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1 EINLEITUNG – ICH BIN DANN MAL KÜNSTLERIN

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Kunst ist die Grundlage menschlichen Ausdrucks. Sie ist ein wahnsinnig toller Teil unseres Lebens. Während der Coronakrise fiel das besonders auf. Plötzlich fehlte etwas Wichtiges im Leben – außer Fußball, mit Freunden in die Kneipe zu gehen oder dem Friseurbesuch: Museen, Ausstellungen, Theater, Vernissagen, Musikevents, kurz: Kunst war nicht mehr greifbar. Vieles war vorübergehend geschlossen, verboten, abgesagt. So mancher wird erst zu dem Zeitpunkt, als dies alles nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung stand, den wahren Wert der Kunst bemerkt haben.

Bevor ein Kind spricht, singt es.

Bevor es schreibt, malt es.

Sobald es steht, tanzt es.

Phylicia Rashad (amerikanische Schauspielerin,

Sängerin und Regisseurin)

Kunst ist bereichernd, sie kann schön sein, zum Denken anregen, Lust und Freude erzeugen, Kreativität und Glücksempfinden stärken. In jeder Kultur, in jeder Lebensphase, vom Kleinkind bis zum Greis, spielt Kunst eine Rolle. Allzu oft verlernen wir es, das künstlerische, kreative Wesen, das uns innewohnt, zu kultivieren. In manchen Berufen wird es uns förmlich aberzogen, künstlerisch frei zu sein. Als Rechtsanwalt, Elektriker, Forscher oder Buchhalter sollen wir möglichst seriös und sachlich, nicht emotional und schon gar nicht sentimental an Dinge herangehen. Kreativ und erfinderisch sind wir aber durchweg, um auch in diesen Berufen erfolgreich zu sein. Es ist also nicht ganz verloren, das Fünkchen emotionales Ich, das jeden von uns zu einem einmaligen Wesen voller Ideen macht. Und damit ist der Weg nicht mehr weit, um bewusst mehr Kunst zu leben.

Die Stärke von Kunst wurde mir auf wundervolle Weise in der gigantischen U-Boot-Bunkeranlage in Bordeaux klar. Dieser monumentale Bau aus der Nazizeit widerstand jahrzehntelang allen Versuchen, ihn mit Sprengstoff oder neuester Technik zu zerstören. Bis die Kunst ihn besiegte: 2020 eröffneten die Bassins de Lumières, eine Lichtbildschau mit den goldumwobenen Gemälden Gustav Klimts. So reißt im heute weltweit größten digitalen Kunstzentrum der Welt die Kunst die Gefühle mit sich. Bomben und Krieg werden von der Kunst in die Schranken gewiesen und durch sie neu definiert. Wo eine Abrissbirne nicht mal Kratzer hinterlässt, vermag die Kunst alle Sinne zu erwecken und die Gedanken wegzusteuern vom Größenwahn der Nazis. Nur die Kunst hat es nach so vielen Jahrzehnten geschafft, das vermeintlich »Unkaputtbare« zu zerstören und mit etwas Neuem, Positivem zu verbinden, das auch allgemein verständlich ist. Das zeigt, wie selbst die fixiertesten Bedeutungen durch Kunst verändert und neu freigespielt werden können.

In der Kunst geht es um mehr als nur um die Umsetzung kreativer Ideen. Kunst dreht sich um Auseinandersetzung, Tiefe. Es geht darum, aktiv zu sein und die Welt zum Nachdenken anzuregen, Menschen zu berühren und dadurch aus ihrem Inneren heraus den Dialog auf einer neuen Ebene zu suchen. Kunst regt an und dient als Alternative oder Ergänzung zu Extinction Rebellion, Fridays for Future, #metoo, Gay Pride, Black Lives Matter und wie sie alle heißen – die Bewegungen, die versuchen, das menschliche Denken und Handeln in neue Richtungen zu lenken.


1–2 Selbst sachliche Botaniker können davon profitieren, in ihren Fotos Emotionen und Schönheit anzusprechen, anstatt reine Fakten zu vermitteln. Die künstlerische Art, eine Blüte darzustellen, vermittelt kein Wissen, sie appelliert an Leidenschaft und Freude. Hier habe ich mit Weißabgleich und Überbelichtung gespielt.

Die Kraft der Kunst kannst du in deine Fotografie einbauen. Darum geht es in diesem Buch. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf dem Handwerklichen, sondern vielmehr auf deiner Persönlichkeitsentwicklung. Wenn du deine Fotografie weiter entfalten möchtest, wirst du dich auch als Mensch verändern. Streng genommen ist die Reihenfolge sogar umgekehrt: Du entwickelst dich als Individuum, und die Fotografie folgt dieser Entwicklung. Du wirst deine Wahrnehmung schärfen: zuerst die Wahrnehmung deiner selbst und dann die Wahrnehmung all dessen, was dich umgibt. Du wirst genauso impulsiv und spaßgetrieben, aber mit mehr Hintergrundwissen an die Fotografie herangehen. Mit mehr Überlegung darüber, was du spürst und zeigen willst, was du reizvoll oder kritisch findest, begegnest du übergeordneten Themen, die nicht nur deine Fotografie, sondern dein Leben betreffen.

Du verbindest deinen intellektuellen Anspruch mit deinen Fotos, willst vielleicht einen kritischen Ansatz und ernst zu nehmende Aussagen vermitteln. Oder du willst einfach ausdrucksstarke Bilder machen, die von deinem Innersten herrühren. In dem Moment, in dem diese Verbindung entsteht, bist du in der Kunst angelangt. So grenzt du dich von einem Hersteller von Deko-Gegenständen, von einem Kunsthandwerker und von all jenen ab, die mit ihren Fotos nur ein »Hier bin ich gewesen« dokumentieren.


1–3 Meine Interpretation von »Ist das Kunst oder kann das weg?«: ein Mülleimer vor dem Meer an der Côte d’Azur, das nach einem Sturm in denselben Farben leuchtet. Aber nicht das Meer hat sich angepasst, sondern die Stadt hat sich aus verständlichem Grund überlegt, diese Farbe für Plastiktüten auszuwählen.

Kunst wird seit jeher kontrovers diskutiert, ist in aller Munde. Das Schwierigste: Jeder ist irgendwann irgendwie scheinbar ein Kunstexperte. Es ist eine sehr eitle Szene, die schnell an Begriffe wie Talent und Mäzenatentum gebunden wird.


1–4 Ist so ein Foto Kunst, Verzierung, Dekoration oder Kitsch?

Warum sollte jemand Künstler oder Künstlerin sein wollen? Ich habe mich auf die Suche nach Antworten und einem Weg ins Reich der Künste begeben. Es ist mir klar, dass es, wie so oft, keine allgemeingültigen Rezepte gibt und dass jeder für sich selbst seine Richtung finden muss. Auch bin ich noch nicht am Ziel, und ich werde vielleicht niemals ankommen. Aber ich habe präzise recherchiert, und meine Gedanken, persönlichen Erfahrungen, Möglichkeiten und Erkenntnisse möchte ich teilen.

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