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Оглавление25. Dezember
CORVIGLIA, ST. MORITZ
Joël stand seit gut einer Stunde vor der Bergstation der Standseilbahn. Er trug einen neuen weissen Spyder-Skianzug mit einer grossen schwarzen Spinne auf dem Rücken und neue, weisse Salomon-Skischuhe. Dieses Outfit hatte ihn über 2000 Franken gekostet, was er sich eigentlich nicht leisten konnte. Doch Joël war sich bewusst, dass es zu seinem Job gehörte, mit den Schönen und Reichen einigermassen mitzuhalten, um nicht von Vornherein als Schmuddelfotograf abgetan zu werden.
Die neuen Stöckli-Ski hingegen waren gemietet. Joël hatte sie in den Skirechen gestellt, um frei vor der Bergstation herumlaufen zu können. An seinem Hals baumelte seine neue Nikon-Kamera D4 mit einem lichtstarken Zoom-Objektiv 24-70 mm. Darauf montiert hatte er das Blitzgerät, das er an einen externen, schweren Akku angeschlossen hatte. Diesen hatte er an einem Fotoharnisch festgemacht, den er unter seinem Skidress trug. So blieb der Akku auch einigermassen warm, denn bei dieser Kälte ginge ihm sonst schnell der Saft aus.
Joël hatte bisher 47 Bilder geschossen, die allerdings praktisch wertlos waren: einige hübsche Mädchen, die ihn angelächelt und um ein Foto gebeten hatten, und dabei ihre Jacken so weit geöffnet hatten, dass ihre vollen Busen deutlich unter den teuren Shirts zu erkennen gewesen waren. Sie hatten ihm ihre Mailadressen zugesteckt, und falls er daran dachte, würde er ihnen die Bilder auch schicken. Fotografiert hatte er die Girls nur, um sich die Zeit zu vertreiben und ein wenig zu flirten.
Joël wartete auf Prominente.
Dank seiner Beziehungen zu Hoteliers, Sportläden- und Boutique-Inhabern sowie Skilehrern – und vor allem Skilehrerinnen – wusste er ziemlich genau, wer Weihnachten und Neujahr in St. Moritz verbrachte. Es waren vor allem reiche Russen, Italiener und ganze Generationen von Deutschen. Es war bloss eine Frage der Zeit, wann sie ihm vor die Kamera laufen würden und er die Bilder an Fotoagenturen und Medien verkaufen könnte. Da sein Geschäft mit Prominenten im November und Anfang Dezember schlecht gelaufen war, musste er nun Umsatz machen.
Joël schaute besorgt zum Himmel. Es zogen immer mehr Wolken auf. Das passte ihm gar nicht. Denn der Durchschnitts-Promi war ein Schönwetter-Skifahrer. Und da es zudem minus 15 Grad kalt war und der Wind auffrischte, sank die Wahrscheinlichkeit, dass demnächst irgendwelche bekannte Leute aufkreuzen würden, noch mehr. Ausserdem kamen Schlechtwetter-Fotos bei den Illustrierten nicht gut an. Die Fotoredakteure verlangten in der Regel strahlende Gesichter unter strahlender Sonne und stahlblauem Himmel.
Da Joël zu frieren begann und es bald Mittag war, beschloss er, die diversen Restaurants, Schneebars und Skihütten abzuklappern. Vielleicht hatte er dort mehr Glück. Im Gourmetrestaurant «La Marmite» der Bergstation Corviglia sassen schon einige Gäste, allerdings nicht solche, die für Joël interessant waren. Giovanni, der Oberkellner und Joëls «Spion», meinte nur, alle Tische seien reserviert, und es lohne sich nicht, an der Bar zu warten, bis etwas frei würde. Hätte Giovanni gesagt, er solle doch einen Moment an der Bar warten, wäre dies für Joël das Zeichen gewesen, dass sich echte Promis angekündigt hatten.
Es war ein Spiel.
In der Alpina-Hütte, einem Clublokal neben der Bergstation, zu dem meistens nur geladene Gäste Zutritt haben, hatte Joël mehr Glück. Der Türsteher liess ihn herein und gewährte ihm fünf Minuten. Joël drückte ihm eine 50er-Note in die Hand und ging an die Wärme. Im Entree blieb er stehen und wartete. Aus dem Speisesaal drangen viele fröhliche, laute Stimmen. Doch Joël war nicht bereit. Denn wegen der hohen Luftfeuchtigkeit im Raum hatte sich die Linse seiner Nikon beschlagen. Joël musste das Objektiv mehrmals mit einem Tuch abwischen, aber die Linse lief immer wieder an. Er schaltete das Blitzgerät ein. Dann betrat er den Speisesaal.
Die Leute waren noch beim Apéro. Die Damen hielten Champagner-Gläser in der Hand und versuchten, in den klobigen Skischuhen einigermassen elegant dazustehen. Die meisten Herren tranken Weissbier und waren bereits ziemlich angeheitert.
Joël entdeckte Chris, einen seiner Skilehrer-Freunde: “Hey, was geht ab?»
«Ach, kleine Privatparty. Bin heute noch keinen Meter Ski gefahren. Die wollten gleich in die Hütte.» Chris war lieber Skilehrer als Promi-Betreuer. Aber das gehörte eben zum Geschäft.
«Wer sind denn die Leute?», fragte Joël, der kein einziges Gesicht erkannte.
«Der dort hinten», Chris zeigte auf einen älteren Mann, der einen knallgelben Pullover trug, «ist Franco. Franco Medina, Unternehmer aus Mailand.»
«Den kennt doch keine Sau.»
«Doch, in Italien schon.»
«Hast nichts Besseres zu bieten, Chris?», meinte Joël leicht säuerlich.
«Da ist Josefina, die war beim italienischen Fernsehen in einer Castingshow.»
«Das ist gut! Danke!»
Joël liess Chris stehen und kämpfte sich durch die schwatzenden Menschen zu Josefina, einer stark geschminkten, etwa 2ojährigen Blondine.
«Salute, Josefina, come va? Tutto bene?» Obwohl er diese Frau noch nie in seinem Leben gesehen hatte, schlug Joël gleich einen vertraulichen Ton an.
Der Trick funktionierte einmal mehr. Josefina fiel ihm um den Hals, Küsschen, Küsschen und dazu viel italienischer Text, den Joël zwar nicht verstand, aber so deutete, dass sie sich sehr freue, ihn wiederzusehen. Auf Englisch fragte er dann, ob er einige Fotos machen dürfe. Für die Zeitung, fügte er hinzu, allerdings ziemlich leise.
«Oh, yes, feel free!», antwortete Josefina und warf sich in Pose.
Joël reinigte nochmals die Linse, zielte und drückte ab. Danach stürmte Josefina zu dem Mann im gelben Pullover, Franco Medina, der offensichtlich ihr Papa war. Sie drückte sich an ihn und lächelte in die Kamera. Dann gesellte sich noch eine ältere Dame hinzu, hässlich geliftet und noch hässlicher geschminkt, und Joël drückte noch ein paar Mal ab.
«Grazie, Mama!», sagte Josefina zu der Dame und küsste sie. «Grazie, Papa!» Küsschen, Küsschen. Und auch für Joël gab es nochmals Küsschen.
Danach drängten sich bereits die nächsten Leute vor Joëls Kamera. Der Promi-Fotograf drückte ab, ohne noch irgendwelche Fragen zu stellen. Es spielte keine Rolle mehr, wen er fotografierte. Die italienischen Gazetten kennen die Leute schon, dachte er sich. Zudem kann ich die Fotos Franco Medina sicher direkt verkaufen.
Als Franco in die Hände klatschte und zu Tisch bat, war für Joël klar, dass es Zeit war, einen Abgang zu machen. Als Profi wusste er, wann dieser Moment gekommen war – bevor er den Leuten auf die Nerven ging.
Als er wieder draussen war, checkte er kurz die Fotos im Kameradisplay und war zufrieden. Der Anfang war gemacht. Er packte seine Ski, liess sie in den Schnee fallen und stieg in die Bindung. Dann fuhr er hinunter nach Marguns, einem weiteren Hotspot des St. Moritzer Skigebiets. Dort war promimässig aber gar nichts los. Auch in den übrigen Skihütten wurde er nicht fündig. Es war Weihnachten und dazu schlechtes Wetter, er konnte also froh sein, überhaupt etwas fotografiert zu haben.
Joël beschloss, die Promijagd abzubrechen und noch ein bisschen Ski zu fahren. Er verstaute die Kamera im Foto-Rucksack der Marke Think Tank, schaukelte mit dem Sessellift wieder zur Corviglia hoch und bestieg nach kurzer Abfahrt die Luftseilbahn zum Piz Nair. Er liebte diesen Berg. Da es ausser Wolken heute nichts zu sehen gab, fuhren lediglich zwei weitere Skifahrer mit ihm hoch. Es waren Deutsche. Der eine textete den anderen regelrecht zu, erklärte ihm, dass hier die Ski-Weltmeisterschaften 2003 stattgefunden hätten und sicher wieder einmal stattfänden, vielleicht sogar die Olympischen Spiele. Ach nein, die kämen ja nicht in Frage, das Volk habe diesen Grossanlass in einer Abstimmung abgelehnt. Diese Schweizer seien doch verrückt, diese Spiele nicht haben zu wollen. Jetzt, hier, hier müsse er gucken, hier sei der wahnsinnig steile Start der Herrenabfahrt: «Siehst du, da, nein, hinter dem Felsen, pass auf, ja genau, irre was?»
Joël nervte sich.
Dann erzählte der Typ, dass er damals während der WM für den Deutschen Skiverband gearbeitet habe und für die ganze Logistik und Sicherheit zuständig gewesen sei.
Joël spitzte die Ohren.
Er näherte sich den beiden und tat so, als schaute er zum Fenster hinaus, versuchte aber, die beiden Typen genauer zu betrachten. Der Kerl, der ununterbrochen geredet hatte, schwieg nun und musterte Joël. Danach wandte er sich wieder seinem Kollegen zu und meinte, das Wetter werde immer schlechter, und es bestehe kaum noch Hoffnung auf Sonne.
Joël bemerkte, dass der, der praktisch nichts gesagt hatte, ziemlich gut versteckt unter Helm und Jacke einen Knopf im rechten Ohr trug, das Kabel dazu verschwand hinten im Kragen.
Joël ging auf die andere Seite der Gondel, drehte den beiden den Rücken zu und holte seine Kamera aus dem Rucksack. Er zurrte seine Skijacke auf, hängte sich die Kamera um den Hals und schloss den Anzug wieder.
Er war jetzt kein Skitourist mehr, sondern wieder Reporter.
GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
«Hey, Lucky», sagte Myrta und wartete gespannt auf Martins Reaktion. Sie hatte ihr iPhone am Ohr und lief damit humpelnd in ihrem alten Mädchenzimmer auf und ab.
«Hey, Jolly Jumper», antwortete Martin.
Myrta musste lachen und freute sich, dass Martin ihren Scherz parierte.
«Ich habe deine Telefonnummer unter ‹Lucky Luke› gespeichert, ich hoffe, das ist okay für dich.»
«Deine Nummer finde ich unter M & M, Myrta und Mysti, oder wie die Schokobonbons.»
«Oh, wie süss …» Sie kicherte. Unterdrückte das aber schnell wieder, weil sie es teenagermässig fand. Sie strich sich durch ihr kurzes, dunkelblondes Haar. «Hast du Lust auf einen Spaziergang?»
«Ja, warum nicht», erwiderte Martin.
Falsche Antwort, dachte Myrta.
«Sehr gerne, wollte ich sagen», fügte Martin hinzu.
Myrta schmunzelte. «Gut, holst mich ab? Jetzt?»
“Okay!”
«Bye, Lucky.»
«Bye, Jolly.»
Sie warf das Handy auf die Kleider in ihrem Koffer und sagte leise vor sich hin: «Was mache ich da?» Dann legte sie sich aufs Bett, ihr altes Mädchenbett, und kuschelte sich an ihr Plüschpferd Black Beauty. Es war genauso schwarz wie Mysti, aber noch einige Jahre älter. Es lag immer da, auch wenn sie wochenlang nicht hier war. Ihre Gedanken flogen zurück in ihre Kindheit, sie erinnerte sich an all die Weihnachtsfeiern, die immer so schön gewesen waren.
Auch der diesjährige Heiligabend im Hause Tennemann war mehr oder weniger harmonisch verlaufen. Natürlich hatte Myrta lange Zeit wegen ihres Reitunfalls im Mittelpunkt gestanden. Alle hatten sich um sie kümmern wollen. Christa, die Frau von Myrtas Bruder Leon, untersuchte ihr Knie, konnte aber keine ernsthafte Verletzung feststellen. Damit gaben sich alle zufrieden, denn Christa war Ärztin. Allerdings nicht mehr praktizierend. Sie war Radio- und TV-Ärztin beim Schweizer Radio und Fernsehen. Und Mutter von zwei Kindern. Myrta mochte weder Christa noch die Kinder. Dafür ihren Bruder umso mehr.
Nachdem Martin Myrta und Mystery of the Night nach Hause gebracht hatte, war er kurz in seine Wohnung gegangen und hatte sich in Schale geworfen. Dass der einstige Dorfdepp Lucky Luke ein äusserst gutaussehender Mann mit dichtem schwarzem Haar und ebensolchen Augenbrauen geworden war, stellte Myrta sofort fest. Beruflich hatte sie zwar dauernd mit schönen Menschen zu tun. Was ihr aber besonders auffiel, waren Martins Hände. Sie waren nicht nur schön, sondern männlich. Dicke Adern, knochig, ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln. Myrta fand das sexy.
Die spontane Einladung fanden alle Tennemanns okay bis auf Christa, die lange mit grimmiger Miene ihrer Schwiegermutter auf Schritt und Tritt nachgelaufen und ziemlich penetrant – wie Myrta fand – versucht hatte, sich nützlich zu machen. Zudem quatschte sie dauernd über wissenschaftliche Dinge, um sich einzuschleimen. Doch weder Herr Professor Tennemann noch Frau Doktor Tennemann hatten Lust, an Heiligabend intellektuelle Gespräche zu führen. Die kleine Schwester Leandra hingegen bedrängte Myrta dauernd mit Fragen, flüsternd natürlich, was die Sache mit Martin zu bedeuten habe. Martin war äusserst souverän, selbst dann, als Papa Tennemann beim ersten Glas Champagner Duzis machte und sich mit Paul vorstellte. Mama Tennemann grinste verlegen, sagte beim Anstossen, sie sei die Eva, und wünschte Martin ein frohes Weihnachtsfest. Die etwas peinliche Situation wurde durch Christas und Leons Kinder entschärft, weil sie gerade dabei waren, der Tennemann’schen Katze Softie die bunt geschmückte Weihnachtstanne als Kletterbaum beliebt zu machen.
Der Abend wurde mit vielen Geschenken für die Kinder und reichlich Cognac für die Erwachsenen ausgeläutet. Als Martin nach Hause ging, verabschiedete er sich etwas übertrieben dankbar von Eva und Paul Tennemann, schüchtern von Leandra, Leon und Christa. Myrta begleitete ihn zu seinem Range Rover älteren Jahrgangs. Sie tauschten die Handy-Nummern aus und küssten sich rechts-links-rechts auf die Wangen.
Erst danach versuchte Myrta, an den selbstgebastelten Geschenken der beiden Kinder ihres Bruders Freude zu zeigen: eine miserable Zeichnung eines Pferdes und eine total verkrüppelte Kerze aus Bienenwachs. Bevor sie schlafen ging, checkte sie ihre Mails und SMS. Tatsächlich hatte sie auch von Bernd, ihrem ewigen Fast-Freund, eine Mitteilung erhalten. Er hatte über WhatsApp geschrieben: «Wünsche Dir eine schöne Heilige Nacht. Denke an Dich.»
«Ich sollte mich bereit machen», sagte Myrta nun und riss sich aus den Gedanken. Schnell stand sie auf und legte Black Beauty sorgfältig auf ihr Kopfkissen. Dann kauerte sie vor ihren Rollkoffer und überlegte, was sie für den Spaziergang mit Martin anziehen sollte. Da entdeckte sie Bernds Geschenk, das er ihr beim letzten Rendezvous in Köln überreicht hatte. Sie löste das silberne Band und riss das rote Papier weg. Zum Vorschein kam eine Schmuckbox, darin lag eine Perlenkette. Sie schloss die Box und legte sie in den Koffer zurück. Dann zog sie enge Jeans und eine rot-orange-farbene Strickjacke von Tulchan an. Myrta betrachtete sich im Spiegel. Sie erkannte eine junge Frau im englischen Landleben-Look, Rosamunde-Pilcher-Style, unschuldig und trotzdem ein bisschen verrucht-sexy, da die Strickjacke genau auf Po-Höhe endete. Myrta wuschelte sich die Haare, lächelte.
Sie war zufrieden.
BERGSTATION PIZ NAIR, ST. MORITZ
Die beiden Skifahrer, die mit Joël in der Gondel auf den Piz Nair hochgefahren waren, verliessen die Bergstation schnell, stiegen in ihre Bindungen und fuhren gleich los. Joël folgte ihnen mit einem gewissen Abstand. Nach kurzer Fahrt erreichten die beiden das Bergrestaurant Lej da la Pêsch. Sie hielten an, zogen die Ski aus und schauten zurück zum Berg, wo Joël wartete. Dann traten sie in die Hütte.
Joël flitzte am Restaurant vorbei zum Sessellift. Die Fahrt dauerte nur einige Minuten. Es war verdammt kalt. Es schneite, der Wind blies heftig, was sich im Gesicht wie Nadelstiche anfühlte. Oben angekommen, raste Joël die Piste hinunter, bis er einen Ort fand, von wo aus er die Berghütte sehen konnte. Dank seines weissen Spyder-Skianzugs war Joël gut getarnt. Er löste die Ski, legte sie in den Schnee, setzte sich darauf und wartete.
Nach rund 15 Minuten erschienen die beiden Deutschen, montierten ihre Bretter und bewegten sich langsam Richtung Sessellift. Joël wartete noch einen Augenblick, dann sauste er zur Hütte.
Viele Leute waren nicht drin. Ein paar Skifahrer in der hinteren linken Ecke, eine Familie mit drei Kindern in der rechten und ein Pärchen vorne rechts. Joël setzte sich an einen Tisch in der Mitte des Raums und bestellte bei einer jungen Kellnerin eine Ovomaltine.
Er beobachtete die Herrenrunde. Sie sprachen Hochdeutsch. Einer allerdings so holprig, dass man klar den Bündner Dialekt heraushören konnte. Er trug einen Skilehreranzug, doch Joël kannte ihn nicht. Er kannte zwar viele Skilehrerinnen und Skilehrer, aber eher die jungen. Dieser war um die 60, schätzte Joël. Er entsprach dem Klischee des Pistenhelden: braungebrannt mit dunklen, buschigen Augenbrauen, schneeweissen Zähnen.
Die Familie am anderen Tisch redete italienisch. Und das Pärchen konnte er nicht verstehen, es war zu weit weg. Die Herrenrunde und die Familie schienen dem Promi-Fotografen uninteressant. Blieb nur das Pärchen.
Er stand auf und ging Richtung Ausgang. Er schielte nach links. Den Mann sah er nur von hinten. Da Joël wegen seiner Skischuhe ziemlich Krach machte, schaute die Frau zu ihm hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Es dauerte eine Sekunde, dann schauten beide weg. Joël hatte diesen Moment festgehalten, er hatte ihn mit seinen Augen «fotografiert».
«Suchen Sie die Toilette?», fragte die Kellnerin, die gerade aus der Küche kam.
«Ähm, ja …»
«Die ist draussen.»
Er musste um die Hütte herum und eine Schneetreppe nach unten gehen. Dann, gleich neben der Piste, sah er zwei Türen; auf der einen war ein Steinbock abgebildet, auf der anderen eine Geiss. Er wählte die Türe mit dem Bock. Als er am Pissoir stand, ging er das Bild, das er vorher im Restaurant von der jungen Frau gespeichert hatte, im Detail durch. Grüne Augen, helle Pupillen, dezenter Lidschatten. Junges, hübsches Gesicht, markante Wangenknochen, gerade Nase, sehr glatte Haut. Schmale Lippen, ungeschminkt. Dunkelbraune, lockige, schulterlange Haare, mehrheitlich bedeckt durch eine blaue Wollmütze, Marke unbekannt. Weisse Fleecejacke mit glitzernden Sternchen, vermutlich Swarovski-Steine, teuer. Daneben auf der Bank eine silbrige Daunenjacke mit schwarzem Innenfutter von Bogner. Die junge Frau trank Weisswein. Sie sah glücklich aus. Verliebt? Vielleicht.
«Aber völlig unbekannt», flüsterte Joël, hämmerte mit dem rechten Skischuh auf die Spülung, wusch sich die Hände und ging wieder Richtung Gaststube.
«War wohl nix», sagte er sich. Die beiden Bodyguards waren vermutlich gar keine, und der Typ mit dem Knopf im Ohr und dem geringelten Kabel hatte vielleicht nur ein Spezialmodell eines Smartphone-Kopfhörers.
Joël betrat die warme Stube und «fotografierte» nun den Mann, der ihn allerdings nicht anschaute, sondern sich auf die Frau konzentrierte. Joëls Blick wurde abgelenkt, weil der Mann die Hände der Frau hielt. Er hatte behaarte, schöne Hände, feingliedrig, sauber, gepflegt. Sie hatte lange, schlanke, äusserst attraktive Hände, die Nägel rosa-schimmernd lackiert, ein bisschen unpassend.
Joël musste seinen Gang verlangsamen, um sich das Gesicht des Mannes einzuprägen. Als er nahe genug war, machte es in seinem Gehirn «klick» – Bild gespeichert.
Einen Sekundenbruchteil später spürte er, wie sein Magen, seine Brust und sein Hals zuckten und sich zusammenzogen.
AUF EINEM FELDWEG BEIM ANDWILER MOOS
Sie schlenderten durch das Schneetreiben und sprachen vorwiegend über die letzten zehn, fünfzehn Jahre. So lange hatten sich Myrta und Martin nämlich nicht mehr gesehen. Nachdem Martin in groben Zügen seinen Lebenslauf erzählt hatte – Ausbildung zum Landwirtschaftsmechaniker, zwei Jahre Lastwagenfahrer, Fachhochschule, Übernahme des elterlichen Bauernhofes –, fragte ihn Myrta nach dem Verbleib der anderen Kinder aus dem Ort. Martins kurze Schilderungen lösten bei Myrta immer wieder ein «Nein sowas!» oder ein «Das gibt es ja nicht!» oder einfach nur «Was, die ist schon dreifache Mutter!» aus. Wirklich Erstaunliches oder Verrücktes wusste Martin aber nicht zu erzählen.
«Und du, Myrta? Immer noch beim Fernsehen?», wollte Martin schliesslich wissen.
«Nein», antwortete Myrta kurz angebunden. «Nein, nein.»
«Aber du warst doch bei RTL …»
«Ja, hast mich mal gesehen?»
«Klar. Das war toll.»
«Ja, war es. Aber jetzt bin ich wieder in der Schweiz.»
«Schweizer Fernsehen?»
«Oh mein Gott, nein!»
Da Martin nicht nachfragte, was Myrtas Reaktion «Oh mein Gott!” bedeuten sollte, schwiegen sie einen Moment. Martin verstand nichts vom Fernsehen, und wahrscheinlich interessierte es ihn auch nicht besonders. Myrta überlegte deshalb, was sie dem einstigen Nachbarsbub, der damals als schräger, verschrobener Typ gegolten hatte, erzählen sollte. Sie wollte nicht überheblich klingen. Schliesslich hatte sie in ihrem Leben schon so viel Erfolg gehabt und schon so viel Geld verdient, dass Martin neidisch werden konnte. Davon ging sie jedenfalls aus.
«Ich bin jetzt Chefredakteurin der ‹Schweizer Presse›.»
«Was, tatsächlich? Toll!»
«Kennst du denn das Blatt?»
«Natürlich. Meine Eltern haben es immer noch abonniert. Aber ehrlich gesagt, lese ich es nicht so oft.»
«Weil du meinst, es sei immer noch ein Klatschheftli!»
«Ist es ja auch …»
«Hey, Lucky Luke, du bist immer noch der gleiche Vollpfosten wie damals», fiel Myrta ihm ins Wort, sie bückte sich und lud Schnee auf, den sie gegen Martin schleuderte. Dieser konnte aber ausweichen und griff nun seinerseits ins Weiss. Myrta rannte davon. Die kurze Schneeballschlacht endete damit, dass Martin ausrutschte. Er blieb auf dem Rücken liegen, und Myrta kniete sich neben ihn, um ihn zünftig einzuseifen. Dann liess sie sich neben ihn fallen. Sie spürte Martins Körper.
Es schneite noch immer.
«Deinem Knie scheint es ja wieder gut zu gehen», sagte Martin, nachdem er sich den Schnee aus dem Gesicht gewischt hatte.
Myrta hatte den gestrigen Reitunfall längst vergessen. Erst jetzt kam er ihr wieder in den Sinn. Und auch die seltsame Erscheinung des Sensenmanns.
«Sag mal, was hast du gestern eigentlich da draussen getrieben?», fragte Myrta. «Warum warst du plötzlich zur Stelle?»
«Ich war auf dem Heimweg vom Holzen. Warum fragst du?»
Myrta überlegte kurz, ob sie ihm ihr seltsames Erlebnis erzählen sollte. «Ach nichts. Ein glücklicher Zufall. Vielen Dank nochmals, dass du mir geholfen hast.»
Sie schwiegen. Beide lagen auf dem Rücken und liessen sich die Schneeflocken aufs Gesicht fallen.
«Hast du kalt?», fragte Martin nach einer Weile und schaute Myrta an.
«Nein.»
«Geht es dir gut?»
Myrta schaute den Schneeflocken zu, die auf sie zufielen. «Im Moment geht es mir sehr gut», sagte sie.
Sie drehte sich zu Martin, legte die Hand auf seine Brust und schaute ihm in die grossen, dunkelbraunen Augen. An seinen Brauen hingen winzige Schneeflöckchen.
BERGRESTAURANT LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ.
Dort hinten sass also Luis Battista, der Schweizer Wirtschaftsminister, mit einer attraktiven Frau und hielt Händchen. Joël war sich sicher, dass es nicht Battistas Ehefrau war. Er hatte zwar weder Battista noch dessen Gattin je live gesehen, weil der Bundesrat und seine Familie aber häufig im Fernsehen und in Magazinen erschienen, kannte Joël sie bestens. Sie waren beide um die 40, hatten drei kleine Kinder und schienen die perfekte Familie abzugeben. Sie kamen aus Reinach, einer typischen Agglomerationsgemeinde von Basel. Battistas Wahl in das höchste politische Amt war eine für Schweizer Verhältnisse unglaubliche Glamour-Story: Der smarte Mann mit dem rabenschwarzen Haar und Grübchen in den Wangen galt als Hoffnungsträger, stand für eine neue und moderne Politikergeneration. Von den Boulevardmedien wurde er auch als John F. Kennedy oder Barack Obama der Schweiz tituliert.
Wenn Joël nun ein paar Bilder schiessen könnte, würde er locker ein paar tausend Franken verdienen. Er müsste es nur richtig anstellen und mit den verschiedenen Bildredakteuren geschickt verhandeln. Immerhin sass ein Politstar mit seiner Geliebten fast unmittelbar vor Joëls Linse. Joël müsste nur noch abdrücken.
Schade, dass es kein deutscher Politiker war, der würde ihm mehr einbringen. Viel mehr.
Joël ging auf Nummer sicher und liess seine Kamera erst mal unter seiner Jacke. Dafür nahm er das iPhone hervor und tat so, als würde er simsen, Mails checken oder auf Facebook surfen. Er wählte allerdings das Fotoprogramm und knipste unauffällig das Paar. Da Joël das künstlich erzeugte Kameraklicken ausgeschaltet hatte, war nichts zu hören. Er kontrollierte die Bilder und musste einsehen, dass er damit nicht das grosse Geld machen konnte: Battista war nur von hinten zu sehen, die Frau zwar von vorne, aber auch nicht gerade superscharf. Am besten waren die Swarovski-Steine auf ihrer Jacke zu erkennen. Aber immerhin hatte Joël schon mal etwas im Kasten. Und die beiden hatten nichts bemerkt. Er konnte also einen Schritt weitergehen.
Joël stand auf und schlenderte Richtung Theke, als suche er etwas. Als er von der Kellnerin angesprochen wurde, fragte er, ob sie Sonnencrème hätten. Die Kellnerin reichte ihm ein Körbchen mit kleinen Tuben und bemerkte, man müsse sich auch eincremen, wenn die Sonne nicht scheine. So wie heute.
Joël wühlte im Körbchen, holte sein Handy hervor, drehte sich um, Richtung Bundesrat Battista und der Frau, und tat so, als sehe er nicht richtig, was im Körbchen lag, und suche mehr Licht. Dabei hielt er das iPhone so, dass die Linse Richtung Battista zeigte, und drückte ein paar Mal auf den Auslöser.
Er angelte sich eine Tube Sonnencrème und wandte sich wieder der Kellnerin zu: «Danke, diese nehme ich!»
Er setzte sich, schmierte sein Gesicht mit dem Sonnenschutzmittel ein und kontrollierte danach seine neuen Aufnahmen. Eindeutig besser. Battista erkennbar, die Frau auch – sogar, dass sie Händchen hielten. Aber schlechte Bildqualität, unscharf, verwackelt.
Nun holte er seine Kamera aus der Jacke, putzte sie gründlich und legte sie dann auf den Tisch, so dass die Linse direkt auf das Paar gerichtet war. Sein Plan war, auf diese Weise noch einige Fotos zu machen und dann direkt auf den Bundesrat zuzugehen und ihn zu fragen. In der Schweiz waren Politiker immer noch gewöhnliche Menschen, die man in der Regel einfach anquatschen konnte. Ob dies unter den pikanten Umständen allerdings funktionieren würde, da war sich Joël nicht so sicher, deshalb machte er zuerst auf Paparazzo. Er unterlegte die Kamera mit einigen Bierdeckeln, um einen besseren Ausschnitt zu bekommen. Als er zum ersten Mal abdrücken wollte, stand plötzlich ein Mann vor seinem Tisch und verdeckte ihm die Sicht.
Joël erschrak, denn er hatte sich so auf seine Kamera und das Pärchen konzentriert, dass er nicht mitbekommen hatte, was sonst um ihn herum passiert war.
«Allegra», brummte der Mann. «Was gibt denn das?» Es war der Skilehrer mit dem braungebrannten Gesicht und den buschigen Augenbrauen vom Nebentisch, den Joël nicht kannte.
«Ähm, nichts …» stotterte Joël.
«Nichts? Dann ist ja gut.»
Der Kerl schaute zu den anderen Männern am Nebentisch. Sind das Bodyguards, Polizisten?, fragte sich Joël. Das kann nicht sein! Ein Bundesrat braucht das doch nicht. Und die beiden anderen Kerle aus der Gondelbahn, der eine mit dem Knopf im Ohr?
«Sind Sie Polizist? Und wenn ja, was ist los?», fragte Joël und kicherte verlegen.
«Nein, CIA!», sagte der Typ mit finsterer Miene. Doch dann lachte er und liess seine schneeweissen Zähne blitzen. Auch die anderen Männer grinsten. «Nein, kein Problem», meinte der Mann weiter. «Einfach keine Fotos machen, das ist privat hier, okay?»
«Ach, warum …»
Ob es okay sei, wiederholte der Kerl nun forsch.
«Hey, klar!», sagte Joël sofort und packte seine Kamera demonstrativ weg.
Er zahlte und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Bundesrat Battista drehte sich kurz zu ihm um. Sie schauten sich in die Augen. Joël lächelte ihn an und murmelte: «Allegra.»
Äusserlich schien Joël ganz ruhig. Innerlich kochte er. Erst als er auf dem Sessellift war und schon einige Meter hochgefahren war, brüllte er in den Wind und den Schnee hinaus: «Scheisse!»
REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Martin hatte Myrta zu einem Tee eingeladen und servierte nun Champagner. Taittinger.
«Warum Taittinger?», wollte Myrta wissen.
«Keine Ahnung, fand den Namen irgendwie kurios für einen Champagner.»
«Wie bitte?»
«Taittinger klingt doch eher nach Bier, oder? Herb, stramm, deutsch!»
«Also bitte! Taittinger ist ein wundervoller Champagner aus Frankreich, das Gut gehört immer noch der Familie beziehungsweise es gehört ihr wieder, nachdem die Marke erst verkauft und dann mit grossem Tamtam wieder zurückgekauft worden ist.»
«Oha. Taittinger klingt nicht besonders franz…»
«Die Familie stammt ursprünglich aus dem Elsass.»
«Tja, da weisst du mehr als ich.»
«Ich bin die People-Tante, nicht du.»
«Ja, ich bin der Rossknecht …» Martin lächelte.
Myrta lächelte auch. Und dachte: Wie süss! Und: Er hat schöne weisse Zähne.
Der einstige Dorftrottel Lucky Luke war gerade dabei, Myrtas Herz zu erobern. Sie war sich zwar bewusst, dass sie schnell Feuer und Flamme für jemanden sein konnte und sich ruckzuck verliebte. Deshalb hatte sie nur zögerlich die Einladung angenommen, nach der Schneeballschlacht bei Martin einen Tee zu trinken. Da sie ein heruntergekommenes Bauernhaus mit einem muffigen Stall erwartet hatte, schlug ihr Puls beim Anblick des «Reiterhofs Sitter» so heftig, dass sie ihn in der Halsschlagader spürte. Vor dem Hof standen zwei Range Rovers, ein Mercedes, ein BMW und je ein Luxusmodell von Kia und Subaru. Myrta kannte sich mit Autos aus: Ihre journalistische Karriere hatte schliesslich bei einer Autosendung begonnen.
Von aussen sah der Bauernhof immer noch gleich aus wie früher: spitzes Dach, uralte graue Schindelfassade, graue Fensterläden. Die Fenster hingegen waren neu. Innen war alles modern, helles Holz, kleine Spots an der Decke, Möbel aus Eisen und Stahl. Keine Blumen, keine Deko, relativ kühl. Geschmacklos, fand Myrta, typischer Männerhaushalt, allerdings aufgeräumt und sauber.
Martin erzählte ihr, er habe den Hof seiner Eltern total umgekrempelt. Aus dem einstigen Landwirtschaftsbetrieb mit Milch- und Fleischwirtschaft habe er einen Reiterhof gemacht. Am meisten Umsatz erziele er mit der Pferdepension und dem Pferdeleasing. Eine kleine Reitschule, einige Ponys für die Kinder und noch ein bisschen Ackerbau für das Futter würden den Betrieb komplettieren.
Myrta wünschte sich eine Führung, fragte aber erst, wo das Bad sei.
Das war ihr persönlicher Lackmustest: Klo sauber, Lavabo glänzend, Spiegel mit mehreren kleinen Zahnpastapunkten unten rechts. Der kleine Schrank dahinter aufgeräumt. Gillette-Rasierer, Migros-Budget-Rasierschaum, After-Shave-Balsam von Nivea, Eau de Toilette von Paco Rabanne. Na ja, dachte Myrta. Daneben Zahnpasta aus der Migros. Und eine Zahnbürste. Eine.
Myrta registrierte dies erfreut.
Sie schloss den Schrank und prüfte sich im Spiegel. Sie war kaum geschminkt. Ihre grossen dunkelbraunen Augen kamen trotzdem wunderbar zur Geltung. Sie strich sich über die kurzen Haare. Danach rückte sie ihren ziemlich üppigen Busen im Büstenhalter zurecht, zupfte ein paar Mal an der rot-orangen Jacke und ging zurück zu Martin.
«Du hast gar keinen Weihnachtsbaum», sagte sie. «Das fällt mir erst jetzt auf.»
«Ach, das brauch ich nicht. Weihnachten findet bei mir im Stall statt.»
Wow, wie romantisch, Myrta lächelte, strahlte Martin an.
«Hey, was grinst du jetzt so dämlich?»
«Vollpfosten, ich lächle dich an», erwiderte Myrta und ergriff Martins Hand. «Los, zeig mir die Pferde!»
BERGSTATION LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
Warten.
Joël hockte in seinem weissen Anzug im Schnee und wartete. Er hielt seine Kamera bereit. Er hatte nun das 600-mm-Objektiv von Nikon mit Bildstabilisator montiert. Ein sündhaft teures Teil, über 10000 Franken. Aber unabdingbar für Paparazzo-Einsätze.
Er fror. Wenn Bundesrat Battista mit der unbekannten Frau hochfuhr, schwebten sie praktisch an ihm vorbei. Und der Minister musste hier vorbeikommen. Es war die einzige Möglichkeit, um überhaupt von hier wegzukommen. Bei allem Pech: Immerhin dies sollte klappen.
Joël sah das Foto bereits vor sich: Battista kuschelnd mit der unbekannten Lady. Obwohl es Vierersessel waren, war sich Joël sicher, dass die beiden nur zu zweit hochfahren würden. Um zu knutschen. Was ihn hingegen störte, war, dass die Sessel mit Sturmhauben aus Plexiglas ausgestattet waren, damit die Fahrgäste vor Wind geschützt waren. Aber das konnte er nicht ändern, und schliesslich musste er mit dem Bild keinen Fotopreis gewinnen, sondern nur die beiden Köpfe erkennbar drauf haben, am besten küssend. Es ging nicht um Kunst, sondern um Geld.
Das Wetter wurde schlechter, der Schneefall und der Wind nahmen zu, und es war bereits 15.30 Uhr. Das bedeutete in dieser Jahreszeit Dämmerung – fototechnisch fast schon Nacht. Sessel um Sessel gondelte vorbei. Alle leer. Joëls Aufgabe wurde nicht einfacher.
Gut zehn Minuten später sah Joël mehrere mit Personen besetzte Sessel. Das mussten sie sein. Erst kamen zwei dunkel gewandete Männer. Dann der Skilehrer, der ihn angequatscht hatte. Neben ihm die Frau in der silbrigen Daunenjacke von Bogner. «Shit», murmelte Joël und drückte auf den Auslöser. «Shit. Warum sitzen die Idioten nicht zusammen!?»
Dahinter Bundesrat Battista mit Helm und grosser Skibrille mit gelben Gläsern. Klick. Klick. Neben ihm ein Mann in schwarzem Skianzug. «Shit!»
Mit Tempo Teufel raste Joël zur Talstation des Sessellifts. Vielleicht konnte er die Gruppe noch verfolgen.
Da keine Leute am Sessellift anstanden, hangelte er sich flugs zum Einsteigebereich vor und machte sich bereit zum Aufsitzen. Plötzlich rauschten zwei Typen heran, stellten sich links und rechts neben ihn und hockten sich auf den gleichen Sessel wie Joël. Der Sicherheitsbügel schloss sich, ebenso die Sturmhaube.
«Habt ihr es pressant?», sagte Joël verärgert. «Der Witz an einer solchen Anlage ist, dass alle paar Sekunden ein freier Sessel kommt!»
Die Typen reagierten nicht.
Joël schaute den Kerl links neben sich an.
Er hatte einen Knopf im Ohr.
REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Tatsächlich war der Stall mit Tannenästen geschmückt, ein Weihnachtsbaum war plaziert, und überall leuchteten elektrische Kerzen. Die Pferde in den Boxen bekamen gerade von einem Mitarbeiter Heu. In der Mitte des Stalls befand sich ein weiss gekachelter Raum mit mehreren Wasserschläuchen. «Das ist unsere Pferdedusche», erklärte Martin. Daneben ein Raum mit einer Solarium-ähnlichen Installation. «Und das ist der Trockner für die Pferde.» Und noch ein Stück weiter ein Raum mit einem überdimensionierten Laufband, auf dem ein Pferd trabte. «Das wäre dann unser Fitnesscenter!»
Dann kamen wieder Pferdeboxen. Myrta blieb stehen, streichelte dieses und jenes Pferd und fragte Martin: «Welches ist dein Lieblingspferd?»
«Mystery of the Night», antwortete Martin, ohne zu zögern.
SESSELLIFT LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
Joël war es mulmig zumute. Seine beiden Begleiter auf dem Sessellift waren die beiden, die schon in der grossen Gondel mit ihm hinauf zum Piz Nair gefahren waren. Da das Wetter nun wirklich schlecht war, waren sie drei die einzigen Skifahrer, die noch unterwegs waren.
Warum müssen diese beiden ausgerechnet mit mir zusammen hochfahren?, fragte sich Joël. Das kann doch kein Zufall sein.
«Das Wetter hat umgeschlagen», sagte Joël und hoffte, die beiden würden sich auf einen sesselliftüblichen Small-Talk einlassen und sich dabei als ganz normale Touristen entpuppen. Doch keiner von beiden antwortete.
Der Wind pfiff. Der Sessel schaukelte. Schneeflocken klatschten gegen die Sturmhaube.
Der Typ rechts neben ihm zog den rechten Handschuh aus, ballte die Hand zur Faust.
Der Schlag traf Joël mitten auf die Nase. Es knackste. Joël schrie auf, spürte Blut auf den Lippen, sah alles nur noch verschwommen. Das Bild wurde in Tausende einzelne Punkt aufgeteilt, die in rascher Folge aufleuchteten und erloschen, es verfinsterte sich vom Rand her, schliesslich wurde es ganz schwarz.
Joël spürte, wie die beiden Kerle an ihm herumfummelten. Er hörte, wie die Sturmhaube geöffnet wurde. Seine Beine mit den Skischuhen und den Skis wurden vom Sicherheitsbügel des Sessellifts gezerrt. Er wehrte sich, schlug mit den Armen um sich.
Den nächsten, heftigen Schlag spürte er zwar noch.
Dann aber nichts mehr.
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Als Myrta ihr Handy checkte, sah sie, dass es bereits 18.04 Uhr war. «Himmel, schon so spät», sagte sie leise.
Sie sah auch, dass sie fünf Anrufe in Abwesenheit erhalten hatte. Drei waren von Bernd. «Die Alte am Kochen und die Kids am Fernseh gucken», murmelte Myrta.
Der vierte Anruf stammte von ihrer Mutter. «Ja, Mama, ich lebe noch, und ich bin um 20 Uhr zu Hause.»
Der fünfte war von Joël. «Was will der denn?», sagte Myrta laut. So laut, dass es Martin hörte, der gerade in die Küche gegangen war, um eine zweite Flasche Champagner zu holen. Myrta war zwar schon etwas beschwipst, aber das war ihr im Augenblick egal.
«Was hast du gesagt?», fragte Martin, als er zurückkam.
«nichts. Doch. Joël hat mich angerufen.»
«Joël?»
«Lange Geschichte. Ein Ex-Freund. Nein, ein Freund, aber auch ein Ex. Oder so. Ich ruf ihn schnell zurück, sorry.»
Myrta wählte Joëls Nummer.
Als sie hörte, dass er den Anruf entgegennahm, sprudelte sie gleich los: «Hey Joël, was soll das? Du hast mir noch nie frohe Weihnachten gewünscht oder mir zum Geburtstag gratuliert. Wirst du sentimental? Hast du zu viel getrunken? Bist du etwa einsam? Oder bist du wie ich von einem Pferd gefallen und liegst jetzt im Delirium? Also, was willst …» Da merkte Myrta, dass die Verbindung abgebrochen war. «Joël?»
LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
Der Sessellift hatte den Betrieb eingestellt. Wenn es so etwas wie eine letzte Kontrollfahrt gegeben hatte, dann war er nicht entdeckt worden. Schliesslich trug er wegen seines Paparazzo-Jobs einen weissen Skianzug. Blieb nur die Hoffnung auf den Pistendienst. Lag er überhaupt auf einer Piste? Oder an deren Rand? Er wusste es nicht. Er sah nur Schnee, Neuschnee. Zudem war es mittlerweile schon dunkel. Vermutlich waren auch die Leute vom Pistendienst längst nach Hause gegangen.
Joël probierte erneut, den Rettungsdienst zu alarmieren. Doch sein iPhone litt unter der Kälte und der Feuchtigkeit. Hin und wieder leuchtete das Display zwar auf, auch Empfang war vorhanden, aber kaum hatte Joël die Notrufnummer 112 gewählt, machte das Handy schlapp. Auch der Versuch, mit Myrta zu telefonieren, war gescheitert. Er hatte ihre ersten Worte zwar noch verstanden, doch dann war Schluss.
«Wenn ich einen Fön hätte, könnte ich das Scheissding trocknen und wärmen», sagte er vor sich hin und lächelte. Das hatte schon einmal geklappt, als er es im Sommer bei einem Gewitter mal draussen hatte liegenlassen. Er öffnete seinen Skianzug und klemmte das iPhone wie einen Fiebermesser unter den Arm. Dies machte er manchmal auch mit den Batterien seines Blitzgeräts, wenn vor Kälte gar nichts mehr ging.
Und jetzt war es kalt. Saukalt. Er lag schon länger hier. Unter den Seilen des Sessellifts. Weder den Sturz vom Sessellift hatte er mitbekommen, noch den Aufprall. Irgendwann war er aufgewacht und hatte geschrien. Ins Leere. Sämtliche Bemühungen aufzustehen, waren misslungen. Der Schmerz in seinem rechten Bein war einfach zu gross gewesen.
Nach einer Weile nahm er das Handy aus der Achselhöhle und startete es neu. Tatsächlich leuchtete das Display. Aber nur einige Sekunden. Dann war der Bildschirm wieder schwarz. Möglicherweise hätte er sogar telefonieren können, vielleicht war nur der Bildschirm defekt. Doch ohne Bildschirm keine Files. Ohne Icons keine Möglichkeit, ins Telefon-Programm zu gelangen. Er verfluchte das Gerät. Hätte er nun ein altes Handy dabei, eines, das noch eine richtige Tastatur hatte. Jetzt konnte er nicht einmal eine SMS senden.
Joël versuchte nochmals aufzustehen. Doch das Bein schmerzte fürchterlich. Er vermutete, dass es gebrochen oder zumindest arg verstaucht war. Er bemerkte, dass sein Anzug blutverschmiert war. Er erinnerte sich an den Faustschlag und griff sich an die Nase. Tatsächlich war diese voll mit eingetrocknetem Blut. Sie tat weh und war wohl gebrochen.
Wahrscheinlich hatten ihn die Typen wegen seiner Kamera attackiert. Er tastete kurz seinen Anzug ab, griff um sich in den Schnee, fand zwar seine Skistöcke, nicht aber die Kamera. «Verdammte Scheisse!» Mit der Kamera war auch das teure 600-mm- Objektiv weg. «Scheisse, Scheisse, Scheisse», fluchte Joël. Er tastete seinen Rücken ab: Immerhin war sein Rucksack mit den anderen Objektiven noch da. Auch den Fotoharnisch und die Akkus hatten sie ihm gelassen.
Er liess sich in den Schnee sinken und suchte eine Position, in der er keine beziehungsweise nur wenig Schmerzen hatte.
Joël lag einige Minuten. Dann begann es, ihn zu frösteln. Kurz darauf fror er richtig. Er fror sogar fürchterlich, zitterte vor Kälte. Hier oben würde es locker minus 20, minus 30 Grad oder noch kälter werden.
Erst jetzt begriff er, dass er den Sturz vom Sessellift zwar überlebt hatte. Trotzdem würde hier sein Leben zu Ende gehen.
REITERHOF SITTER, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Myrta versuchte im Minutentakt, Joël zu erreichen. Doch es kam immer nur die Mailbox. Drei Mal hatte sie die Nachricht hinterlassen, er solle sich bitte melden.
«Meinst du wirklich, es ist etwas passiert?», fragte Martin. Er sass neben ihr auf dem beigen Ledersofa.
«Ja, bestimmt.»
«Vielleicht wollte er dir wirklich nur frohe Weihnachten wünschen und …»
«Nein, Martin, nein, unmöglich. Joël und ich sind keine Freunde, die Nettigkeiten austauschen. Wir telefonieren nur, wenn wir uns wirklich etwas zu sagen haben. Dass der, der angerufen wird, immer gleich hundert Fragen stellt so wie ich vorhin, das ist unser Spiel.»
«Möglicherweise hat er keinen Empfang …»
«Nein, verdammt!», sagte Myrta unwirsch, entschuldigte sich aber sofort. «Sorry, ich versau dir die ganze Weihnacht. Ich verschwinde jetzt. Kannst du mich nach Hause fahren?»
«Klar.»
Myrta legte die Hand auf seine Schulter. Obwohl Martin einen dicken Strickpullover trug, spürte sie wieder seine kräftigen Muskeln.
«Nimm mich in den Arm», flüsterte sie.
Martin tat es. Oder versuchte es. Myrta fand, dass er sich etwas ungeschickt anstellte. Fehlt ihm wohl an Erfahrung.
LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
Joël hatte in seinem Leben nicht viele Bücher gelesen. In seiner Jugend waren es neben der schulischen Pflichtlektüre einige Abenteuerromane gewesen, später dann Survival-Bücher und Berichte über Expeditionen in den unwirtlichsten Gegenden der Welt. Dazu waren einige Kriegsberichte gekommen. Denn Joël wollte Kriegsreporter, Krisenfotograf werden. Geklappt hatte das bisher allerdings nicht. Er hatte noch keine Zeitung oder Zeitschrift gefunden, die ihn in einen Krisenherd irgendwo auf der Welt geschickt hätte. Auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten eine solche Reportage zu machen, war ihm doch zu heikel gewesen. In Zeiten der Digital- und Handyfotografie brauchte es in Kriegsgebieten auch keine professionellen Fotografen mehr, um dramatische Szenen festzuhalten. Dessen war sich Joël bewusst. Die Chance, Bilder zu schiessen, die sonst niemand machte, war klein geworden. Und verkaufen liessen sich eh nur die spektakulärsten, da musste er gar nicht auf «gepflegte Reportagefotografie in Schwarz-weiss» machen. Hohes Risiko, hohe Kosten, null Ertrag – die Rechnung hatte Joël schnell gemacht. Deshalb beschränkten sich seine «Kampfeinsätze» auf Auseinandersetzungen zwischen Hooligans zweier Sportmannschaften oder zwischen gewalttätigen Demonstranten und Polizisten. Er kannte Tränengas und Gummischrot, nicht aber Bomben und Gewehrschüsse.
Dass er nun ausgerechnet bei einem Einsatz als People-Fotograf in eine lebensbedrohliche Situation geraten war, kam Joël erbärmlich vor. Er war kein Paparazzo, wollte keiner sein, war aber doch einer. Die Sache war entweder ein Witz, oder er hatte etwas fotografiert, was er definitiv nicht hätte fotografieren sollen. Warum er wegen eines Bundesrats, für den sich ausserhalb der Schweiz kein Schwein und selbst in der Schweiz nur wenige interessierten, von einem Sessellift gekippt worden war, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Weil die Kamera weg war, konnte er nur darauf hoffen, dass die Aufnahmen mit dem Handy noch verwertbar waren. Vorausgesetzt, das Handy beziehungsweise der Speicher würde die kommende Nacht überleben. Und er selbst auch.
In einem Survival-Buch hatte er einmal gelesen, wie man bei Minustemperaturen überleben kann. Ein Arbeiter war ein ganzes Wochenende in einem Tiefkühllager eingesperrt gewesen. Erst hatte er versucht, die Türe gewaltsam zu öffnen. Dann wollte er die Kühlung an der Decke beschädigen. Dazu hatte er sich mit den Paletten und Kartonschachteln Türme gebaut, war hinaufgeklettert und hatte gegen die Leitungen gehämmert. Alles half nichts. Er war müde, schlief fast ein und begann zu frieren. Dass er erst jetzt fror, rettete ihn: Statt zu schlafen, schleppte er das ganze Wochenende Kisten. Bis seine Kollegen am Montag ins Lager kamen.
Und auch aus den Himalaya-Büchern wusste Joël, dass Schlafen oder Sitzenbleiben den Tod bedeutete. Also musste er sich trotz seines gebrochenen Beins bewegen, am besten dorthin, wo er am ehesten gerettet würde.
Doch zuerst versuchte er, sein Bein mit einem Skistock und den Skiriemchen zu schienen. Das gelang nicht, da war die Theorie zu weit von der Praxis entfernt: Der Skistock war viel zu lang, die Riemchen waren zu kurz, und Joël spürte wegen der Kälte seine Hände nicht mehr. Er beschloss, mit den Skistöcken und mit Hilfe seines gesunden linken Fusses mitsamt dem dazugehörenden Ski dorthin zu robben, wo er die Piste vermutete. Denn wenn er auf einer Piste wäre, stiege die Chance, von einem Pisten-Bully-Fahrer entdeckt zu werden. Diese würden die Pisten entweder spätnachts oder frühmorgens präparieren …
Oder sollte er gleich zur Hütte, in der er den Bundesrat und die unbekannte Dame fotografiert hatte, auf einem Bein hinunterfahren? Aber was, wenn dort unten niemand mehr war, keiner dort übernachtete und alle Fenster, die er hätte einschlagen können, mit Läden verschlossen waren? Dieses Risiko wollte er nicht eingehen, denn er kannte das Skigebiet ziemlich gut. Dort unten steckte er noch tiefer im Schlamassel. Wenn er aber die Bergstation des Sessellifts erreichen würde, könnte er auf der anderen Seite des Passes hinunterfahren, notfalls bis ins Tal.
Dies schien Joël die beste Variante zu sein.
Er begann, sich kriechend durch den Schnee zu kämpfen. Doch er konnte machen, was er wollte – das Bein schmerzte in jeder Stellung höllisch. Also versuchte er aufzustehen. Das funktionierte zwar, doch an Fortbewegung war nicht zu denken. Der Neuschnee war zu tief, er hüpfte, kam aber keinen Zentimeter vorwärts.
Er liess sich wieder fallen und robbte weiter.
Das klappte einigermassen. Doch bereits nach wenigen Metern ging ihm die Puste aus. Er sackte zusammen und atmete schwer. Weiter zu kriechen, bedurfte schon einiger Überwindung.
Nach der zweiten Pause wuchsen Anstrengung und Frustration. Vor allem hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er war und wohin er sich bewegte. Vielleicht robbte er einfach im Kreis herum. Auch das wusste er aus einem Buch: In einer Schneewüste verliert auch der beste Bergsteiger den Orientierungssinn.
Die dritte Pause dauerte sehr viel länger als die erste und die zweite. In der vierten Pause kam ihm der Gedanke, einfach liegen zu bleiben und zu schlafen.
«Ich muss diese verdammte Piste erreichen», rief er laut.
Er schrie. Das Echo war beeindruckend. Ansonsten passierte nichts.
Joël schaute auf die Uhr. Die weisse Swatch zeigte kurz vor 20 Uhr. Wo bleiben die verdammten Pistenfahrzeuge?, fragte er sich.
Er robbte weiter.
Er schwitzte, fror aber trotzdem. Nun spürte er auch, dass sein teurer Skianzug nach diesen langen Stunden im Schnee nicht mehr wasserdicht war. Es schneite immer noch, es windete immer noch, es war tiefste Nacht, und es wurde immer kälter. Joël bewegte sich schneller, geriet dadurch aber auch schneller ausser Atem.
Plötzlich glaubte er, sein Handy klingeln zu hören. Er wollte danach greifen, verhedderte sich aber in den Taschen, weil er in den Händen kein Gefühl mehr hatte. Und als er es schliesslich geschafft hatte, war das iPhone verstummt. Der Bildschirm war schwarz und blieb schwarz.
Joël verstaute das Gerät wieder in der Jackeninnentasche, obwohl auch diese feucht war. Das Innenfutter war nass, alle Taschen waren nass, vermutlich waren sogar die Skischuhe innen nass, aber das spürte er nicht, weil er seine Füsse, wie seine Hände, schon länger nicht mehr spürte.
Er ruhte sich aus. Er schloss die Augen.
Nur ganz kurz, sagte er sich.
GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Das Essen, Gänsebraten mit Rotkohl und Knödeln, war deftig deutsch, aber lecker. Der Wein dazu, drei Flaschen Château Pétrus, war köstlich. Zu köstlich eigentlich für das Mahl, wie Myrta fand. Der Wein musste enorm teuer gewesen sein. Das schloss Myrta nicht nur, weil ihr «Château Pétrus» als Edelweingut bekannt war und ihr der Tropfen wirklich mundete, sondern weil ihr Vater ein Brimborium darum machte. Er bekam von ihr jedes Jahr den «Kleinen Johnson» zu Weihnachten geschenkt, die Weinbibel für den Amateur. Natürlich stand in der Tennemann’schen Bibliothek auch der «Grosse Johnson», sauber eingereiht zwischen anderen zahlreichen Weinbüchern. Myrta konnte als einzige der Familie mit ihrem Vater eine einigermassen fundierte Diskussion über Wein führen. Mama Eva disqualifizierte sich nicht ohne Stolz, indem sie in Gourmetlokalen gerne zu einem exorbitant teuren Essen und einem noch teureren Wein eine Cola light bestellte. Das Wein-Gen hatte sich auch nicht auf Myrtas Bruder Leon, geschweige denn auf ihre Schwester Leandra übertragen. Am allerschlechtesten schnitt in Myrtas Weinkennerrangliste Leons Frau Christa ab, zwar die einzig waschechte Schweizerin der Familie, aber ein Trampel sondergleichen. Myrta war sich bewusst, dass ihr Urteil nicht gerecht war, aber sie musste die erfolgreiche TV-Ärztin ja nicht mögen, nur weil sie die Frau ihres Bruders war. Christa war einfach dämlich und blöd und peinlich. Und zu dick. Jawohl, das auch noch.
Nachdem Eva und Christa das Dessert, Ananas mit einer undefinierbaren Crème, serviert hatten, fragte Eva plötzlich: «Sag mal, Myrta, wie geht es eigentlich deinem Freund Bernd?»
Das war die Frage aller Fragen, und Myrta kam es vor, als hingen selbst die Kinder ihres Bruders nun an ihren Lippen.
«Gut», antwortete Myrta knapp.
«Schön. Kommt er mal wieder in die Schweiz?»
«Er hat viel zu tun.»
«Natürlich», sagte darauf Eva Tennemann und fügte sofort hinzu: «Erzähl uns etwas über Martin, oder Lucky Luke, so hast du ihn doch früher immer genannt.»
«Mama, über Martin wisst ihr wahrscheinlich mehr als ich.»
«Er ist ein stattlicher Pferdezüchter und Pferdehändler geworden», warf Paul Tennemann ein.
«Er hat nicht nur eine Pferdepension?», fragte Myrta nach.
«Nein, er hat noch eine Zucht», antwortete Paul. «Er ist wirklich erfolgreich.»
“Oh…», machte Myrta nur. Martin hatte nichts davon erwähnt. Warum nicht?, fragte sie sich.
«Wie war denn dein Spaziergang mit Lucky Luke heute?», fragte Leandra plötzlich. «Der dauerte ja ewig.»
«Leandra, bitte!», antwortete Myrta.
«Dein Spaziergang dauerte wirklich lange», meinte auch Leon.
«Habt ihr Comic-Hefte angeschaut?», sagte Leandra und erntete dafür Gelächter der ganzen Familie. Die Lucky-Luke-Geschichte aus Myrtas Kindheit war allen bekannt und sorgte immer wieder für einen Lacher.
«Ich stand früher auf Asterix und Obelix», sagte Christa. «Und auch die Filme mit Gérard Depardieu fand ich zum …»
Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Leon seine Frau am Arm festhielt und ihr leise erklärte, dass der Gag der Lucky-Luke-Geschichte nicht der Comic, sondern die Schwärmerei von Martin für Myrta war, zumindest damals in der Jugendzeit.
«M und M und M, sage ich da nur», warf schliesslich Vater Paul ein. «Myrta, Mystery und Martin!»
Myrta spürte einen dumpfen Schlag in die Magengegend. Einen angenehmen. Martin, er sieht schon gut aus, dachte sie.
«Einen Cognac?», fragte Paul und riss Myrta aus ihrem Kurztraum. Ihr Vater erhob sich. «Es ist Weihnachten, kommt, wir setzen uns ins Wohnzimmer, zünden die Kerzen am Weihnachtsbaum an und genehmigen uns einen feinen Cognac. Und Eva, meine herzallerliebste Ehefrau, serviert uns köstliche Weihnachtsguetzli.»
Wie niedlich, dachte Myrta. Mein Vater. Liebt seine Frau so sehr. Und spricht unter gütiger Mithilfe des Château Pétrus sogar ein bisschen Schweizerdeutsch: Guetzli statt Plätzchen. Sie stand auf, schlang die Arme um den Hals ihres Vaters und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Sein Duft war immer noch derselbe, er roch nach Papa, nicht nach Mann.
Martin hatte einen ganz anderen Duft.
Sie dachte an Bernd. Wie roch eigentlich Bernd?
Danach an Joël.
Zum wiederholten Male versuchte sie, ihn anzurufen. Nur die Mailbox. Einmal hatte das Telefon normal geklingelt. Nun kam gleich der Telefonbeantworter.
Als die ganze Familie im Wohnzimmer im Halbrund um den Weihnachtsbaum sass, vibrierte Myrtas Handy. Sie entschuldigte sich und ging schnell nebenan ins Esszimmer.
«Hallo?» sagte sie, ohne das Display zu beachten.
«Hey, Süsse, wie geht es dir?»
Bernd.
«Alles okay. Bei dir?»
«Vanessa bringt gerade die Kinder ins Bett. Endlich höre ich dich. Wäre so gerne bei dir. Und bei deiner Familie. Ach, wäre das schön!»
«Ja, Bernd. Geht es dir gut?»
«Na ja. Vermisse dich.»
Myrta antwortete nicht darauf.
«Ich habe frei bis Neujahr, habe aber nichts gesagt. Ich dachte, ich fahre kurz zu dir.»
«Ich muss aber arbeiten», log Myrta, denn auch sie hatte eigentlich Ferien. «Es ist einiges am Laufen, da muss ich noch auf die Redaktion.» Bernd sollte sich mehr um sie bemühen, fand Myrta.
«Dann bist du eben krank oder sonst was. Du bist doch die Chefin. Und es ist ja nicht so wichtig, ob du oder ein anderer das Blättchen macht.»
Das nervte sie. Früher, als sie mit ihm bei RTL gearbeitet hatte, da war alles immer wichtig und super gewesen, was sie machte, aber jetzt, seit sie bei einem Printprodukt und erst noch in der kleinen Schweiz tätig war, war sie in seinen Augen journalistisch abgestiegen. «Ich guck mal», sagte sie ganz ruhig. «Wann würdest du denn kommen?»
«Muss aufpassen wegen Vanessa, damit hier alles …» Kurze Pause. «Hey, tschüss dann», sagte Bernd plötzlich übertrieben laut. «Danke für den Anruf! Gruss an alle!»
Es klickte. Myrta knallte das Handy auf den Esstisch. “Auch Gruss an alle.»
Myrta ging ins Entree, zog sich die Jacke an und trat hinaus in die kalte Nacht. Nach wenigen Schritten durch den Schnee stand sie vor Mysterys Box. Sie öffnete sie und trat hinein. Sie tätschelte ihr Pferd. Mystery blickte kurz auf und suchte dann im Stroh weiter nach irgendetwas Fressbarem.
Was ist bloss aus mir und Bernd geworden, fragte sie sich. Er war doch ihr Schwarm gewesen. Er hatte sie entdeckt, er hatte sie vom Automagazin in die People-Redaktion gebracht. Er hatte sie beraten, gecoacht und gefördert. Nein, eine Liebesbeziehung hatte sie nicht gewollt, aber irgendwann war es passiert. Er war 17 Jahre älter, gutaussehend, charmant – ein richtiger Gentleman. Dass er Familie hatte, wusste sie. Sie dachte lange Zeit, sie könne damit umgehen, fand sogar Spass an der Rolle der Geliebten. Es war Bernd gewesen, der angefangen hatte, von Scheidung und einem neuen Leben mit ihr zu reden. Sogar Kinder wollte er mit ihr haben. Myrta hatte das, wie alles, was Bernd sagte, ernst genommen und ihm geglaubt. Aber sie war immer die Geliebte geblieben. Und sie würde es immer bleiben.
Ist das für eine 34jährige Frau eine Zukunft?, fragte sich Myrta und küsste Mystery auf die Nüstern, der dies mit einem leisen Schnauben quittierte. Er legte die Ohren nach hinten und gab ihr zu verstehen, dass es Zeit war, ihn alleine zu lassen.
LEJ DA LA PÊSCH, ST. MORITZ
«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen!»
Joël wiederholte diesen Satz fast ununterbrochen. Er krabbelte Zentimeter für Zentimeter durch den Tiefschnee und schleifte sein kaputtes Bein hinterher. Um ihn herum war es nur schwarz und grau und weiss. Es schneite noch immer, und der Wind blies auch, und sein Gesicht war rund um die Nase wie eingefroren, was aber das am wenigsten Schlimme war, weil sie so weniger schmerzte.
«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen.»
Zu einem anderen Gedanken war er nicht fähig. Er wusste auch nicht mehr, wohin er eigentlich robbte. Gut möglich, dass er sich in die völlig falsche Richtung bewegte. Möglichweise war er von der Piste weiter weg als je zuvor.
Manchmal konnte er einen Felsen sehen. Das gab ihm Hoffnung. Er glaubte sogar, den Felsen zu kennen und nun gleich die Piste zu erreichen. Dort würde er entweder entdeckt oder sich zumindest besser fortbewegen können. Obwohl dies bei dem heftigen Schneefall nicht mehr sicher war. Doch jedes Mal erwies sich Joëls Annahme als falsch.
«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen!»
Plötzlich hörte er Stimmen. Gelächter.
“Hilfe!”, schrie er, so laut er konnte. “Hilfe!”
Er wartete, horchte und hoffte auf eine Reaktion. Aber es kam nichts. Nicht einmal ein Echo.
«Hilfe! Hier bin ich!»
Er hörte wirklich Gelächter. Es kam von unten. Oder von links.
«Hilfe!»
Nichts. Mit voller Kraft ruderte er nun so schnell wie möglich mit den Armen und dem gesunden Bein durch den Schnee, versuchte, sich mit dem Ski abzustossen, und hatte das Gefühl, schnell vorwärts zu kommen.
«Hilfe!»
Er hielt inne, horchte.
Nur der Wind.
«Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf nicht …»
Joëls Kopf sackte in den Schnee.