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Kritik der Notengebung

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«In freier Wildbahn springen Delphine sehr häufig und aus eigenem Antrieb. Im Delphinarium springen sie signifikant seltener, machen ihre Sprungkaskaden nur mehr dann, wenn ihnen ein Fisch hingehalten wird.»[11] In diesem Zitat beschreibt Anton Strittmatter den Delphinarium-Effekt, mit dem er sich auf Reinhard Sprenger bezieht. Dieser hatte gezeigt, wie klassische Effekte, die dem Motivieren dienen, kontraproduktiv wirken: Wer belohnt, lobt, besticht, bedroht oder bestraft, kann kurzfristig Effekte erzeugen, die so aussehen, als wären sie wirksam – langfristig untergraben und zerstören sie jedoch Motivation. Hält man den Delphinen einen Fisch hin, dann sieht es so aus, als würde man sie zum Springen bringen. Tatsächlich springen sie aber weniger, wenn sie so belohnt oder bestochen werden.

Der Delphinarium-Effekt gilt auch für Noten. Kinder lernen vor-schulisch ohne Noten, sind motiviert, weil sie beim Lernen Fortschritte machen, sich selber als kompetent und autonom erleben. Werden sie mit Noten bewertet (und so gleichzeitig belohnt, gelobt, bestraft und bedroht), dann fokussieren sie ihre Aktivitäten auf dieses Anreizsystem. Sie lernen weniger, weniger motiviert und mit weniger Freude.

Diese psychologische Dimension ist eine Seite der Kritik an Noten: Sie wirken nicht so, wie sie lernpsychologisch wirken sollten. Die andere Seite der Kritik ist die Ungenauigkeit von Noten. Durch viele Studien ist das seit Langem erwiesen. Gleichzeitig sollen Noten aber sehr viele anspruchsvolle Funktionen übernehmen: Information, Selektion, Allokation, Motivation, Legitimation, Evaluation, Steuerung von Bildungspolitik – um nur einige zu nennen. Das Fazit von Ingenkamp stammt schon von 1971 und ist vernichtend: «Ein Instrument von derart geringer Objektivität und Zuverlässigkeit ist absolut ungeeignet, so anspruchsvolle Funktionen zu übernehmen.»[12]

Die Studien, die Ingenkamp zitiert und in seinem Band abdruckt, belegen eindrücklich, was seit 50 Jahren Stand der Wissenschaft ist. In einer Nebenbemerkung betont der Autor, Lehrkräfte würden trotz dieser Studien und einem Verständnis für die Problematik weiterhin darauf bestehen, dass ihren Urteilen eine hohe Objektivität zukomme. Diese Wahrnehmungsverzerrung verbindet diese beiden Seiten der Notenkritik: Sie werden aus systemischen Gründen verdrängt. Weil Lehrende Noten setzen müssen und im System wesentliche Funktionen an Noten gebunden sind, müssen Beteiligte ausblenden, wie problematisch die Notensetzung an sich ist. Felix Winter schreibt dazu, in der wissenschaftlichen Literatur gebe es «kaum Argumente» für die Praxis der Ziffernbenotung: «Diese gut belegte Tatsache wird allerdings von allen Beteiligten (Lehrer, Schüler, Eltern) in der Regel nicht so gesehen.» Der Grund dafür liegt für ihn darin, dass «Noten sehr einfach gemacht werden können und nur schwer extern zu überprüfen sind».[13] Für Lehrende wäre jedes andere System mit mehr Aufwand verbunden – und für Eltern und Lernende ist nicht direkt erkennbar, wie ungenau und unfair Noten sind. «Schematische und pauschale Leistungsziele und entsprechend pauschale Leistungsbeurteilungen müssen durch differenzierte und begründete, strukturierte Lernziele, lernzielorientierte Tests und entsprechende Beurteilungskriterien ersetzt werden. In zunehmenden Maße sollten auch Schüler und Schülerinnen an diesem Begründungs- und Differenzierungsprozess beteiligt werden […], so dass eine in ihren Kriterien uneinsichtige Fremdbeurteilung schrittweise durch Selbst- und Mitbeurteilung seitens der Schüler ersetzt werden kann.»[14] Was Wolfgang Klafki in einem Vortrag 1973 als Gedankengang entwickelt hat, hat sich als Problem kaum verändert: Beurteilungen sind pauschal und zu wenig differenziert.

Die folgenden Abschnitte klären und verdeutlichen diese Kritik, indem sie in differenzierte Aspekte unterteilt wird.

Eine Schule ohne Noten (E-Book)

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