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Kapitel 1 Swan Valley I

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Kaum war ich geboren, entschieden sich meine Eltern aus ihrer gewohnten Welt auszubrechen, um weit weg, auf der südlichen Halbkugel, eine neue Existenz aufzubauen.

Das spurlose Verschwinden meines Großvaters Paul, zehn Jahre zuvor in Südafrika, sowie der plötzliche Unfalltod meiner Großmutter Lena gaben ihnen das nötige Startkapital dazu.

Vor ihrer endgültigen Abreise mussten sie jedoch noch zwei schwere Hürden nehmen. Zum einen war da die legale Todeserklärung meines Großvaters, welche offiziell erst nach Ablauf der zehnjährigen „Wartefrist“ erfolgen konnte. Und zum anderen schmerzte die Beteiligten, der darauf folgende bürokratische Vorgang der Erbteilung, - ein oft so kläglicher Versuch, auf rein rationale Art, die Quintessenz zweier Leben zu teilen. Schwer wog hier besonders, dass eine Entscheidung über den Verbleib des elterlichen Vermächtnisses gefällt werden musste. Aber da auch der Bruder meiner Mutter keinerlei Interesse an der Weiterführung des Familienunternehmens zeigte, wurde der Verkauf, in geschwisterlicher Übereinstimmung und erstaunlich lukrativ, abgewickelt. Die Obstplantage, die dazugehörigen Fabriken, der Weinberg, das elterliche Haus am Bodensee und alle damit verbundenen Erinnerungen existierten fortan nur noch in ihren Gedanken.

Meine Mutter Carolin litt sehr unter dem Verlust ihrer Eltern, hatte aber - dank der neuen Zukunftsperspektive – wenig Zeit, sich ihrem Kummer hinzugeben.

Meine Eltern einte eine tiefe Verbundenheit zur Natur. Es war ihr lang gehegter Wunsch, gemeinsam ein Weingut aufzubauen. Vor der Hochzeit arbeitete mein Vater Nicholas als Bauingenieur beim Straßen- und Brückenbau, vor allem in Westaustralien. Er fühlte sich auf der anderen Seite der Welt sofort wie zu Hause. All seine freie Zeit verbrachte er damit, die abwechslungsreiche Landschaft um Perth auszukundschaften und das mediterrane Klima zu genießen.

So kam er schließlich auch ins „Swan River Valley“, der Name versprach ihm Mystisches. Der Schwanenfluss fließt vom Walyunga Nationalpark aus, auf seinem Weg zum Indischen Ozean, durch das Swan Valley, Perth, Guiltford und Fremantle. Den Namen erhielt der Strom von den schwarzen Schwänen, welche sich längs der Ufer niedergelassen hatten. Dorthin wollte er gehen und dorthin begaben sich nun beide einem ungewissen Glück entgegen.

Mich ließen sie zunächst zurück im Hause meines Onkels Patrick - dem Bruder meiner Mutter, der mit seiner Frau Sarah und ihrem gemeinsam Sohn Jonah am Starnberger See lebte. Sobald wie möglich wollten sie mich nachkommen lassen.

Meine Eltern erstanden gemeinsam ein bereits bestehendes Gut am Oberlauf des Swan Rivers, etwa 25 km weit von der Stadt Perth entfernt. Von der stark befahrenen Hauptstraße abgehend, begleitete eine geschwungene Privatallee, mit unzähligen, weißen Oleanderbüschen, den Besucher zum ebenfalls weißen, weit abgelegenen Wohnhaus.

Im typisch viktorianischen Baustil erbaut, bot es uns Kindern später ausreichend Unterschlupf und reichlich Möglichkeit unsere Fantasie zu entwickeln. Man musste nur wenige Stufen auf einer breiten Treppe nach oben steigen, um auf die rund um das Haus laufende, überdachte Holzterrasse zu gelangen. Auf diesem Niveau lagen der Hauseingang, die Küche sowie der Wohn- und Essbereich. Den zweiten Stock, ausschließlich Schlafdomäne, zeichneten Giebel, Erker und zwei Türme aus, gaben der Idylle etwas Erlauchtes.

In gebührendem Abstand wuchsen zur rechten Seite ein gewaltiger Eukalyptusbaum und eine Goldakazie, die nur zu gerne blühte. Ringsum erstreckte sich die Weinbepflanzung, die Hügel bedeckend.

Gerade zum richtigen Zeitpunkt, denn nach einer rückläufigen Phase in den 60er Jahren, begann die Weinproduktion in Australien wieder zu florieren.

Das noch unbekannte Land, die fremden Menschen und die neue Sprache waren für beide eine große Herausforderung. Und sicher haben sie mir nicht alles wahrheitsgetreu erzählt, aber durch ihren schon fast starren Glauben an die Sache kamen sie voran.

Das Swan River Valley galt als Wiege des Weinanbaus in Westaustralien. Die Gegend verfügte daher über ein ausreichendes Angebot an Personen mit Fachwissen und somit hatten meine Eltern wenig Sorge damit, Unterstützung zu finden. Carolin, aus einem Agrarbetrieb stammend, hatte Erfahrung und Gespür im Umgang mit Pflanzen und so übernahm sie die Kultivierung der Reben, Shiraz und Sauvignon. Nach der Ernte betreuten sie gemeinsam den Herstellungsprozess, bis hin zur Abfüllung. Carolin war für ihre Kreativität und Nicholas für seine Leichtigkeit, dies in Reichtum zu verwandeln, bekannt.

Nach doch fast vier Jahren holten sie mich dann endlich zu sich nach Hause. Ich gewöhnte mich schnell an die neue Umgebung, die Erinnerung scheint in diesem Alter gerne zu verblassen. Allerdings war diese neue, intensive Dreisamkeit nur von kurzer Dauer, - vielleicht zu kurz. Denn schon bald nach meiner Ankunft kündigte sich die meiner Geschwister an. So wurden sie also direkt in dieses schöne Leben hineingeboren und wir wuchsen gemeinsam inmitten grüner Reben und schwarzer Schwäne auf.

Von Beginn an versuchten mir meine Eltern begreiflich zu machen, dass meine späte Ankunft im Swan Valley eine Unumgänglichkeit gewesen sei. Ein Verzicht für sie und für mich, zugunsten einer aussichtsreicheren Zukunft. Sie wollten, dass es mir an nichts fehle, im ersten Lebensjahr. Sie meinten, dass der Anfang hier in Australien, für mich als Baby, zu anstrengend gewesen wäre. Zumal sie auch kaum Zeit übrig gehabt hätten.

Eigentlich hatten sie nur ein Jahr warten wollen, aber dann waren es doch vier geworden. Sie waren sicher, dass dies an sich nichts Ungewöhnliches sei. Ganz im Gegenteil waren sie davon überzeugt, dass ich bei Sarah, Patrick und Jonah hervorragend aufgehoben gewesen war. Dass ich schließlich erst mit vier Jahren ankam und bald danach noch die Zwillinge, Tim und Maximiliane, geboren wurden, war nicht beabsichtigt sondern einfach so gekommen.

Meine Eltern versuchten uns Geschwister ebenbürtig zu behandeln, aber wir wollten so gar nicht übereinstimmen. Die drei gilt als besondere Zahl, als perfekt - in der Mythologie, den Naturwissenschaften, der Religion, der Musik. Aber in unserem Falle gelang es mir lediglich, diese Magie infrage zu stellen. Das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber beruhte in der Hauptsache auf ihrem schlechten Gewissen. Nicht, dass sie mich nicht liebte - nein. Aber sie zwang mich zu sehr, sie in ihrer Rolle anzuerkennen und zu akzeptieren. In Maximiliane hingegen, auch Lilly genannt, erkannte sie ihr Spiegelbild. Und was sie sah, fand ihren Gefallen.

Sie hielt uns Kinder gerne wie Fäden in der Hand und zog mit Geschick, den einen hierhin und den anderen dorthin. Um mit einem Hauch von Intrige schließlich immer ihren Willen durchzusetzen.

Mein Vater hingegen hatte wenig Zeit sich zu kümmern und offen gesagt kümmerte ihn das alles reichlich wenig. Für ihn war es wesentlich und ausschlaggebend eine Familie zu haben, und Unstimmigkeiten waren keine Probleme, sondern Würze. Einen männlichen Erben hatte er auch aufzuweisen und somit würde der Name, die Familie weiter Bestand haben.

Seine Arbeit war seine ganze Leidenschaft und er ging vollkommen in ihr auf. Nur dann und wann - ließ er von ihr ab. Um Alltagsflucht zu betreiben, einfach so, spontan, wenn auch leider nur sehr sporadisch. Wer ihm in diesem seltenen Moment über den Weg lief, war chancenlos mit von der Partie. Nachtwanderung bei Neumond, Cross-Golf im Weinberg, Ballonfahrt über Perth, zu allem und zu jedem "Ja" sagen, Krabbenwettessen, Beach Kricket, Mitternachtspicknick mit Lagerfeuer, Kinotriathlon, Kamelritt am Strand … Da ich nie genau wusste, wann es soweit war, trieb ich mich gerne in seiner Nähe herum. „Flüchten“ mit meinem Vater konnte nämlich ganz schön schön sein.

Tim hatte eine, von der Natur bedingte, besondere Beziehung zu seiner Zwillingsschwester und war ein ausgesprochen zurückhaltender, in sich ruhender Junge. Nur reizen durfte man ihn nicht, denn dann kam seine ungeheuer aggressive Veranlagung zum Vorschein. Zur Enthüllung dieser, musste man allerdings einen gewissen Aufwand betreiben und sich dann allerdings am besten verstecken.

Lilly, als Gegenstück, gefiel es zu gefallen und pflegte keine Distanzen. Sie verfügte über eine ausgeprägte emotionale Intelligenz, welche sie vorzüglich zur Manipulation anderer einsetzte. Wir beide unternahmen nur selten etwas zu zweit. Unsere Ausflüge glichen dann allerdings auch eher einem Wettstreit, als einem gemeinsamen Abenteuer und wir beendeten sie gerne schmutzig, sowie hier und da lädiert.

Geradezu eingebrannt hat sich die Erinnerung an unsere letzte Mutprobe; dem Ersteigen eines schräg gewachsenen Baumes, welcher weit über ein munteres Bachbett ragte. Infolge eines Unwetters halb entwurzelt und brüchig, fristete er sein Dasein, in dem er sich immer mehr in Richtung Wasser neigte. Lilly stieg zuerst nach oben, den Wipfel fest im Auge. Ich folgte, hielt mich weiter rechts und brach sofort mit einem gewaltigen Ast ins Wasser. Zu Hause angekommen wurde ich, nass und mit blauen Flecken, für mein Benehmen gerügt, während Lilly, vor Tapferkeit glänzend und total trocken, Bewunderung erntete.

Nicht nur deswegen, aber vielleicht auch weil ich den entspannten Umgang mit meinem Cousin Jonah gewohnt war, fühlte ich mich eher zu Tim hingezogen. Wir beide verbrachten gerne und viel Zeit draußen, ohne zu reden, nur um zu beobachten. Tim entwickelte mit den Jahren ein wahres „Auge“, zeichnete, malte und fotografierte. Während ich mich, außer der Ästhetik, gerne der Konstruktion widmete, wie z. B. ein Baumhaus mit Waldmöbeln zu bauen.

Mit der Zeit wuchsen wir dann doch alle zusammen und jeder suchte sich den Platz, der ihm am besten passte. Ein leicht pendelndes Gleichgewicht hatte sich gefunden.

Der Besucherstrom auf unserem Gut floss ohne Unterbrechung. Ob nun Freunde, Angestellte, Käufer, Lieferanten, Künstler oder Reisende, alle kamen gerne und wieder. Meine Eltern liebten diesen Trubel, der sie mit Energie zu versorgen schien. Und wer dann doch den Wunsch hegte, gelegentlich einmal auszubrechen, fand in der Gegend rund um Perth nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten.

All das machte mein Leben abwechslungsreich und anregend. Aber nichts und niemand konnte die tiefe Zuneigung, die ich von Sarah erhalten hatte, ersetzen. Manchmal träumte ich sogar von ihr und nur dann war ich fast glücklich.

Dass sie nicht mehr lebte, erfuhr ich nicht unmittelbar nach ihrem Tode, sondern erst viel später. Eines Morgens, während ihres täglichen Schwimmtrainings, soll sie im Starnberger See ertrunken sein. Ein tragischer Unfall. Sie nie wieder sehen zu können verunsicherte mich sehr und ich beschloss, nie wieder von ganzem Herzen zu empfinden.

Diese innere Überzeugung verteidigte ich lange erfolgreich und mit Resistenz. Das in der Liebe aufregende Wechselspiel von Melancholie und Euphorie fand in mir keinen Partner.

Daniele kannte ich da noch nicht, aber mit ihm sollte sich alles für mich ändern.

Mit einer Leichtigkeit setzte er sich über meine Vorsicht hinweg, rannte meine Klippen hinauf und Schranken hinunter. Er versetzte mich in einen, für mich exotischen, unkontrollierbaren Gefühlsstatus, den ich erst näher kennenlernen musste. Als ich gelernt hatte besser damit umzugehen, wurde mir dennoch schnell klar, dass sich eine gewisse Abhängigkeit eingeschlichen hatte.

Meine Geschwister Tim und Lilly teilten sich ihre große Liebe zu diesem Land und ich, Emma, liebte nur Daniele.

„Es gibt nur noch zwei Zeiten für dich“, meinte Tim, „m.D. oder o.D.“

Mit Daniele oder ohne Daniele. War er nicht da, fehlte mir mehr als die Hälfte, nur in seiner Anwesenheit fühlte ich mich ausgefüllt. Mein vorheriges Leben trat in den Hintergrund und ich sah meine Gegenwart und Zukunft nur mit ihm. Ich war mir so sicher und riskierte, Menschen dafür vor den Kopf zu stoßen.

Mein Vater beurteilte diese Situation ganz genau und daher auch seine Intention, mich zum Studium nach Deutschland zu schicken. Es sollte nur für ein Jahr sein.

„Was sind denn schon zwei Semester mein Schatz“, meinte mein Vater. „Patrick und Jonah freuen sich sehr auf dich. Wir haben doch immer schon darüber gesprochen.“

Ich versuchte mich herauszuwinden, aber in diesem Falle blieb er unempfindlich. Nicht wegen Daniele oder dessen Familie, sondern aufgrund der Tatsache, dass ich mich verändert hatte - weg von der Eigenständigkeit. Er wollte verhindern, dass ich meine Persönlichkeit auflöste, mich zu sehr anpasste.

Er wollte mir helfen.

Das ging nun wirklich schwer in meinen Kopf.

Ich konnte meinen Vater nicht verstehen und wollte dies auch nicht.

Seine Argumentation traf meinen Kopf hart, prallte aber ab. Ehrlich gesagt nahm ich ihm die Beschreibung meines neuen „Seins“ übel und war beleidigt - fast schon aufgebracht.

Gegen die Entscheidung meines Vaters konnte ich allerdings nichts mehr tun, da er meinen Onkel in München bereits informiert hatte. Sehr geschickt!

Aber, - ich konnte ihm im Gegenzug ein Schnippchen schlagen. Ja, das konnte ich! Ich beschloss, mit Daniele eine Alternativstrategie auszuarbeiten. Auch er sollte nach Europa reisen, nach Florenz.


Geheim, geheim.

Tief Verborgen

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