatte er an diesem Abend noch nicht vergeben.

«So Junge, das war das Finale», sagte Andreas Mehrendorfer zu seinem Sohn. «Wir müssen jetzt wirklich gehen.»

«Nein, nein, Papa», widersprach Christian. «Ich habe noch keinen Stern mit der Helligkeitsstufe zehn!»

«Komm, wir müssen jetzt wirklich gehen», mahnte der Vater und schob seinen Sohn sachte zur Wendeltreppe. «Wir kommen ein andermal wieder hier hinauf.»

Christian stopfte sein Sternenbuch in den Rucksack, warf ihn über die Schulter und verschwand in der Tiefe. Seine Schritte auf der Stahltreppe hallten durch den stockdunklen Turm. Andreas Mehrendorfer blickte noch einmal kurz zum Fernsehturm, der gleich neben dem Gipfel des Totenkopfs stand, sah aber keine Sternschnuppe mehr, stieg dann die ersten Stufen der Wendeltreppe hinunter, drehte sich um und schloss die Holztüre zur Plattform des Neunlindenturms. Danach knipste er seine Taschenlampe an und folgte seinem Sohn in die Tiefe.

«Mama, wir haben eine Sternschnuppe mit Helligkeit neun gesehen!», schrie Christian und liess die untere Türe des Neunlindenturms zuknallen. Als Andreas den Turm ebenfalls verliess, eilte seine zehnjährige Tochter Janina zu ihm und griff nach seiner Hand.

«Gehen wir jetzt?», fragte sie.

«Hast du etwa Angst?»

«Ja, ein bisschen.»

«Was hat dir die Mama denn alles über den Totenkopfberg erzählt?»

«Hier hat früher ein Mann gewohnt, der ein grosses Feuer gemacht hat», sagte Janina leise. «Aber niemand hat den Mann je aus der Nähe gesehen, denn keiner hat sich getraut, auf den Berg zu steigen, um den Mann zu besuchen.»

«Warum wusste man denn, dass es ein Mann war, der hier oben lebte?»

«Weil, ähm, weil …» Das Mädchen stolperte über eine Wurzel, doch Andreas konnte seine Tochter halten. Zwar hatten Andreas und Veronika Mehrendorfer Taschenlampen dabei, führten ihre Kinder an der Hand und versuchten, den Weg zu beleuchten. Trotzdem war es ziemlich gefährlich, da der steile Weg voller Wurzeln und loser Steine war. Deshalb kam die Familie nur sehr langsam voran.

«Also, der Mann da oben war so gross, dass er manchmal über die Bäume ins Tal hinunter gucken konnte», erzählte Janina weiter. «Und weil er so gross war, hatten die Leute auch grosse Angst. Vor allem aber vor dem grossen Feuer.»

«Warum hatte er denn so ein grosses Feuer?», fragte Andreas.

«Mama, warum hatte der Mann ein so grosses Feuer?» Janina drehte sich zu ihrer Mutter um und stolperte erneut.

«Schau auf den Weg», mahnte Veronika. «Der Mann hatte immer kalt. Selbst im Sommer. Das habe ich dir doch erzählt.»

«Oh ja, genau. Und deshalb hat er das grösste Feuer der Welt gemacht. Und es gab ganz viel Rauch. Und der Rauch sah aus wie ein Totenkopf!»

«Deshalb heisst der Berg ja Totenkopf», ergänzte Veronika.

«Das hat Mama alles nur erfunden», warf Christian ein.

«Ist das wahr, Mama?»

«Nein, aber heute weiss niemand mehr so genau, was passiert ist. Das alles ist schon so lange her. Es gibt verschiedene Legenden über den Totenkopfberg.»

«Was sind Legenden?»

«Das sind seltsame Geschichten von früher», versuchte Veronika zu erklären.

«Dann gibt es also noch andere Geschichten über den Totenkopf?»

«Na ja, vielleicht, aber ich kenne auch nicht alle.»

Veronika wusste natürlich, dass der Totenkopf vermutlich deshalb so hiess, weil hier einst Hinrichtungen stattgefunden hatten, die der Kaiser angeordnet hatte. Mehrere Männer waren hier oben enthauptet worden. Doch diese Geschichte wollte sie ihrer Tochter nicht zumuten. Zumindest nicht um diese Uhrzeit.

«Erzähl alle Geschichten, Mama», bettelte Janina.

«Der Totenkopf war ein Vulkan», meldete sich Christian nun zu Wort. «Er ist der höchste Berg des Kaiserstuhls. Das ist eine der wärmsten Gegenden Deutschlands wegen der Burgpf…, wegen der Bugu…»

«Wegen der Burgundischen Pforte, du Klugscheisser», ergänzte Andreas und lachte. «Und was ist die Burgundische Pforte?» Andreas blieb stehen und leuchtete seinem Sohn mit der Taschenlampe ins Gesicht.

«Das ist die … also da kommt der Wind aus dem Burgund zwischen dem Jura und den Vogesen hindurch. Und dieser Wind ist ganz warm.»

«Genau. Deshalb gibt es hier manchmal Warmlufteinbrüche», erklärte Andreas und ging dann weiter.

«Wo ist denn der grosse Mann vom Totenkopfberg hin, Mama?», wollte Janina nach wenigen Schritten wissen. «Und warum brennt das grosse Feuer nicht mehr?»

«Weil der Vulkan längst erloschen ist, du dummes Huhn», sagte Christian.

«Hey, hey!», mahnte Veronika. «Vielleicht ist der Mann auch einfach weggegangen und hat das Feuer mitgenommen.»

«Wie hat er das Feuer mitgenommen?», wollte Janina wissen.

Veronika antwortete nicht mehr. Sie war müde und ausgelaugt. Zwar war es ihre Idee gewesen, die Sommerferien daheim zu verbringen. Die Familie hatte eben erst ein Haus gekauft, die finanzielle Lage war deshalb etwas angespannt, und auf Billigferien irgendwo in einer schäbigen Ferienanlage hatte Veronika keine Lust gehabt. Mittlerweile war sie sich allerdings nicht mehr so sicher, ob der Heimurlaub ein guter Einfall gewesen war. Die Kinder jeden Tag auf Trab zu halten, war anstrengender, als einfach am Strand zu liegen. Jetzt freute sie sich sogar auf den Europapark in Rust, den sie in den nächsten Tagen besuchen wollten. Obwohl sie Freizeitparks hasste, wusste sie ganz genau, dass sie sich für ein, zwei Stunden irgendwohin setzen und ein Buch lesen könnte, während ihr Mann mit den Kindern die verrücktesten Achterbahnen hinuntersausen würde. Sie müsste sich in dieser Zeit keine Geschichten für ihre Tochter ausdenken und keine Antworten auf die naturwissenschaftlichen Fragen ihres Sohnes geben, die sie sowieso überforderten. Sie war zwar Lehrerin wie ihr Mann Andreas. Trotzdem fragte sich Veronika manchmal, ob sie als Eltern nicht zu dumm und zu phantasielos waren für ihren Nachwuchs.

Die Familie kam nun zu einem breiten Weg. Die Kinder schnappten sich die Taschenlampen ihrer Eltern und rannten voraus. Andreas und Veronika gaben sich die Hand.

«War doch ein toller Ausflug», sagte Andreas. «Christian war hin und weg von seinen Sternen und Sternschnuppen.»

«Schön. Ihr wart ja auch lange auf diesem Turm. Mir fiel keine sinnvolle Geschichte mehr ein, sorry. Aber Janina wollte noch eine und noch eine hören. Ich bin fix und fertig. Und es ist kalt. Und ich bin müde. Und überhaupt.»

Andreas umarmte seine Frau und gab ihr einen Kuss. Dann gingen sie eng umschlungen weiter.

«Hey, wartet auf uns!», rief Veronika den Kindern zu. Andreas und Veronika rannten zu ihnen. Dann liefen alle vier Hand in Hand weiter Richtung Oberrotweil.

Es war bereits kurz vor 1 Uhr, als sie eine kleine Wanderhütte erreichten. Janina wollte noch eine Geschichte hören und Christian wieder den Sternenhimmel beobachten. Doch die Eltern meinten, es sei nun wirklich spät und höchste Zeit, ins Bett zu kommen.

Der Weg führte durch die Rebberge, dann wieder in den Wald hinein. Das Zirpen der Grillen war zu hören. Und einige Geräusche und Laute aus dem Wald, deren Ursprung nicht eruierbar war.

Andreas, der mit der Taschenlampe vorausging, nahm den seltsamen Gestank als Erster wahr, sagte aber nichts.

«Du, Andy, riechst du das auch?», sagte kurz darauf seine Frau. «Da brennt es irgendwo.»

«Ja, da unten ist doch eine Feuerstelle», antwortete Andreas gelassen. «Ein paar Jugendliche feiern wohl eine Party.»

Von einer Party war allerdings nichts zu hören.

«Das ist doch keine Party, Andreas. Es riecht auch so seltsam. Ganz und gar nicht nach leckeren Grillwürsten.»

Drei Minuten später kamen sie aus dem Wald und sahen hinunter auf den kleinen Parkplatz, bei dem eine Grillstelle eingerichtet war. Tatsächlich brannte dort ein Feuer. Jugendliche waren nicht zu sehen. Auch keine Autos, Motor- oder Fahrräder.

«Seltsam», sagte Andreas und wies die Kinder an, da zu bleiben und nicht zu reden. Die Situation war ihm nicht geheuer.

«Schau, Mama, da ist doch das Feuer vom …»

«Pssst», machte Veronika und flüsterte ihrem Mann zu: «Wollen wir nicht einen anderen Weg nehmen?»

«Wird schon nichts sein», antwortete Andreas. «Sonst müssen wir das ganze Stück wieder zurück. Kommt, gehen wir einfach weiter.»

Nach einigen Schritten blieb Andreas stehen: «Riecht ihr das auch?»

«Was?», fragte seine Frau.

«Das riecht doch nach verbranntem Fleisch.»

«Ich würde sagen, es riecht vor allem nach verbrannten Haaren.»

Janina und Christian drückten fest die Hände der Eltern.

«Los, gehen wir weiter», flüsterte Andreas.

Das Feuer loderte. Funken stoben. Die Flammen waren gut ein, zwei Meter hoch. Die Familie erreichte die kleine Strasse. Die Feuerstelle lag etwa 20 Meter vor ihnen.

«Hallo, ist da jemand?», rief Andreas plötzlich und blieb erneut stehen.

Doch ausser dem Knistern des Feuers war nichts zu hören.

«Hallo, jemand da?»

Der Geruch nach verbranntem Fleisch und angesengten Haaren war jetzt sehr penetrant.

«Los, geht weiter, ich schau mal nach», sagte Andreas.

«Pass auf, Andy», mahnte seine Frau.

Veronika und die Kinder liefen rasch an der Feuerstelle vorbei und rechts hinunter der Strasse entlang Richtung Dorf. Andreas ging einige Schritte näher zum Feuer, rief nochmals laut, ob jemand da sei. Er überlegte sich, ob er das Feuer selbst löschen oder die Feuerwehr rufen sollte.

«Schon gut, ich bin da hinten», meldete sich plötzlich eine Männerstimme. «Gehen Sie einfach weiter. Ich habe das Feuer unter Kontrolle.»

«Was machen Sie hier, wo sind Sie?»

«Gehen Sie weiter, da ist nichts, ich übernachte hier und habe mir etwas grilliert.»

«Das riecht aber verbrannt. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Brauchen Sie …»

«Sie sollen endlich weitergehen, verdammt!»

Andreas starrte in die Richtung, aus der die Stimme kam, konnte aber niemanden entdecken. Das ist wohl kein Einheimischer, dachte er, denn der Typ spricht Hochdeutsch, nicht Dialekt.

«Wo sind Sie denn?», fragte Andreas laut.

«Hauen Sie ab!»

Plötzlich erkannte Andreas eine Gestalt. Obwohl es Hochsommer war, trug der Mann dicke Kleider, für Andreas sah es so aus, als stecke der Kerl in einem Skianzug mit Helm. Wohl eher ein Motorradfahrer, sagte sich Andreas. Wo hatte der denn seine Maschine?

«Haben Sie eine Panne mit ihrem Motorrad?»

Der Mann antwortete nicht.

Dann krachte ein Schuss.

Andreas rannte davon. Er spurtete zu seiner Familie und schrie: «Lauft! Lauft! Lauft!»

Ein zweiter Schuss knallte. Und ein dritter.

Dann waren nur noch die Schreie der Kinder zu hören.

Die Boulevard-Ratten

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