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Das Problem der unterschiedlichen Bezugsnormen
ОглавлениеFür die Beurteilung einer schulischen Leistung werden üblicherweise drei Bezugsnormen angenommen:
1 die Sachnorm oder kriteriale Norm, die sich an den sachlichen Anforderungen orientiert,
2 die Sozialnorm, die eine Leistung in Bezug zu einer Vergleichsgruppe setzt,
3 die Individualnorm, bei der gemessen wird, wie sich eine Leistung im Verhältnis zu einem früheren Leistungsstand einer lernenden Person ausnimmt.
Die beiden ersten Bezugsnormen dominieren die schulische Praxis. Über die Anwendung der Individualnorm können in schulischen Kollegien heftige Konflikte entbrennen, etwa dann, wenn sich die neue Sportlehrerin nicht mehr an den Wertetabellen für Leichtathletik orientieren möchte, die seit Jahren in Gebrauch sind, sondern die individuelle Verbesserung von Weiten oder Zeiten innerhalb eines Übungszeitraumes zur Grundlage ihrer Benotung macht. Das deutsche Bundesland Brandenburg hat als eines der wenigen die Individualnorm im Schulgesetz verankert: «Die Leistungsbewertung bezieht sich auf die im Unterricht vermittelten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten [Sachnorm]. Dabei werden der Leistungsstand der Lerngruppe [Sozialnorm] und die Lernentwicklung der Schülerin oder des Schülers [Individualnorm] berücksichtigt.»[15] Die konkrete Realisation der drei unterschiedlichen Bezugsnormen, ihre Gewichtung oder ihre situationsabhängige Anwendung bleibt den beurteilenden Pädagogen überlassen. Und so kann es – um beim Beispiel der Leichtathletik zu bleiben – dazu kommen, dass die gleiche Leistung sehr unterschiedlich bewertet wird, je nachdem, welche Bezugsnorm angewendet wird: Möchte die Lehrkraft eine Normalverteilung der Noten erzeugen und vergleicht sie die Einzelleistung mit denen innerhalb der Lerngruppe? Orientiert sich die Lehrkraft an den vorgegebenen Werten jenseits der Lerngruppe («Sachnorm») oder vergleicht die Lehrkraft die abschließend erbrachte Leistung mit der zu Beginn der Unterrichtseinheit gemessenen Ausgangsleistung und leitet aus dem Maß der Verbesserung die Note ab? Externe Faktoren der Steuerung, wie etwa vorgegebene Notenbänder, erschweren es zusätzlich, einheitliche Bezugsnormen zu etablieren – weil Sach- oder Individualnormen es möglich machen, dass alle Lernenden gute oder sehr gute Bewertungen erhalten würden. Die Schwierigkeiten, die sich hierbei ergeben, werden dadurch verstärkt, dass ein Bewusstsein für und die Transparenz über die Anwendung der drei Bezugsnormen oft nicht gegeben sind. So mischen sich die unterschiedlichen Funktionen der Notengebung (Information, Selektion, Rückmeldung). Die Forschung betont die nachgewiesenen positiven Auswirkungen der angewendeten Individualnorm auf die Leistungsmotivation der Lernenden, konstatiert aber ebenso die nachgewiesene massive Unterrepräsentation der Individualnorm in der schulischen Praxis.[16]