Читать книгу Entwickle deine Fotografie! - Pia Parolin - Страница 13
1.4 HÖHERENTWICKLUNG
ОглавлениеNicht alles Knipsen ist Fotografie, nicht alle Fotografie ist Kunst. Der Weg zu kunstvolleren Fotos ist ein langsamer Prozess, der mit innerer Reifung zu tun hat, aber auch mit hinterfragen, auseinandersetzen, in die Tiefe gehen.
Die Reihenfolge ist: erst verstehen, dann verbessern und wachsen. Vom anfänglichen Knipsen führt die Entwicklung über das Fotografieren dazu, wirkliche Kunst zu machen. Ich kategorisiere das der Einfachheit halber.
Natürlich sind die Abgrenzungen beliebig. In Wirklichkeit gibt es keine klaren Grenzen zwischen Knipsen, Fotografieren und Kunst. Aber das Schubladendenken hilft. Einzige Voraussetzung: Zum Vereinfachen müssen wir viel wissen. Sonst tappen wir in die Falle, von falschen Annahmen auszugehen. Das endet nicht mit einer Höherentwicklung, sondern im Frust.
Beginne nicht mit der Idee, die Fotografie und Kunst revolutionieren zu wollen. Versuche vielmehr, sie zu verstehen und dich dann zu verbessern. Lass dir dabei Zeit zu reifen, wie eine Frucht in der Sonne. Egal von welcher Startposition aus du dich auf die Reise begibst – ob Amateur, Fortgeschrittener oder Profi –, du kannst überall in die Aufwärtsspirale einsteigen und dich weiter hochschrauben.
Jeder Anfänger beginnt erst mal recht beliebig und ohne große Vorkenntnisse, hier und da auszulösen. Dann kommt die Phase, in der du Technik und Bildaufbau beherrschst – du kannst fotografieren. Aber es fehlt noch dieser letzte Schritt, so richtig Emotionen und tiefe Aussagen durch deine Fotos zu vermitteln. Von dieser Reise handelt mein Buch.
Der berühmte französische Fotograf Henri Cartier-Bresson (1908–2004) glaubte an den Zufall. Er wusste aber auch genau Bescheid, wie er dem Zufall auf die Sprünge helfen konnte. Das versuche ich hier zu verstehen, in Einzelschritte herunterzubrechen und dir auf klare Weise als Anleitung an die fotografierende Hand zu geben. Ich habe dafür ein Gedankenkonstrukt entwickelt (siehe Schema 1), das in der Entwicklung hilft.
1–10 Schema 1 Entwicklung vom zufälligen willkürlichen Knipsen über die Fotografie – mit Beherrschung der Technik, der Ziele, der Ergebnisse und entsprechender Freude – hin zur Kunst. Mit der Kunst weckst du Emotionen und schaffst Neues, indem du dein Ich, deine Erfahrungen, Gefühle, Ängste und Freuden, deine Mitteilungen und Kritikpunkte einfließen lässt. Der hier dargestellte Ablauf ist nicht als erschöpfend zu betrachten. Der Weg ist nicht immer so kategorisch und linear, wie ich ihn im Schema darstelle. Die Übergänge vom amateurhaften Knipsen über die funktionierende, aber eher emotionslose Fotografie hin zur Kunst sind fließend. Es gibt keine klare Grenzlinie, so wie es keine zeitliche Abfolge gibt, der du folgen kannst oder musst: Viele Entwicklungen laufen parallel. Du kannst die zwei aufeinander aufbauenden Ziele verfolgen. Sie können, müssen aber nicht zeitlich getrennt sein. Eine ausführliche Beschreibung steht im Text.
Schema 1 zeigt ein vereinfachtes Denkgerüst, das es leichter machen soll, zuerst deine eigene Fotografie zu verbessern und auf ein höheres Niveau zu bringen und dann den Anspruch zu verfolgen, als Künstler wahr- und ernst genommen zu werden.
Beim anfänglichen Knipsen werden Zufall und Willkür dir vielleicht manches schöne Bild bescheren. Je nachdem, wie lange du schon fotografierst, wirst du erst einmal damit anfangen, vom Knipsen zum Fotografieren überzugehen (A im Schema). Knipsen ist das beliebige Runterrattern nach dem »Spray and pray«-Prinzip, also nicht sonderlich überlegt oder gezielt, keinem Thema oder keiner Stimmung folgend. Du drückst unaufhörlich auf den Auslöser, »sprühst« (»spray«) riesige Datenmengen auf deine Speicherkarte und innerlich betest du (»pray«), dass etwas Brauchbares dabei sein möge. Du steigerst die Anforderungen an dich selbst, baust deine Fähigkeiten durch Übung aus und so steigt die Qualität deiner Bilder. Du näherst dich dem tiefgründigen, sensiblen Umgang mit Fotos. Die Höherentwicklung spielt besonders in der Anfangsphase eine wesentliche Rolle, beim Übergang vom amateurhaften zum überlegten Fotografieren: Du konzipierst bewusst deinen Bildaufbau, Belichtung, Perspektive und vieles mehr. Das Ganze läuft dann selbstverständlich und unterbewusst in die Kunst weiter.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt in deiner Entwicklung ist es aber nicht mehr damit getan, dass du Anforderungen, Fähigkeiten und Qualität steigerst. Du bist technisch so weit ausgereift, dass du keine groben Fehler mehr machst. Das Niveau der Fotografie ist gut, aber deine Bilder bleiben beschreibend. Sie gleichen eher einer Reportage. Das ist ein gutes Niveau, aber da geht noch mehr (B im Schema).
Im Surrealen entdeckt sich eine Welt des Geheimen und Rätselhaften, in die wir uns als denkende Wesen hineingestellt erfahren, in Kunst und Philosophie gleichermaßen.
Wolfram Hogrebe (deutscher Philosoph)
Für den Übergang zur Kunst musst du tiefer schürfen. Hier kommt der intellektuelle Anspruch mit ins Spiel, an dich und an deine Fotografie. Du suchst den Ausdruck von Emotionen und Reflexion. Du setzt dich intensiv damit auseinander, was du willst, was du auszudrücken versuchst und wie du deine Gefühle mit einbringst. Es ist deine eigene emotionale Auseinandersetzung mit dem, was dich umgibt. Bleibt sie rational, ist es eher eine Reportage, in der du in journalistischer Form Dinge wiedergibst. Aber deine Leidenschaft spielt hier mit hinein. Du lässt möglichst viel von dir selbst, von deinem Ich, von deiner Seele mit einfließen. Du gehst also in die Tiefe deines Ichs und hörst in dich hinein. Dann wird die natürlich vorhandene Kreativität dir helfen, etwas Neues, Starkes zu erschaffen.
1–11 Wie das in Schema 1 beschriebene Gedankenkonstrukt ist dieses Foto ein Erzeugnis mit Elementen, deren Zusammenhang so in der Wirklichkeit nicht wahrgenommen wird. Durch den selektiven Aufbau, die tiefe Perspektive, das Einschließen eines Teiles des eckigen Geländers und die surreale Präsenz von Statuen und einem Menschen wird das Ganze zu einem neuen Gesamtbild, das nicht unbedingt in der Realität so erscheint und dennoch nicht künstlich durch Bildbearbeitung zusammengefügt wurde. Die Perspektive erreichte ich, indem ich mich flach auf die Treppen legte, die zur Place Massena in Nizza hochführen. Das mag so manchen Passanten verwundert haben. Die Verwunderung spricht nachher auch aus dem Bild.
AUFGABE
Ordne dich selbst in Schema 1 ein. Wo befindest du dich in der Entwicklung, wo möchtest du hin? Überlege dir, welche praktischen Schritte du unternehmen kannst oder musst, damit du dich hochschraubst in der Spirale der Schönheit und Tiefgründigkeit deiner Bilder. Sei vor allem ehrlich zu dir selbst und halte die Kluft zwischen Wunschdenken und Realität möglichst schmal. Nur so kann das Schema dir eine Brücke bauen.