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Kapitel 4 Im Wandel/München

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Um zukünftigen Problemen aus dem Weg zu gehen, hatten meine Eltern beschlossen, mich zum Studium ins Ausland zu schicken. Das war auch immer mein Wunsch gewesen, aber eben nicht gerade jetzt.

Da ich meine ersten Lebensjahre in Deutschland bei meinem Onkel Patrick verlebt hatte, welcher mit seiner Familie am Starnberger See wohnte, lag es folglich nahe, mich zum Studium eben genau dorthin zu schicken.

Die Umgebung war mir also nicht unbekannt, bedenkt man außerdem den herrlichen Sommer, welchen ich vor vielen Jahren, gemeinsam Jonah und seinen Großeltern, dort verbringen durfte.


Mein Onkel arbeitete als Firmenanwalt für eine belgische Firma mit Sitz in Antwerpen, verbrachte allerdings die meiste Zeit im technologisch avancierten Bürotrakt seines Hauses am Starnberger See.

Jonah studierte Wirtschaftspsychologie an der LMU München. Sein heiß geliebtes Steckenpferd war jedoch die Zukunftsforschung. Freiberuflich arbeitete er für eine Beratergruppe, welche anhand der Zukunfts- und Trendforschung, Unternehmen bei deren Strategiearbeit unterstützte. Über seine tägliche Terminplanung gab er keine Auskunft, in diesem Punkt bestand er auf seine persönliche Freiheit. Man wusste somit also nie genau, wo er war, sicher war aber, dass auch er am liebsten von zu Hause aus arbeitete.


Die kleine Wohnung in Bogenhausen, ein Relikt aus ihren vergangenen Studientagen, nutzten sie kaum noch und somit durfte ich dort einziehen. Die Mansarde befand sich in einem vergessen scheinenden Wohnhaus. Ein einziger, gut geschnittener Raum, mit offener Küche und separatem Badezimmer, wurde gekrönt von einer überraschend großen, nicht einsehbaren Dachterrasse. Die Einrichtung war maskulin übersichtlich, aber zeitlos. Ich hatte die Erlaubnis dies zu meinen Gunsten zu verändern, was ich sofort auch tat.


Schon von klein auf wusste ich genau, was ich werden wollte und so hatte ich mich an der Fakultät für Architektur eingeschrieben. Zum ersten Mal war ich also ganz alleine. Selbstständig zu sein, gehörte zu meinen guten Eigenschaften, aber alleine zu sein, war mir neu. Um dem entgegen zu gehen, bewarb ich mich, neben meinem Sommer-Praktikum in einem Architekturbüro, zusätzlich noch bei einem, an der Universität ausgeschriebenen Klimaprojekt. Die Woche über widmete ich mich dem Wissenserwerb und am Wochenende fuhr ich raus an den See.

Mit der Zeit gewöhnte sich mein neues Leben an mich und die Erinnerungen an Perth entfernten sich ganz allmählich. Ich begann mich wohlzufühlen.

Daniele fehlte mir anfänglich sehr. Aber ich durfte einfach keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden – nachdem, was inzwischen vorgefallen war.

Ausgerechnet Lilly! Das hätte er mir nicht antun dürfen.


Meine Geschwister befanden sich mittlerweile im letzten Schuljahr und waren in Sachen kreativer Zukunftsplanung nicht zu übertreffen. Ich hatte gehofft, dass Tim sich auf jeden Fall für einen Aufenthalt in Europa entscheiden würde, wurde aber nur mit einer Urlaubsandrohung belohnt. Wir drei waren schon immer sehr unterschiedlich gewesen, was unsere gegenseitige Zuneigung nicht schmälerte, uns aber Grenzen setzte.


Jeden Montag flog mein Onkel nach Antwerpen oder London, wohin ich ihn ein paar Mal begleiten durfte. Lieber blieb ich allerdings am See. Vor allem, nachdem sie mir das Angebot gemacht hatten, einige architektonische Besonderheiten zu überdenken. Im Haus konnte ich mich frei bewegen, wenn auch ihre Privatbereiche absolut tabu waren.

Obwohl das Grundstück einsam und abgelegen lag, fühlte ich mich dort sicher. Das Gelände wurde durch ein ungewöhnlich modernes Alarmsystem überwacht und außerdem war da noch Sean, Jonahs Collie. Im Notfall konnte ich auch zu einer Waffe aus Patricks Sammlung greifen. Das durfte er allerdings auf keinen Fall wissen, denn ich hatte nur zufällig beobachtet, wie er den Waffenschrank verschloss.


Ich fühlte mich bei und mit ihnen sehr wohl, obgleich sie ungewöhnlich zurückgezogen lebten. Außer den geschäftlichen Reisen mieden sie jeden sozialen Kontakt. Allerdings war ich mir bei Jonah nicht ganz sicher oder vielleicht konnte ich mir auch nur nicht vorstellen, dass ein interessanter Mann, mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt, so ganz ohne femininen Reiz auskommen sollte. Außerdem hatte ich ihn in der Münchener Innenstadt, im Lehel, in Begleitung aus einem Restaurant kommen sehen. Die Frau war auffällig und attraktiv, ihm sichtlich zugetan, wenn auch deutlich älter.

Nie wurde also jemand eingeladen, niemand kam sie besuchen und auch der Reinigungsservice hatte die Auflage das Personal ständig zu wechseln. Die Vorsichtsmaßnahmen waren schon fast paranoid und meine Verwunderung darüber wurde als schlichte Neugierde abgetan. Nur ein einziges Zimmer war stets verschlossen. Es lag im oberen Stockwerk und hatte einst meiner Tante Sarah gehört. In meiner Anwesenheit war es bisher nie geöffnet worden. Auch sprach man zu keiner Zeit über sie oder erwähnte ihren Namen.

Obgleich ich sehr klein gewesen war, konnte ich mich noch an sie erinnern, und wenn ich die Augen schloss, fast ihre Nähe spüren. Sie war liebevoll und geduldig mit mir umgegangen und kümmerte sich fast mehr um mich, als um Jonah. Knapp fünf Jahre älter als ich, bestand sein damaliges Hauptanliegen darin seinem Vater zu gefallen. Das alles konnte ich damals natürlich noch nicht begreifen, sondern war nur glücklich, Sarah neben mir zu wissen.


Jonah kam ich erst näher, als wir viel später, ich war etwa zehn Jahre alt, einen Sommer gemeinsam mit seinen Großeltern verbrachten. Patrick hatte mich ausdrücklich eingeladen. Warum, weiß ich nicht mehr. Endlich hatte ich wieder jemanden, der nur für mich da war. Völlig angstfrei ließ ich mich auf jedes Abenteuer mit ihm ein. Sechs Wochen lang erforschten wir die Natur, bauten Baumhäuser, steckten Geheimwege ab, dachten uns Geschichten aus, stellten Fallen auf, brachten Mutproben hinter uns und erfanden den Opferplatz.

Plötzlich dann eines Tages, viel zu früh, kam Patrick wieder nach Hause zurück und unsere Ferien nahmen ein jähes Ende. Mein Onkel wirkte damals sehr alt, ruhelos und leer auf mich. Das, was ich von ihm sah, entsprach nicht meinem Fantasiebild, gemalt aus Kindheitserinnerungen. Ich bemerkte wohl, dass er mich damals kaum beachtete, er schien mich gar zu meiden.


Sarah war nicht dabei. Sarah würde nie wieder dabei sein. Sarah lebte nicht mehr, schon lange nicht.

Man hatte sich nie wirklich erklären können, was mit ihr geschehen war. Es muss sich kurz nach meiner endgültigen Abreise nach Australien, damals war ich vier Jahre alt, ereignet haben. Man fand nur ihren Bademantel am Seeufer und musste daraufhin annehmen, dass sie ertrunken sei.

In den warmen Monaten hatte meine Tante es sich zur Angewohnheit gemacht, früh morgens mit den ersten Sonnenstrahlen in den See einzutauchen. Sie liebte diesen Moment, die Stille und das dunkle, kühlende Grün des Wassers. Als erfahrene Schwimmerin wusste sie die Gefahren genau einzuschätzen und dennoch forderte sie sich jeden Morgen aufs Neue heraus.

Ihr Verschwinden wurde erst am Abend festgestellt, da mein Onkel und mein Cousin das Haus ebenfalls früh verlassen hatten. Die Wasserpolizei bemühte sich trotz der Dunkelheit, konnte aber die eigentliche Suche mit den Tauchern erst am nächsten Morgen einleiten. Die Suche verlief ohne weitere Funde und so auch die kommenden Monate. Sie war also bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ihr schöner, toter Körper tauchte nie wieder auf.

Dieser unvorhersehbare Tod überschattete das Leben derer, die sie geliebt hatten. Schwer zu erklären, zu begreifen und zu akzeptieren.


Er hinterließ eine nicht endende Traurigkeit, die nur mit der Zeit an Intensität verlor.


Tief Verborgen

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