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31. Dezember

WALD BEI ENGELBURG

«Warum habe ich es getan?»

Diesen Satz wiederholte Myrta gebetsmühlenartig. Mystery of the Night störte es nicht. Er trottete in seinem Tempo. «Warum habe ich es getan?»

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, im Wald war es recht dunkel, durch die warmen Temperaturen war viel Schnee geschmolzen.

«Mystery, sag du es mir, warum habe ich es getan?»

Mystery verdrehte kurz die Ohren, behielt aber sein Tempo unverändert bei.

Die vergangenen zwei Tage hatte Myrta damit verbracht, das neue Heft der «Schweizer Presse» zum Abschluss zu bringen. Wegen der Feiertage war der Redaktionsschluss von Freitag auf Samstag verlegt worden, da das neue Heft wegen dem 2. Januar, dem Berchtoldstag, erst am 3. Januar ausgeliefert wurde. Das hatte Myrta ermöglicht, die Story über Battista äusserst sorgfältig zu gestalten und zu überprüfen. Trotzdem war sie mit «Battistagate», wie die Story in Anlehnung an «Watergate» intern genannt wurde, an ihre journalistischen Grenzen gestossen. Gewisse Entscheide hatte sie nur noch instinktiv gefällt.

Sollte man Luis Battista wegen des Fotos befragen? Nein, hatte Myrta entschieden. Man sollte sich nur bei der Pressestelle darüber erkundigen, wie der Bundesrat die Feiertage verbracht habe. Sollte man den Geschäftsführer der «Schweizer Presse» informieren? Nein. Myrtas Stellvertreter Michael Kress hatte das zwar anders gesehen, ihren Entscheid aber akzeptiert. Vielleicht auch nicht – das konnte Myrta nicht ausschliessen. Sollte man Nachrichtenagenturen ein Communiqué über diese ExklusivStory schicken? Nein. Sollte man den Haus-Anwalt einschalten? Nein.

Myrta hatte die Story, die von den beiden Reportern der Nachrichten- und der Unterhaltungsredaktion geschrieben worden war, mehrmals durchgelesen und für gut befunden. Korrekt, nicht reisserisch, fair. Tenor: Wirtschaftsminister geniesst seine wohlverdienten Ferien und erlaubt sich einen kleinen Flirt. Die Story war kurz und bloss Teil einer grossangelegten «Prominente im Schnee»-Geschichte. Natürlich, das Titelbild und die Schlagzeile «Erwischt! Bundesrat Battista am Fremdflirten» waren eindeutig.

Myrta war sich bewusst, damit einen Skandal auszulösen. Für die Auflage ihres Blattes konnte das nützlich sein. Wenn sie Glück hatte, griffen andere Medien die Story auf. Davon ging sie eigentlich aus. Allerdings konnte der Schuss nach hinten losgehen: Journalistenkolleginnen und -kollegen könnten die «Schweizer Presse» und damit auch sie persönlich an den Pranger stellen. Und behaupten, dass man das Privatleben von Prominenten nicht so schamlos zeigen dürfe. Rechtlich konnte nicht viel passieren, da war sich Myrta sicher. Gespannt war sie viel mehr, ob die Medien in Deutschland aufspringen würden. Schliesslich gehörte die involvierte junge Frau zu den reichsten Erben des Landes.

Das alles hatte sie erwogen. Wenn dann noch das Fernsehen darüber berichten und sie vielleicht zu Diskussionen über die Frage «Wie weit dürfen Medien gehen?» einladen würde, ja, dann hätte sie wohl einen guten Job gemacht, und über die «Schweizer Presse» würde endlich wieder einmal geredet.

Eine Katastrophe wäre es nur, wenn die Story nicht stimmte. Aber nach mehreren Telefonaten mit Joël, der immer noch im Spital in Samedan lag, und nach zig Fotovergleichen der jungen Dame war sich Myrta hundertprozentig sicher, dass das Bild echt war. Sie mailte es sogar Melissa, einer ihrer Ex-Kolleginnen bei RTL, die die Frau sofort als Karolina Thea Fröhlicher erkannte und sich bereits für eine Nachfolgestory interessierte. Melissa war es denn auch, die Myrta restlos überzeugte, dass die Dame auf dem Foto tatsächlich Karolina Thea Fröhlicher war. Sie kenne Floriana Meyer-Pöhl ziemlich gut, Karolinas Bekannte. Sie habe mit ihr telefoniert und sie vorsichtig auf die Beziehung zwischen Karolina und Battista angesprochen. Ja, habe Floriana geantwortet, sie sei mit den beiden zwei Tage in St. Moritz skilaufen gewesen. Aber dass der nette Herr ein Minister sei, habe sie nicht gewusst. Und auch sonst wisse sie nichts. Wie immer. Das war für Myrta Bestätigung genug: Battista war in St. Moritz mit Karolina Thea Fröhlicher zusammen. Darauf hatte sie sich bei Melissa bedankt und ihr versprochen, ihr wenn nötig bei einem TV-Beitrag über diese Story zu helfen.

Das Foto zeigte also ohne Zweifel eine brisante Situation: Familienmensch und Bundesrat Battista flirtete mit der reichen und schönen Karolina Thea Fröhlicher. Das war klar zu erkennen, dagegen konnten weder gewiefte Kommunikationsberater noch Karolinas rabiate Aufpasser etwas tun.

Warum aber bedrohten die Bodyguards Joël, hatte sich Myrta immer wieder gefragt, es ging doch nur um ein Bild in einem Klatschheft.

«Warum habe ich es getan?»

Es war nun richtig dunkel. Obwohl es hin und wieder im Wald raschelte und knackte, lief Mystery seelenruhig weiter.

«Warum habe ich es getan?» Würde sie Battistas Familie zerstören?

Nein, sie, Myrta Tennemann, war doch nicht die knallharte Journalistin, die über Leichen ging. Natürlich war ihr bewusst, dass sie in ihrem Beruf zu den Macherinnen gehörte, die schnell Entscheide fällen und sich durchsetzen konnten. Ihr war zudem klar, dass sie bei vielen Kolleginnen und Kollegen als knallhart und arrogant galt, obwohl sie sich gar nicht so fühlte. Doch es war ihre Art, ihre Unsicherheit und ihren Zwiespalt zu überspielen. Denn eigentlich sah sich Myrta als eine der «Netten» ihrer Zunft, jemanden anzugreifen oder gar fertig zu machen, war nie ihre Absicht gewesen.

Ich habe als Auto- und als People-Reporterin bei RTL immer mit Menschen zu tun gehabt, die unbedingt ins Fernsehen wollten, rechtfertigte sich Myrta vor sich selbst. Lange genug bin ich deswegen von den News-Journalisten belächelt worden!

So hatte sie sich eine dicke Haut zugelegt. Selbst von ihrem Freund Bernd fühlte sie sich nicht ernstgenommen, auch er hielt «seinen» Nachrichtenjournalismus für etwas Besseres. Die stundenlangen Diskussionen hatten meist zu Streit geführt. Bernds weihnächtlicher Besuch hatte deshalb auch ziemlich abrupt geendet.

Innerlich fühlte sich Myrta noch genauso sensibel wie als Kind. Sie hatte lange in ihrer Märchenwelt gelebt, die Rudolf-Steiner-Schule hatte diese bis weit ins Jugendalter verlängert. Dank ihres Pferdes blieb sie aber einigermassen geerdet, neben dem Mal- und Geigenunterricht schuf Mystery einen Ausgleich.

Die Pubertät war trotz Waldorfschule und viel Kunst und Kreativität eine schreckliche Zeit gewesen. Aus dem quickfidelen Engelchen Myrta, wie die Eltern sie oft nannten, war ein in sich zurückgezogenes Pummelchen geworden. In dieser Zeit hatte kaum jemand sie zu einem Ausritt auf ihrem Pferd zu bewegen vermocht. Sie hockte lieber vor dem Fernseher und tauchte in die Traumwelten der Unterhaltungsindustrie ab, die Teenie-Sendungen und Soaps schaute sie alle, Bücher las sie keine, nur noch Lucky-Luke-Hefte von Martin und natürlich die «Bravo» und alle anderen Teen- und Twen-Magazine. Ihre Eltern hatten alles Mögliche versucht, sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken, doch selbst der Jugendpsychologe und die Heileurythmie, eine Idee der Schulleitung, hatten nicht viel gebracht. Später war noch eine Essstörung dazu gekommen. Myrta schleppte das Problem bis in die 12. Klasse mit sich herum. Dank sanftem Druck ihrer Klassenlehrerin hatte Myrta die weibliche Hauptrolle im Abschlusstheater übernommen und dabei ihr Talent für den grossen Auftritt entdeckt. Und vor allem ihre Freude daran. Innert Kürze nahm Myrta zehn Kilo ab, begann zu trainieren, ritt jeden Tag auf Mystery aus und lernte, richtig zu essen. Sie wollte Schauspielerin werden und landete nach einem Kunst-Studium als Volontärin beim Fernsehen.

Im Peoplejournalisten-Jargon würde sie heute als «sexy, vollbusige Karrierefrau mit dunkelblonder Bubikopf-Frisur» tituliert. So würde sie sich jedenfalls selbst beschreiben, wenn sie einen Artikel über sich schreiben müsste. Aber eben: Das waren die Klischees, die auf einigen Zeilen mit wenigen Anschlägen Platz hatten.

«Warum habe ich es getan?»

Vielleicht lag es an ihrer Kindheit, an ihren Eltern, an der Schule, dass sie die Selbstzweifel nie losgeworden war. An ihrer Verletzlichkeit. Eigenschaften, die sie mit Ehrgeiz und resolutem Auftreten zu kompensieren versuchte – das war ihr bewusst. Und sie war nicht stolz darauf.

Plötzlich begann Mystery zu bocken.

Myrta wurde aus ihren Gedanken gerissen.

Mystery wollte umkehren, Myrta redete auf ihn ein und versuchte, ihn zu beruhigen. Sie schaute sich um, versuchte herauszufinden, warum Mystery so nervös war. Irgendwo raschelte und knackte etwas. Äste, Blätter, Schnee, ein Vogel, eine Maus, ein Reh …

Stand dort vorne auf dem Weg nicht wieder der Kerl mit der Sense?

«Martin!», rief Myrta. «Martin? Bist du das? Hey, was machst du da?»

Keine Antwort.

«Martin?»

Nichts.

«Wer sind Sie?», rief sie.

Stille. Kein Rascheln war jetzt zu hören. Kein Knacken. Myrta erschauerte. Sie liess Mystery wenden, gab ihm den Befehl zum Galopp. Das Tier schnaubte. Myrta wagte es nicht, zurückzuschauen.

Wer reitet so spät durch Nacht …

In hohem Tempo erreichte sie Martins Hof, preschte bis zum Stall, brachte Mystery zum Stehen, schwang sich aus dem Sattel, schlang die Zügel schnell um einen Balken, rannte zur Haustüre und klingelte.

Ihr Atem ging schnell, ihr Herze pochte wild.

Die Türe wurde geöffnet.

«Martin», sagte sie leise. Einerseits froh, ihn zu sehen, anderseits nicht. Wer war da draussen?, fragte sie sich. Und: Werde ich verrückt?

«Myrta, schön, dass du doch noch zu unserer Party kommst!»

«Party?»

«Silvester, Myrta, meine Party, zu der ich dich ein…» Er stockte und schaute sie lange an. «Alles in Ordnung mit dir?»

«Ja», antwortete Myrta hastig. Sie lachte, schluckte, lächelte, räusperte sich. «Klar, die Party, da bin ich!»

Martin musterte sie nochmals lange: «Du trägst Reitkleidung. Bist du etwa mit Mysti gekommen?»

«Ähm, ja, ich habe mich in der Zeit vertan, da dachte ich, wir kommen gleich zusammen. Hast du ein Plätzchen für uns?»

«Eine freie Box für Mystery habe ich schon, aber du kommst doch hoffentlich mit ins Haus? Oder möchtest du mit Hafer, Heu und Wasser Silvester feiern?»

«Ich weiss nicht …»

Martin nahm sie einfach in die Arme, streichelte ihr über den Kopf, drückte sie vorsichtig an sich: «Du siehst toll aus!»

Martin macht das gut, fand Myrta. Sie fühlte sich beschützt.

Die Boulevard-Ratten

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