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27. Dezember

GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN

Der Ausritt war phantastisch. Bei schönstem Sonnenschein ritten Myrta und Martin auf ihren Pferden Mystery of the Night und Valérie, einer siebenjährigen Stute, durch die Gegend rund um das Andwiler Moos. Mal im Schritt, oft im Trab, ab und zu im Galopp. Myrta fühlte sich wohl. Sie genoss Martins Nähe. Er strahlte etwas Beruhigendes aus.

Martin sprach nicht viel. Er fragte höchstens, ob sie da- oder dortlang reiten sollten. Dann schwieg er, und auch Myrta konnte schweigen. Bin ich jetzt gerade glücklich?, fragte sie sich. Und wenn ja, warum?

Seit sie Chefredakteurin der «Schweizer Presse» war, kannte sie solche Glücksgefühle kaum noch. Das war immerhin seit acht Monaten der Fall. Sie war damals von Jan Wigger, dem Geschäftsführer der Zanker AG, zu der die «Schweizer Presse» gehörte, engagiert worden, um das Blatt zur Nummer eins unter den Boulevard- und Frauenzeitschriften auf dem Schweizer Markt zu machen. Sie hatte zwar keine grosse Erfahrung mit der sogenannten «Yellow Press», doch weil sie bei RTL bei einem Promi-Magazin gearbeitet hatte, erhoffte man sich von ihr, dass sie dank ihrer Beziehungen an exklusive Stories käme. Zudem war Myrta selbst auch so etwas wie eine C-Prominente: Hinter den internationalen Stars der Königshäuser, des Films und der High Society, hinter den nationalen Promis aus Sport, Fernsehen und Kultur gehörte sie immerhin zum Heer der mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten, die unregelmässig in einer Zeitung oder einer Fernsehsendung auftauchen. Myrta war nur deshalb immer wieder in diesen Rubriken erschienen, weil sie es als Schweizerin bei RTL vor die Kamera geschafft hatte. Zumindest hin und wieder. Das reichte, um in die Riege der C-Promis beziehungsweise der Cervelat-Promis, wie solche Leute in der Schweiz nach der berühmtesten eidgenössischen Wurst genannt wurden, aufgenommen zu werden.

Doch die erhoffte Wende der «Schweizer Presse» hatte auch sie bisher nicht herbeiführen können. Die Auflage des Traditionsblattes liess sich einfach nicht steigern. Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger hatten bereits alles versucht: Der eine hatte das Blatt vom News-Journalismus befreit, der zweite hatte auf den Online-Markt gesetzt, der dritte – die erste Frau – hatte die Lebensberatung eingeführt, und der vierte hatte wieder vermehrt News-Stories abgedruckt, aber innert sechs Monaten Hunderte von Abonnenten verloren. Mit Myrta Tennemann sollte die «Schweizer Presse» definitiv ein People- und Boulevardmagazin werden, vermehrt junge Leute ansprechen und zu einem sogenannten Crossover-Produkt mutieren, zu einem sich gegenseitig ergänzenden Print- und Onlineportal für Fernsehen, People-News und Klatsch.

Dass Myrta gerade glücklich war, lag entweder an ihrem Pferd Mystery of the Night oder an der Sonne oder an beidem. Oder an Martin. Ein Gedanke, der ihr durchaus gefiel. Vielleicht hing ihr Hochgefühl aber auch mit Joëls exklusivem Foto zusammen, mit dem sie einen Riesenwirbel auslösen würde und ihr Magazin zumindest für eine gewisse Zeit in den Vordergrund rücken konnte.

Den silbrigen BMW 5er Touring, der vor dem elterlichen Haus parkiert hatte, sah Myrta schon von weitem.

«Bernd», sagte sie erstaunt.

«Bernd?», fragte Martin.

«Ja, mein Bernd, also Bernd halt, mein …»

«Dein Freund, ich weiss. Überrascht?»

Myrta hatte diesen Moment seit Monaten herbeigesehnt. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass Bernd plötzlich hier auftauchte und sie überraschte. Dass er extra von Köln hierher zu ihr fahren würde, bloss um ihr zu sagen, dass er sie liebe. Jetzt war dieser Moment da.

«Ja, ich bin sehr überrascht», sagte Myrta zu Martin.

Doch das Glücksgefühl war weg. Sie empfand die Situation als beklemmend.

Martin bedankte sich für den Ausritt und verabschiedete sich von Myrta. Etwas überhastet, fand Myrta. Martin ist wohl eingeschnappt. Männer …

«I’m a poor lonesome cowboy …», sang Martin und brachte Myrta damit zum Lächeln.

«Hey, Lucky Luke!», rief sie ihm nach. «Du bist kein einsamer Cowboy mehr!»

«Was rede ich da?», sagte sie leise zu sich selbst, hielt sich die Hand vor den Mund und führte Mystery in seine Box.

Kurz darauf tauchte Bernd auf. Dunkelblaue Steppjacke mit Fellkragen, kariertes Hemd, braune Cordhose, Fellmütze, alles von Tommy Hilfiger, Ray-Ban-Sonnenbrille, dazu ein breites Lachen, ein riesiger Blumenstrauss: «Da bin ich!»

SPITAL SAMEDAN

Es ging ihm zwar wesentlich besser, doch an ein Aufstehen oder gar an das Verlassen des Spitals war noch nicht zu denken. Die Nacht war nach dem bedrohlichen Besuch endlos geworden, vor allem, weil dieser bereits kurz vor 20 Uhr stattgefunden hatte. Joël war hellwach und konnte erst wieder einschlafen, nachdem er Medikamente erhalten hatte.

Mittlerweile hatte er sein iPhone wohl über 100 Mal überprüft und festgestellt, dass der Typ tatsächlich seine kleine Bilderserie mit dem Bundesrat und der unbekannten Schönen gelöscht hatte. Er konnte sich nicht erklären, weshalb man wegen solcher Bilder ein derartiges Theater aufführte und ihm nicht bloss die Kamera klaute. Nein, er hätte sogar sterben sollen, oder sollte es noch. Ihm war aber auch klargeworden, dass sein Problem nicht mit dem Bundesrat, sondern mit der Dame zusammenhing.

Trotzdem war Joël froh, dass Myrta sein Bild kopiert hatte. Sie wusste sicher schon längst, wer die Dame war. Sollte er Myrta erzählen, wie er an das Bild gekommen war und dass er bedroht wurde?

War auch Myrta in Gefahr?

INNENSTADT ST. GALLEN

Er habe gestern mit ihren Eltern gesprochen und erfahren, dass sie frei habe, obwohl sie ihm etwas anderes erzählt hätte. Aber das sei schon in Ordnung, was auch immer sie damit habe bezwecken wollen. Er wisse, dass er sie wegen seiner Familie oft alleine lassen müsse, aber dies wolle er im neuen Jahr definitiv ändern. Das alles hatte Bernd Myrta auf der Fahrt nach St. Gallen erzählt.

Jetzt schlenderten sie durch die Altstadt. Bernd hatte darauf bestanden, endlich einmal St. Gallen zu besichtigen. Schliesslich war seine Freundin eine Ostschweizerin und St. Gallen das regionale Zentrum.

Myrta hatte die Perlenkette, die ihr Bernd zu Weihnachten geschenkt hatte, um den Hals gelegt. Ein dicker No-name-Pulli, Jeans, kniehohe ockerfarbene Stiefel, schwarzer No-name-Mantel. Attraktiv, aber nicht sexy, das war ihr Stil für den heutigen Nachmittag.

Myrta erzählte aus der Historie der Stadt. Sie zeigte Bernd die barocke Stiftskirche und die berühmteste Sehenswürdigkeit, die Stiftsbibliothek. Allerdings nur von aussen. Und alles ziemlich emotionslos. Ihr war weder nach Stadtführung noch nach Shopping, zu viel anderes ging ihr durch den Kopf.

Plötzlich blieb sie stehen: «Bernd, was soll das? Was machen wir hier?»

Bernd schaute sie mit grossen Augen an, er war mit dieser Frage überfordert: «Wie meinst du das, meine Kleine?»

«Komm, wir gehen etwas trinken.»

Sie gingen in die Chocolaterie am Klosterplatz und bestellten sich heisse Schokolade.

«Was ist los mit dir, meine Kleine?», begann Bernd.

«Ach nichts, ich habe einfach …» Myrta wusste nicht, was sie sagen sollte.

«Was hast du? Freust du dich nicht, dass ich hier bin?»

«Doch, natürlich, aber ich habe gerade sehr viel um die Ohren.»

Es wurde ein mühsames Gespräch. Bernd redete immer wieder von der grossen Liebe, von der Liebe seines Lebens. Myrta konzentrierte sich auf praktischere Dinge. Den Zeitpunkt seiner Trennung. Das Zusammensein. Die unterschiedlichen Wohnorte, Bernd in Köln, sie in Zürich. Das Verhältnis zu seinen Kindern. Die gemeinsame Zukunft.

Sie bestellten sich nochmals Getränke. Myrta einen Espresso, Bernd wollte den «Huskafi» probieren – einen Kaffee mit einem Schuss Appenzeller Alpenbitter und Rahm.

Später sagte Bernd: «Komm, vergessen wir diese Diskussion, Kleine. Lassen wir diesen Tag weihnächtlich ausklingen. Wir lieben uns. Alles wird gut.»

Das traf Myrta mitten ins Herz. Denn das bedeutete nichts anderes als: Machen wir, dass wir schnell zu dir nach Hause kommen und Sex haben. Wie so oft.

Myrta fühlte sich nicht ernst genommen.

«Ach, Myrta», seufzte Bernd, «wenn du nur wüsstest, wie sehr ich dich liebe.» Er strahlte sie an, und Myrta wusste, dass sie nicht widerstehen konnte. Es auch nicht wollte. Ich liebe ihn doch, sagte sie sich. Sie lehnte sich über den Tisch und gab ihm einen Kuss. Der Kuss schmeckte nach Appenzeller Alpenbitter.

Sie zahlten, gingen zum Auto, fuhren nach Hause und liebten sich in Myrtas Mädchenzimmer.

Es war die eingespielte Nummer, fand Myrta. Aber okay.

RESTAURANT PITSCHNA SCENA, PONTRESINA, ENGADIN

Es war wundervoll gewesen. Jachen Gianola und seine Gäste hatten einen herrlichen Skitag erlebt. Zuerst waren sie auf der Diavolezza, später auf der Lagalb. Dort war Jachen allerdings nur mit Luis Battista. Den beiden Damen war der Berg viel zu steil erschienen. Sie verabschiedeten sich zusammen mit den Bodyguards und verabredeten sich mit dem Bundesrat zum Abendessen im Hotel Palace, St. Moritz, um 21 Uhr.

Jachen und Luis tobten sich aus. Gleich von der Bergstation stachen sie in die schwarze Piste, eine der extremsten Steilhang-Abfahrten der ganzen Alpen. Danach carvten sie wie die AbfahrtsProfis des Skiweltcups in horrendem Tempo die Piste hinunter. Völlig ausgepowert kamen sie bei der Talstation an und schaukelten gleich wieder hoch. Fünf Mal schafften sie diese Tour. Dann war Betriebsschluss.

Bei einem Ittinger Klosterbräu-Bier in der In-Bar von Pontre- sina sprachen sie nun über die neusten Ski-Modelle, über Ski-Techniken und über Hänge, die sie noch gemeinsam bezwingen wollten. Angeheitert vom Amber-Bier, fragte Jachen seinen Gast plötzlich: «Erzähl mal, was läuft da eigentlich zwischen dir und Karolina?»

Der Bundesrat antwortete diplomatisch. Nichts natürlich, sie sei bloss eine gute Freundin. Und Floriana sei wiederum eine Freundin von Karolina und reise morgen ab. Nach dem dritten Ittinger Klosterbräu allerdings gestand Luis seinem Skilehrer, dass er sich in einer Ehekrise befinde und ihm Karolina in dieser Zeit die Motivation gebe, sein schweres Amt als einer der politischen Führer der Schweiz auszuüben.

Jachen bestellte ein viertes Bier und wollte von Luis Battista wissen, wer denn diese Karolina überhaupt sei.

«Was soll ich bloss tun?», seufzte Luis Battista, ohne auf die Frage einzugehen. «Ich liebe sie. Weisst du, Jachen, es ist alles so leicht mit Karolina, so schön, so unendlich schön. Kann, soll, muss ich mich dagegen wehren?»

«Auf die Frauen!», antwortete Jachen und hob sein Glas: «Allegra!»

LABOBALE, ALLSCHWIL, BASELLAND

Um 23.06 Uhr schickte Phil Mertens seinen Bericht an die Geschäftsleitung der Labobale AG. In seinem kurzen Schreiben auf Englisch richtete er sich an den CEO der Firma, Carl Koellerer. Die übrigen drei Adressaten – seine direkte Vorgesetzte Mette Gudbrandsen und seine beiden ihm unterstellten Forscher in den Niederlanden und in China – sprach Phil lediglich mit «dear colleagues» an.

Die Mail, die er über den verschlüsselten Firmen-Server unter der Dringlichkeitsstufe «hoch» versandte, lautete: «Ich darf euch mitteilen, dass mir und meinem Team der definitive Durchbruch in der Angelegenheit BV18m92 gelungen ist. Die Schlussresultate sind einwandfrei. Best regards, Phil.»

Danach rief er den Nachtportier der Firma an und bat ihn, ihm ein Taxi zu bestellen.

Um 23.32 Uhr setzte sich Phil in einen weissen 33er-Mercedes und gab dem Fahrer seine Wohnadresse in Arlesheim an.

«Sie arbeiten auch an den Weihnachtstagen?», fragte der Chauffeur in gebrochenem Deutsch.

«Ja», antwortete Phil Mertens. Er hatte keine Lust auf Konversation. Er hatte auch keine Lust auf seine Frau, auf Weihnachten, Neujahr. Er hatte bloss noch Lust auf ein Bier. Oder einen Gin Tonic.

«Fahren Sie mich in die Stadt», bat Phil den Chauffeur, als sie rund zwei Minuten unterwegs waren.

«Nicht Arlesheim?»

«Nein, in die Stadt, zu einer Bar. Setzen Sie mich beim Claraplatz ab, bitte.»

Der Chauffeur schwieg und folgte zügig der Tramlinie 6. Beim Allschwilerplatz fuhr er geradeaus und weiter bis zum Spalentor. Links und dann runter, über die Johanniterbrücke. Phil Mertens schaute erst rechts zum Fenster hinaus, sah die Weihnachtsbeleuchtung – viele hängende Lichterketten – der Mittleren Rheinbrücke, dann links, erblickte die Gebäude seines ehemaligen Arbeitgebers Novartis AG und bereute es einmal mehr, nicht mehr dort zu sein und an irgendwelchen Medikamenten herumzutüfteln. Zudem war das Leben im Campus äusserst angenehm, alles, was man für den Alltag brauchte, war dort bequem zu haben.

Am Claraplatz angekommen, zahlte Phil Mertens mit seiner Firmen-Kreditkarte, gab zehn Franken Trinkgeld und steuerte direkt auf das Restaurant «Zum schiefen Eck» zu. Obwohl er schon x-mal an dieser Kneipe vorbeigekommen war – drinnen war er noch nie gewesen. Leute wie er, hochbezahlte Pharma-Angestellte aus aller Welt, verkehrten nicht in einem solchen Lokal. Wenn man sich einen Apéro ausserhalb des Firmengeländes gönnen wollte, ging man in die «Bar Rouge», ganz oben auf dem Messeturm. Oder in ein englisches Pub. Aber Phil wollte niemanden treffen, deshalb würde er hier ein Bier trinken.

Er setzte sich zu zwei älteren bärtigen Männern, die je ein Grosses vor sich hatten. Auf Englisch bestellte er ein Bier und zeigte der Servierdame, dass er ebenfalls ein Grosses haben wollte.

«Cheers», sagte er zu den beiden Männern.

«Proscht!», gaben die beiden zurück.

Fünf Minuten später bestellte er sich dasselbe nochmals, obwohl er das Schweizer Bier nicht mochte. Unter Engländern sprach man nur von «the Swiss piss».

«Durst?», fragte der Mann neben ihm auf Baseldeutsch, hielt den Daumen an den Mund und kippte den Kopf nach hinten.

Phil verstand die Geste. «Yes!»

«Einsam?»

Da Phil nicht antwortete, deutete der Mann mit den Händen zwei Brüste an. Phil winkte ab.

«Probleme?»

«Let’s drink», meinte Phil Mertens schliesslich und setzte das Glas an.

Zehn Minuten später stand er wieder auf dem Claraplatz und fühlte sich besser. «The Swiss piss» schmeckte ihm zwar nicht, aber im Moment ging es um den Alkohol. Nun war Zeit für Härteres. Er ging einige Meter durch die Greifengasse und bog dann in die Ochsengasse ab. Hier war er noch nie gewesen. Doch wo es rote Lampen in den Fenstern hat, gibt es sicher auch eine ordentliche Bar, sagte er sich.

“Hallo”, machte eine Dame, die an einem Hauseingang stand und ihren dicken Mantel etwas öffnete. Phil erblicke rote Unterwäsche, lächelte, winkte aber ab. Kurz darauf betrat er das Restaurant Adler und bestellte sich einen Gin Tonic.

Das Licht war düster. Aber das Strahlen der jungen Frau, die sich nach einigen Minuten neben ihn setzte, war hell und verführerisch.

«Jesus!», sagte Phil Mertens und leerte sein Glas.

Es war Zeit, diesen Tag zu beenden.

Die Boulevard-Ratten

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