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Kann Mutters Hühnersuppe noch helfen?

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Die Nacht war ziemlich unruhig und ich wache schon vor dem Wecker auf. Versuche nochmal einzuschlafen. Drehe mich von einer Seite auf die andere und die Gedanken tanzen Techno. Manchmal wünschte ich mir, der Tag hätte ein paar Stunden mehr, um alles unter einen Hut zu bekommen. Muss ich mich besser organisieren? Nein, eigentlich kriege ich das ganz gut hin, aber es passieren eben immer wieder Sachen, die nicht eingeplant waren und dann muss spontan alles über den Haufen geworfen und improvisiert werden.

Da ich eh nicht mehr schlafen kann, beschließe ich, lieber aufzustehen und die Zeit sinnvoll zu nutzen. Während die Kaffeemaschine warmläuft, schicke ich Lissy eine Nachricht: „Wie war Dein Wochenende?“ Meistens ist sie es, die sich bei mir meldet, weil im Eiltempo der Woche irgendwie kaum Zeit ist. Prompt kommt das Gemecker zurück: „Sehr schön! Und Deins? Schon ein Date mit dem attraktiven Kerl klargemacht?“ Ich muss grinsen. „Nein, ein Date noch nicht, aber ich habe ihn „getroffen“. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Das muss ich ihr in Ruhe erzählen. „Lust, Freitagabend Badminton zu spielen? Muss dringend Sport machen.“ „Muss das sein?“, kommt nur zurück. „Ja, und anschließend was trinken. Meine Mutter könnte auf die Jungs aufpassen.“ „Na gut. Wohin?“ „Sportzentrum am Baumarkt, 18.00 Uhr.“ „Ok, bis Freitag. Muss ins Bett, komme aus Nachtschicht.“ In dem Moment geht oben auch schon der Wecker.

Als wir eine Stunde später das Haus verlassen, steigt Lena gerade in ihren Wagen. Wie immer gestylt wie auf dem Weg zur Preisverleihung der Managerin des Jahres. „Guten Morgen, Annie.“ „Morgen, Lena. Sag´ mal, wir schaffen das irgendwie gar nicht mit unserem Rotwein. Diese Woche ist zwar schon eng, aber wie sieht es denn nächste Woche bei Dir aus?“ Lena denkt kurz nach. „Ab Mittwoch bin ich in Mailand, aber vorher können wir das gerne machen. Was ist denn mit dem Wochenende?“ „Das habe ich mit den Kindern schon verplant, lieber wäre mir Montagabend.“

Na, wer sagt´s denn, wir haben es tatsächlich geschafft, einen Termin auszumachen. Ich bin irgendwie total neugierig, mehr über Lena zu erfahren, womit sie wirklich ihr Geld verdient und – natürlich – in welcher Beziehung dieser unglaublich nette Mann zu ihr steht. Wie hieß er nochmal? Verdammt, ich weiß genau, dass er es mir gesagt hat, aber ich war gerade nicht so ganz zurechnungsfähig. Das kann doch nicht sein. Superkalifragilistikexpialigetisch kann ich mir merken, aber nicht diesen Namen? Ist das ein Zeichen? Ach Annie, werd´ wieder klar und fahr arbeiten.

„Frau Sommer, wenn gleich die Mandantin kommt, erinnern Sie mich bitte rechtzeitig daran, dass ich um 11.00 Uhr die Kanzlei verlassen muss. Ich habe noch einen Termin mit einem Kollegen in Köln.“ „OK, kein Problem.“ Der Vormittag vergeht wieder wie im Flug. Auch beim Abtippen dieses Diktates überkommt mich wieder mein Helfersyndrom. Ich kann irgendwie nicht anders. Ich höre die Stimme von Frau Dr. Holst, die mit ihrem Schreiben zu verhindern versucht, dass die junge Frau mit ihren drei Kindern das Haus zum übernächsten Ersten schon verlassen soll und mein Gehirn fängt an zu rattern, wo diese Familie unterkommen könnte.

Dabei wird mir wieder klar, wie viel Glück ich hatte, dass ich so schnell bei Oma Lotte einziehen konnte. Vielleicht sehe ich, wenn ich mit dem Schriftsatz fertig bin, mal im Internet nach, bei den Wohnungsanzeigen. Das wird sie sicher auch schon getan haben, aber möglicherweise kenne ich ja jemanden, bei dem ich ein gutes Wort einlegen könnte. Und tatsächlich: Bei den Anzeigen fällt mir eine Adresse auf, die ich irgendwoher kenne. Goldbergstraße. Wo war das nochmal? Irgendwer hat dort gewohnt.

Ich klicke auf die Anzeige, um vielleicht Fotos des Objektes zu sehen. JA, jetzt fällt es mir ein. Das ist auch so ein größerer Hof mit mehreren Gebäuden und jetzt fällt mir auch ein, woher mir das so bekannt vorkam. Ein Bekannter meiner Eltern hat dort gewohnt und gearbeitet. Und man hat sich den Kopf darüber zerbrochen und den Mund darüber zerrissen, womit er denn genau sein Geld verdient. Wenn man ihn gefragt hat, bekam man die Antwort: „Das Wetter soll ja morgen wieder besser werden!“

Umso spannender wurde seine Beschäftigung natürlich. Es wurden Nachforschungen angestellt. Offiziell handelte es sich um einen Saunaclub, aber sehr schnell wurde klar, womit hier wirklich Geld verdient wurde. Es gab Neugierige und Neider, und ich fand es ziemlich lustig, wie man sich darüber aufgeregt hat.

Weniger lustig fände ich natürlich, wenn sich dieser Saunaclub dort noch befinden würde, denn das könnte man einer Familie mit Kindern überhaupt nicht zumuten. Vielleicht sollte ich mal auf die Homepage des Saunaclubs gehen, dann sehe ich, ob der noch aktiv ist. Über Google ist er gar nicht schwer zu finden, aber so wie es aussieht, sind die Seiten und der Club veraltet und nicht mehr aktiv. Na, ich sollte auf jeden Fall mal bei dem Bekannten anrufen. Jetzt aber los, Frau Roberta Hood, kümmere Dich um DEINE Baustellen.

Im Kopf gehe ich noch schnell den Tag durch: Impftermin mit Tom, einkaufen fürs Abendessen, nach Bens Hausaufgaben sehen. Müsste gut zu schaffen sein, wenn ich nicht beim Kinderarzt zu lange warten muss. Wie gut, dass ich in diesem Quartal bereits dort war und die Versichertenkarte nicht benötige.

„Mama, kriege ich da eine Spritze?“, fragt Tom auf dem Weg zum Kinderarzt. „Ja“, antworte ich nur knapp und versuche, das Gespräch schnell wieder auf ein anderes Thema zu lenken. „Ich hab aber Angst. Ich will keine Spritze.“ Tom lässt sich nicht beirren. Also gut. „Hör mal, das ist nur ein kleiner Piekser. So als wenn Du Dich selbst in den Arm zwickst.“ Ich zwicke mich selbst mit den Fingernägeln in den Unterarm. „Mach auch mal.“ Tom sieht mich etwas verunsichert an, macht es mir aber dann nach. „Und?“, frage ich. „Tut weh“, antwortet er knapp und sieht dabei etwas beleidigt aus. „Schon, aber nicht so, dass man es nicht aushalten kann. Einen kleinen Augenblick nur und dann ist es vorbei. Und dann darfst Du Dir ein Spiel wünschen, das wir zu Hause zusammen machen.“ Er weiß genau, dass es sowieso keinen Ausweg vor diesem Arzttermin gibt, also antwortet er nicht mehr und sieht am Fenster hinaus.

Ich liebe gut organisierte Arztpraxen. Es dauert nicht lange, und wir sitzen im Behandlungszimmer. Die Ärztin begrüßt Tom so liebevoll, als hätte sie sich den ganzen Tag schon auf ihn gefreut. Die hässliche Spritze hat sie gut verdeckt, so dass Tom sie gar nicht erst zu sehen bekommt. Nach ein wenig Smalltalk, in der die Schwester alles Nötige vorbereitet, sagt sie zu ihm: „Huste doch mal, Tom.“ Er tut wie ihm befohlen, ohne groß darüber nachzudenken und zack, ist die Spritze schon in seinem Oberarm. „Aaau“, beschwert er sich heftig. Doch die Ärztin sagt schnell: „Ist doch schon alles vorbei. Das hast Du gut gemacht, Tom. Möchtest Du ein paar Gummibärchen?“ Er nickt ihr zu mit einem Blick, der sagt: Deshalb verzeihe ich Dir trotzdem nicht!, und will mit seiner kleinen Hand in das Glas greifen. Doch zu seiner Enttäuschung holt die Schwester ihm die Gummibärchen raus. Drei an der Zahl. Ich bin froh, dass er nichts sagt, sondern alle seine Gefühle in seinen Gesichtsausdruck legt. „Heute soll Tom sich etwas ruhig halten und 2-3 Tage keinen Sport machen“, sagt die Ärztin. „Kann sein, dass er sich etwas schlapp fühlt.“ „Ist in Ordnung.“

Im Supermarkt schwächelt Tom schon ein wenig, also kaufe ich nur das Nötigste und wir machen uns auf dem Heimweg. Als wir später alle gemeinsam am Tisch sitzen, stochert Tom lustlos in seinem Auflauf herum und Ben sieht auch nicht begeistert aus. „Schmeckt es Euch nicht?“, frage ich nach. „Doch“, antwortet Ben wortkarg. „Was ist denn los?“, starte ich einen weiteren Versuch. „Darf ich wieder auf die Couch, ich habe keinen Hunger“, meint nun Tom. OK, ich glaube, ich hätte mir das Kochen heute sparen können. Denn jetzt ist auch mir der Appetit vergangen. Ein Blick in das Heft zeigt mir den Grund für seine schlechte Laune: Englisch-Vokabeltest morgen.

Ich bringe Tom zurück auf die Couch und bitte Benny, das Englischbuch zu holen. „Ich will aber auch auf die Couch und fernsehen“, sagt er patzig. „Wir müssen Vokabeln lernen.“ „Mann, das ist total gemein, Tom darf fernsehen und ich muss arbeiten“, pflaumt er mich an. Irgendwie schaffe ich es, ihn zu motivieren und bin heilfroh, als wir die Karteikarten endlich wegpacken können.

„Ich geh´ aufs Trampolin!“, ruft er und ist auch schon durch die Türe. Mal sehen, was Tom macht. Ich glaube, ich trage ihn besser direkt in sein Bettchen. Der kleine Körper ist so auf der Couch eingekuschelt, dass ich ihn erst mal zu mir drehen muss. Ich greife unter seine Beinchen, um ihn zu mir zu ziehen und bemerke mit Schrecken, dass er ziemlich aufgeheizt ist. Ich hoffe, das ist nur von der Decke. Aber ein Griff an seine Stirn und seinen Rücken lässt Böses erahnen. Also suche ich das Fieberthermometer. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es bisher nur erhöhte Temperatur ist, und das bestätigt dann auch das Thermometer. Hoffentlich bleibt es dabei. Tom ist so fest eingeschlafen, dass er gar nicht mitbekommt, wie ich ihn in sein Bett bringe.

Was mache ich denn, wenn er morgen früh wirklich Fieber hat? Auch wenn meine Chefin Rechtsanwältin ist und weiß, dass ich zu Hause bleiben kann, wenn mein Kind krank ist, sieht die Realität ganz anders aus. Sie würde es zwar akzeptieren, es aber nicht sehr gerne sehen. Ich frag´ lieber mal nach, ob meine Mutter notfalls morgen früh kommen könnte.

„Die is beim Kejeln, die kütt erst um zehn no Huss“, ist die Antwort meines Stiefvaters. „Hat sie denn ihr Handy mit?“ „Klar, hätt se dat mit, et is äver nit ahn. Damit dä akku jeschont witt. Dat mäht se nur ahn, wenn se et bruch.“ Manchmal frage ich mich echt, wofür wir ihr das geschenkt haben. „Weißt Du denn zufällig, ob sie morgen früh etwas vorhat?“, hake ich noch einmal nach. „Wejs ich nitt. Muss de se selves froore.“ Danke für Ihre Hilfsbereitschaft hätte ich am liebsten gesagt. Aber es hilft ja nicht. „Dann rufe ich nachher nochmal an. Oder sag ihr, dass sie mich mal anrufen soll.“ „Jo, tschö.“ Damit ist das Gespräch beendet.

Als ich auflege, erschrecke ich mich fast zu Tode, weil im gleichen Augenblick das Telefon klingelt und Ben die Lautstärke auf „maximal“ eingestellt hat. „Sommer“, melde ich mich etwas gestresst. „Hallo Frau Sommer. Dreckmann hier. Ich wollte mal nachhören, ob Sie am Freitagabend arbeiten können? Eine Kellnerin ist krank geworden und wir haben eine Geburtstagsfeier.“ Oh mein Gott, wäre ich doch nicht dran gegangen. Schnell die Gedanken sortieren.

„Ich muss mal an meinen Kalender gehen, kleinen Augenblick.“ Das verschafft mir etwas Luft. Freitag, was war denn da. Erst mal hoffe ich, dass Tom dann wieder fit ist. Eigentlich will ich ja – wenn überhaupt – nur an den Papa-Wochenenden arbeiten. Das aber ist mein Wochenende. Ach ja, Freitag wollte ich mit Lissy zum Badminton. Ach, alles Mist. Ich bin hin- und hergerissen. Geld ausgeben für mein Vergnügen oder Geld verdienen für Bens Klassenfahrt oder mal ein Essen bei McDonalds.

Die Vernunft siegt schließlich und ich sage zu. „Und wie sieht es Samstag aus? Können Sie da auch?“ „Nein, Samstag geht leider nicht!“, kommt wie aus der Pistole geschossen. Meinen Abend mit Ben darf ich auf keinen Fall opfern. Das ist mir einfach zu wichtig. „Na gut, mit Freitag helfen Sie uns schon sehr. Geht 18.00 Uhr?“ „Ja, das klappt, dann bis Freitag.“

Jetzt muss ich an die frische Luft meinen Kopf durchpusten lassen. Tief einatmen. Das entspannt. Wow, die Abendluft riecht wirklich gut. Es hat wohl zwischendurch kurz geregnet und die Luft gereinigt, das habe ich gar nicht mitbekommen. Das feuchte Gras sieht verlockend aus. Ich ziehe meine Socken aus und spaziere langsam und gemütlich an der Mauer entlang, die den Hof zur Südseite hin umschließt. Die Pfingstrosen haben ihre ersten Blüten geöffnet, in einem zarten Rosaton mit einem kräftigen Farbklecks in der Mitte. Da sie so herrlich duftet, breche ich mir eine einzelne Blüte ab, um sie in einer Vase in mein Schlafzimmer zu stellen. Ich genieße diese abendliche Stille. OK, fast Stille. Man hört die quietschenden Federn des Trampolins und Bens Laute dazu.

„So, mein Großer, es ist Zeit fürs Bett!“ Wie üblich versucht er, noch mehr Zeit zu schinden oder mich dazu zu bewegen, mit auf´s Trampolin zu kommen, doch für heute reicht es mir wirklich. Wer weiß, wie die Nacht mit Tom wird. Also muss ich hart bleiben und nehme ihn mit ins Haus. „Ab unter die Dusche, ich komme gleich hoch.“ Wenn ich mich hier so umsehe, habe ich das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Jeden Abend kann ich das Haus aufräumen und am nächsten Abend sieht es aus wie ein Schlachtfeld. Die Englischsachen noch auf dem Küchentisch, die nassen und dreckigen Kindersachen, die Reste vom Kochen…. Wie kriegen andere Frauen das denn hin und sitzen pünktlich um 20.00 Uhr bei den Nachrichten auf der Couch und sehen anschließend ganz entspannt – natürlich ohne Unterbrechung – ihren Tatort? Mein Tatort Küche reicht alleine aus, um das Abendprogramm zu füllen.

Komm Annie, jammern hilft nicht, Du machst das schon. Ist ja bald Wochenende. Was, heute ist erst Dienstag? Auch gut, nur nicht den Kopf hängen lassen. Ich weiß ja, wofür ich das tue. Es dauert auch nicht lange, dann habe ich mich selbst genug motiviert, um mich wieder ins Chaos zu stürzen. Ben ist im Bett, die Küche blitzt, Wäsche habe ich heute Gott sei Dank keine gemacht, die jetzt noch aufgehängt werden müsste. Mist, ich habe keine Alternative besorgt, falls meine Mutter nicht kann. In diesem Augenblick klingelt auch schon das Telefon. „Hallo Annie, Hans hat gesagt, dass ich Dich anrufen soll.“ Gott sei Dank, die rettende Stimme. Und ich habe Glück, sie kann morgen früh kommen. Dann kann Tom sich erholen und die Zeit mit seiner Omi genießen. Beruhigt gehe ich ins Bett.

„Mama“, ruft eine weinerliche, zarte Stimme von nebenan. Es ist schon ein Phänomen, früher hätte ein Zug durch mein Schlafzimmer fahren können, ich hätte ihn nicht gehört. Aber so ein zartes Kinderstimmchen lässt jede Mutter sofort hellwach und einsatzbereit im Bett sitzen. Ich gehe zu Tom und fühle seine Stirn. Jetzt führt kein Weg mehr am Fiebersaft vorbei. „Hier mein Schatz.“ Ich reiche ihm einen Becher Wasser und dann den Löffel mit dem dickflüssigen pinkfarbenen Saft. Wie in Trance mit nur halb geöffneten, glasigen Augen, schluckt er den Saft und verzieht das Gesicht, das er gleich darauf in meiner Armbeuge vergräbt. Ich ziehe ihn sanft zu mir herüber, halte ihn fest in meinem Arm und beginne zu summen.

Wie froh ich bin, dass er im Gegensatz zu seinem Bruder noch kein Hochbett hat und ich mich mühelos neben ihn legen kann. Ich liege gerne hier und sehe mir Winnie Puuh und seine Freunde auf der Tapete an. Die Unbeschwertheit, die Tigger & Co. ausstrahlen, gefällt mir. Bald beginnt Toms kleiner Körper, sich zu entspannen. Als ich seinen regelmäßigen Atem spüre, beginne ich ebenfalls, mich zu entspannen. Halb drei. Hoffentlich schlafe ich nochmal ein. Sicherheitshalber trage ich Tom in mein Bett.

„Au!“, ich werde wach, weil mich ein fürchterlicher Schmerz im Gesicht durchzuckt. Habe ich geträumt? Ich versuche irgendwie, meine Sinne zu sammeln und bemerke, dass Toms Faust neben meinem Kopf liegt. Hat er mich doch tatsächlich ausgeknockt. Da ich nun eh wach bin, gehe ich ins Bad, um mir durch das Gesicht zu waschen und einen kühlen Waschlappen für Tom mitzubringen, um das verschwitzte Gesichtchen etwas abzukühlen. Halb vier. Ich weiß jetzt schon, dass ich morgen früh völlig durch den Wind sein werde. Aber es hilft ja nichts. Ich muss versuchen, irgendwie wieder in den Schlaf zu finden. Da Tom sich allerdings unruhig immer wieder hin und her wirft, gelingt das Einschlafen auch immer nur phasenweise. So verbringen wir den Rest der Nacht, und als mich am Ende der Wecker höhnisch aus dem Geschlummer weckt, ist es fast wie eine Erlösung.

Eine Stunde später verlasse ich mit mulmigem Gefühl das Haus. „Ruf mich an, wenn irgendwas ist“, sage ich wahrscheinlich schon zum dritten Mal zu meiner Mutter, die völlig entspannt in der Haustüre steht. „Mach Dir mal keine Sorgen, Annie. Wir machen das schon. Ich habe ein Huhn aus der Tiefkühltruhe geholt und werde dem Kleinen gleich eine Hühnersuppe mit Reis kochen. Du wirst sehen, dann ist er schnell wieder auf den Beinen!“ Ja damit er so schnell wie möglich laufen gehen kann, er hasst Hühnersuppe!“, sage ich natürlich nicht, sondern denke es nur. Sie meint es ja nur gut. Und wer weiß, vielleicht bekommt sie ihn wirklich dazu, ein paar Löffel davon zu essen. Hühnersuppe ist auf jeden Fall gut für die Seele. Habe ich gelesen und war überzeugt. „OK, ich bin dann gegen eins wieder da.“ „Tschüss Kleine, bis nachher.“

Ich drücke sie nochmal fest, na ja so fest wie es meine Kräfte heute Morgen zulassen, und mache mich auf den Weg. Als ich die Türe der Kanzlei aufschließe, bin ich noch ganz in Gedanken und erschrecke mich fast zu Tode, als aus dem Büro der Chefin ein ungewöhnlich lauter Ruf kommt: „Frau Sommer kommen Sie SOFORT in mein Büro!“ Ich erstarre vor Schreck und mein Gehirn rattert, ob ich irgendetwas Wichtiges vergessen hätte. Diesen Ton habe ich noch nie an ihr gehört. Ich sollte sie nicht auch noch warten lassen und eile – noch in der Jacke – in ihr Büro.

Ach du Schande. Dieser Blick ist ja noch schlimmer. Frau Dr. Holst hat die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen und ich habe das Gefühl, als schießen Pfeile daraus. Was ist denn nur passiert. Ich bin mir überhaupt keiner Schuld bewusst. „Können Sie mir mal sagen, was in Sie gefahren ist, sich während der Arbeit auf Sex-Internetseiten zu vergnügen?“ Ihr Ton grenzt an Hysterie und ich habe noch immer keinen Schimmer, worum es hier eigentlich geht. Mein Gesicht scheint auch auszudrücken, dass ich völlig auf der Leitung stehe, also fährt sie fort: „Soll ich Ihnen erst auf die Sprünge helfen? FICKEN.DE!“

Mein Herz bleibt stehen. So etwas aus ihrem Mund zu hören, macht mich völlig fertig. Frau Dr. Holst sagt zu mir Ficken.de, und ich habe keinen Schimmer, was sie von mir will. „Ich habe keine Ahnung, worum es hier geht, aber ich war niemals auf …“ Mir kommt das Wort einfach nicht über die Lippen „… dieser Seite.“ „Ich habe aber Beweise dafür. Können Sie sich vorstellen, welchen Schaden Sie verursachen, wenn herauskommt, dass vom Server einer renommierten Anwaltskanzlei kostenpflichtige Sex-Seiten aufgerufen werden? Mal abgesehen von meinem guten Ruf, den ich zu verlieren habe, haben Sie eine Vorstellung, welchen wirtschaftlichen Schaden das nach sich ziehen könnte?“ Sie hört gar nicht mehr auf und ich habe das Gefühl, dass es keine gute Idee ist, sie jetzt zu unterbrechen. Also lasse ich die ganze Gewehrsalve über mich ergehen. „Aber der Super-GAU, den Sie damit verursacht haben, ist der Virus, den diese Seite auf meinem Server hinterlassen hat. Sie haben das komplette System lahmgelegt.“ Ihre Stimme wird immer schriller und ich stehe wie ein begossener Pudel vor ihrem Schreibtisch. „ Sie können Gott danken, dass Sie gestern noch die Sicherungsdiskette ausgetauscht haben.“ Lieber Gott, hilf´ mir, gibt mir doch mal einen Hinweis, was hier abgeht. Plötzlich überkommt mich ein Hoffnungsfunken. Das ist nur ein Traum, ich wache gleich auf, und meine Mutti steht mit frischen Brötchen vor der Türe!

Bei dem Gedanken daran hellt sich mein Gesicht etwas auf. „Was gibt es denn da zu grinsen?“, entfährt es ihr und sie geht um ihren Schreibtisch herum und baut sich direkt vor mir auf. Auge in Auge. Ich spüre ihren Atem in meinem Gesicht. Also wenn ich jetzt nicht sofort aufwache, muss ich wohl etwas sagen. „Tut mir leid, aber ich weiß immer noch nicht, worum es hier geht.“ „Wollen Sie sagen, dass Sie gestern nicht an ihrem Arbeitsplatz im Internet waren?“, fragt sie nun gefährlich leise. „Doch schon, aber ich war nur auf einer Seite mit Immobilienangeboten.“ „Wollen Sie mich für dumm verkaufen?“ „Nein natürlich nicht, ich habe nur keine Erklärung dafür.“ „Gut, dann können Sie jetzt nach Hause gehen und darüber nachdenken. Ich möchte Sie heute nicht mehr hier sehen. Und eins muss Ihnen klar sein: Das wird in jedem Fall eine Abmahnung nach sich tragen.“

Ihr Blick lässt keinen Zweifel an ihren Worten und so drehe ich mich wie in Trance um und gehe ins Besucher-Badezimmer. Ich sehe in den Spiegel. Mein Gesicht sieht aus, als hätte man mir schon wieder hineingeschlagen und genau so fühlt es sich auch an. Ich lasse mir immer wieder kaltes Wasser in die Hände laufen und durch das Gesicht spritzen in der Hoffnung, dass damit auch die Klarheit kommt. Ich versuche, mir den Mittag gestern wieder in Erinnerung zu rufen. Wohnungsangebote. Die Wohnung auf dem Hof des Bekannten. Ich habe das Gefühl, dass ich ganz nahe an der Lösung bin. Saunaclub. Das war die einzige Seite, auf der ich noch war. Und ja, in einer Ecke der Homepage war eine nackte Frau zu sehen. Aber dann habe ich die Seite auch schon wieder geschlossen und den Rechner heruntergefahren. Das ist die einzige Möglichkeit. Vielleicht gab es dort einen Link, der aktiviert wurde, als ich auf die Seite gegangen bin.

Ich kann jetzt nicht einfach so nach Hause fahren, ich muss wenigstens versuchen, noch einmal mit Frau Dr. Holst zu sprechen. Vergeblich versuche ich, mich wieder etwas herzurichten, aber das spielt jetzt überhaupt keine Rolle. Vorsichtig sehe ich um die Ecke, ob sie an ihrem Schreibtisch sitzt. „Frau Dr. Holst?“, sage ich vorsichtig. Sie stoppt ihre Arbeit und sieht mich erwartungsvoll an. Dann versuche ich ihr zu erklären, was passiert sein könnte und warte auf eine Reaktion. Sie zögert kurz und antwortet dann: „Wie auch immer, ich möchte, dass Sie jetzt gehen.“ Resigniert nehme ich meine Tasche und fahre nach Hause.

„Annie, ist etwas passiert? Wieso bist Du schon wieder zu Hause?“ Meine Mutter ist völlig überrascht. „Du siehst ja grauenhaft aus!“ „Danke, das glaube ich Dir aufs Wort.“ Ich lasse die Tasche auf den Boden fallen und würde mich am liebsten auch gleich daneben fallen lassen. „Mami!“, ruft Tom erfreut aus. Annie, Haltung bewahren. Du musst jetzt ganz stark sein. „Hallo mein Schatz, wie geht es Dir?“, frage ich und nehme den kleinen Tom in den Arm. Er fühlt sich gar nicht mehr so heiß an. „Viel besser. Ich spiele gleich mit Omi Mensch ärgere Dich nicht. Aber sie muss erst die Suppe kochen.“ Als er das Wort „Suppe“ ausspricht, verzieht er dermaßen das Gesicht, dass ich trotz der ganzen Katastrophe lächeln muss. Gott sei Dank hat meine Mutter das nicht gesehen, weil sie mich noch immer ansieht und auf eine Erklärung wartet.

„Ich fühle mich so, als wenn ich auch Fieber bekomme. Meine Chefin hat mich nach Hause geschickt.“ Davon war kein Wort gelogen. „Weißt Du was, Annie. Du legst Dich jetzt ins Bett und ich wecke Dich, wenn die Suppe fertig ist. Dann können wir alle zusammen essen und danach Mensch ärgere Dich nicht spielen. Was hältst Du davon?“ Ich liebe meine Mutter. „Das ist die beste Idee des Tages! OK Tom?“ Er hätte natürlich am liebsten gleich gespielt, aber meine Mutter hat eine gute Überzeugungsgabe. Sie nimmt Tom bei der Hand und sagt: „Wie wäre es denn mit Schokopudding als Nachtisch?“ „Au ja, ich helfe Dir.“

Ich bin ihr so dankbar. Beide bekommen einen dicken Knutscher auf die Wange und dann schleppe ich mich die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer. Mühsam schlüpfe ich aus meiner Bürokleidung in mein Schlafshirt und plumpse nur noch in die Kissen. Innerhalb von Sekunden bin ich eingeschlafen. Und schlafe. Und schlafe. Eine gefühlte Ewigkeit. Einen traumlosen, tiefen Schlaf.

Irgendwann klopft jemand zaghaft an die Türe. „Ja“, antworte ich verschlafen. Die Türe öffnet sich und Tom steckt den Kopf hinein. Um seinen Mund erahne ich einen Schokoladenbart. „Kommst Du jetzt?“, fragt er erwartungsvoll. „Hast Du etwa schon vom Pudding genascht?“, frage ich mit gespielter Entrüstung. „Omi hat gesagt, das darf ich. Ich habe ja auch tapfer die eklige Suppe gegessen.“ „Wie ihr habt schon gegessen. Warum habt ihr mich denn nicht geweckt?“ „Haben wir. Komm jetzt. Ich will spielen.“ Damit dreht er sich um, und hüpft die Treppe hinunter. Ich ziehe den Morgenmantel über und schlendere hinunter.

Meine Mutter sitzt am Küchentisch und blättert in einer Zeitung. „Warum habt ihr mich denn nicht geweckt?“, frage ich nun auch sie. Sie lacht: „Wir haben es versucht, aber Du hast so fest geschlafen und ausgesehen, als hättest Du es dringend nötig, also haben wir beschlossen, Dich liegenzulassen und schon mal alleine zu essen.“ Während sie erzählt, stellt sie einen Teller Suppe und einen warmen, goldbraunen Toast auf meinen Platz. Das duftet so herrlich. Als ich den ersten Löffel der köstlichen Suppe in meinen Mund nehme, fühle ich mich wie im Himmel. Mutti holt mich aber schnell wieder auf den Boden. „So, jetzt bin ich aber gespannt .Was ist denn nun passiert?“, will sie endlich wissen. Ihr kann ich nichts vormachen Und so erzähle ich ihr das ganze Drama. Bei der Erinnerung daran wird mir schon wieder übel und ich merke, wie mir die Tränen hochsteigen. „Ich fühle mich so ungerecht behandelt. Ich hab doch gar nichts Schlimmes getan und sie behandelt mich wie eine Verbrecherin.“ „Ja, aber stell dir mal vor, wie das aus ihrer Sicht aussieht. Und wenn Du wirklich damit einen Schaden angerichtet hast, meinst Du, sie wird das von Dir bezahlt haben wollen? Was machst Du denn, wenn sie Dir kündigt?“ Sie macht sich gleich die größten Sorgen. Aber Unrecht hat sie ja nicht. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.

Ich löffele meine Suppe und meine Mutter sieht mir sorgenvoll dabei zu. Ich sehe schon in ihren Augen die Worte Harz IV und Sozialamt. Doch mit jedem Löffel habe ich das Gefühl, dass die Lebensenergie langsam in mich zurückkehrt. Als ich fertig bin, lege ich entschlossen den Löffel beiseite und sage: „Weißt Du was? Ich weiß, dass ich eine gute Arbeit mache. Und ja, ich habe wohl Mist gebaut. Unbeabsichtigt. Wenn sie mir wirklich kündigt, kann ich es nicht ändern. Dann werde ich schon etwas Neues finden. Ich habe keine Angst davor, dass ich nicht eine andere Stelle finde. Irgendwie geht es immer weiter. Ich werde das schon schaffen!“

Jetzt kehrt auch das Lächeln meiner Mutter zurück. „Du hast Recht Annie, aufgeben war noch nie Dein Ding. Du wirst das schon schaffen. Und jetzt mache ich uns einen guten Kaffee.“ „Können wir jetzt endlich spielen?“, ruft Tom aus dem Wohnzimmer und hüpft übermütig in seinem Tigger-Schlafanzug auf der Couch herum. Keine fünf Minuten später sitzen wir mit Kaffee und Schokopudding auf meiner gemütlichen, roten Couch und spielen Mensch ärgere Dich nicht. Wenn man nicht die Umstände bedenken würde, warum wir jetzt hier alle zusammen sitzen, könnte man uns beneiden. Kann man auch.

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