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Eine grausame Vorstellung

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Herrjeh, was ist denn das für ein Lärm? Mitten in der Nacht? Ich sehe auf den Wecker. Es ist tatsächlich schon 6.00 Uhr und Zeit zum Aufstehen. Mitten über mir liegen Toms Beine. Das macht es mir noch schwerer, mich aus dem schönen, warmen Bett zu quälen, aber mir bleibt keine andere Wahl, der Alltag hat uns wieder.

Erst mal einen guten Kaffee, dann sieht die Welt gleich viel freundlicher aus. Jetzt kann das neue Leben beginnen. Nach einer heißen Dusche fühle ich mich gleich wie ein neuer Mensch und gehe ins Schlafzimmer, um die beiden Jungs zu wecken. Was sich als ziemlich schwierig erweist. Sie sind genau so müde, wie ich es eben noch war und ihre Motivation für Schule und Kindergarten hält sich ziemlich in Grenzen. „Kann ich heute nicht mal zu Hause bleiben? Oder mit Dir zur Arbeit fahren?“, quengelt Tom. Ben zieht sich einfach nur die Bettdecke über den Kopf und ignoriert mich völlig. „Leider nicht. Und außerdem wäre Maxi total enttäuscht, wenn Du heute nicht in den Kindergarten kommst.“ „Och menno“, bekomme ich nur zur Antwort, aber zumindest rollt er sich schon zum Rand des Bettes, so dass ich ihn herausheben und einmal richtig knuddeln kann.

„Benny, Du hast noch ein paar Minuten, aber dann musst Du aufstehen.“ Ich sehe, wie sein Kopf unter der Bettdecke nickt und mache mich mit Tom ab ins Badezimmer. Morgens ist alles immer minutengenau durchgeplant, damit niemand den Schulbus verpasst, zu spät in den Kindergarten kommt oder – Gott bewahre – zu spät zur Arbeit. Das kann ich mir nicht erlauben. Die Chefin ist da sehr penibel, selbst 2 Minuten zu spät können ihr schon die Laune verderben. Da spielt es auch gar keine Rolle, welche Erklärung man für sein Zuspätkommen hat. Also ist Gas geben angesagt.

Da ich bei Tommy noch das Waschen übernehme, geht das zack zack. Und schon sind wir aus dem Badezimmer. „Lauf in Dein Zimmer und zieh die rote Hose an, die auf dem Stuhl liegt. Und ein T-Shirt kannst Du Dir selbst aussuchen.“ Wie gut, dass Tom morgens immer gut gelaunt und hungrig ist. Bei Benny wird das schon etwas schwieriger. „Hey Großer, Zeit zum Aufstehen.“ Ich hebe die Bettdecke leicht an und drücke ihm einen Kuss auf die warme Wange. „Gehst Du ins Bad und kommst dann runter? Ich deck schon mal den Tisch!“ „Hmmm“, antwortet er nur.

So, mal sehen, wie weit Tom ist. Die Hose hat er schon an und die Socken auch. Einen roten und einen grünen. Ach du Schreck. Wie war das bei Farbenblinden? Verwechseln die nicht rot und grün? „Schatz, Du hast zwei verschiedene Socken an!“, kläre ich ihn auf. „Ja“, klärt er mich auf, „einer rot und einer grün.“ OK, Farben erkennen kann er schon. „Hast Du den zweiten Socken nicht gefunden?“, hake ich nach. „Doch, habe doch beide an!“ OK, ich kapituliere aus mangelnder Zeit und helfe ihm, sein T-Shirt anzuziehen.

Auf dem Weg sehe ich noch einmal ins Badezimmer: Gähnende Leere. Wie schon erwartet, ist Benny noch immer unter der Bettdecke versteckt und wieder fest eingeschlafen. Aber es hilft nichts. Ich greife unter die warme Decke, ziehe in sanft an den Rand des Bettes und helfe ihm, sich aufzurichten. „Benny, Du musst jetzt wirklich aufstehen, sonst verpasst Du noch den Bus.“ „Ja“, antwortet er nur knapp, so wie alles am Morgen bei Benny knapp ausfällt. Das morgendliche Zähneputzen genauso wie das Frühstück. Eigentlich bekommt er am Morgen überhaupt nichts runter. Meistens versuche ich dann, ihn zu einer halben Birne zu überreden oder einem Schokobrötchen, damit er nicht mit leerem Magen das Haus verlässt. „Jetzt aber schnell, ich gehe mit Tom runter.“

Irgendwann kommt Ben immer noch ziemlich verschlafen hinunter und setzt sich zu uns an den Tisch. Er beißt lieblos in sein Schokobrötchen und schon bald ist es so spät, dass er seine Schultasche schnappt und losläuft, um den Bus noch zu bekommen. Wie jeden Morgen. Es ist unglaublich, aber ich kann sagen, was ich will, jeden Tag geht er auf den letzten Drücker los. Egal wie früh ich ihn wecke. „Bin weg, tschüss Mami“, ruft er noch und schon ist er durch die Türe. „Tschüss mein Schatz“, rufe ich hinterher. Es dauert nicht lange und ich höre das Dröhnen des Schulbusses aus der Ferne. Es ist ein Wunder, dass er den Bus trotzdem immer noch irgendwie bekommt.

Naja, im Gegensatz zu ihm hat Tom morgens immer schon gute Laune und einen gesunden Appetit. So isst er genüsslich sein Nutella-Brötchen und ich kann die Brotdosen für den Kindergarten und die Arbeit fertigmachen. Ich liebe es, wenn zumindest beim Frühstück die nötige Ruhe bleibt, um den Tag gut zu starten.

Keine halbe Stunde später komme ich gut gelaunt auf der Arbeit an. Meine Chefin ist noch nicht da und so kann ich mir einen Überblick verschaffen, wie denn der Terminkalender heute aussieht. Oh, nur ein neuer Mandant kommt heute Vormittag, das sieht nach einem entspannten Tag aus, an dem man etwas aufarbeiten kann. Ich arbeite wirklich gerne und mag auch gerade den Kontakt mit den Mandanten sehr gerne. Jeder, der hierher kommt, hat ein anderes Schicksal. Als der junge Mann, der gleich den ersten Termin hat, anrief und den Grund seines Kommens erzählte, bekam ich richtige Bauchschmerzen. Er konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten und deutete an, dass seine Frau ihn schlagen würde. Das hat mich irgendwie völlig verunsichert, weil man sonst ja immer nur den umgekehrten Fall hört. Es ist oft schwierig, solch eine Situation einzuschätzen, wenn man nur eine Seite der Geschichte hört. Ich bin jedenfalls sehr neugierig auf diesen Menschen und hoffe, dass wir ihm helfen können.

In vielen Fällen suchen uns die Frauen auf, um Unterstützung durch meine Chefin zu erhalten. Ich würde die meisten am liebsten erst einmal in den Arm nehmen und trösten und in manchen Fällen auch gleich Unterschlupf gewähren, aber hier muss ich mich dringend abgrenzen. Was mir zugegeben echt schwerfällt.

So blöd und respektlos Paul manchmal auch war, geschlagen hätte er mich nie. Das haben aber eigentlich alle unsere Mandantinnen bisher von ihren Männern gedacht. Kann man da wirklich sicher sein? Was hätte ich getan, wenn Paul mich geschlagen hätte? Ich wäre SOFORT gegangen. Davon bin ich fest überzeugt. Und gleichzeitig gespannt, welche Gründe dieser Mann hat, seine Frau nicht einfach zu verlassen.

Aha, da höre ich schon den Schlüssel in der Türe: Meine Chefin ist auch angekommen. „Morgen Frau Sommer!“, höre ich sie rufen. Es ist Montagmorgen und sie ist wie immer energiegeladen und hochmotiviert. „Wie war das Wochenende? Haben Sie sich gut erholt?“ „Naja erholt würde ich das nicht nennen, aber es war sehr schön, weil wir meine neue Wohnung eingeweiht haben.“ „Das ist ja nett. Wann kommt denn der erste Mandant?“, will sie gleich wissen. „In zehn Minuten.“ „Gut, dann kann ich noch etwas diktieren. Und wenn der Aufnahmebogen ausgefüllt ist, bringen Sie mir bitte die Unterlagen.“ „In Ordnung“, antworte ich und im gleichen Augenblick klingelt es auch schon.

Ich drücke den Türöffner und warte, bis der Mandant an der Eingangstüre angekommen ist. Das ist irgendwie spannend, weil man einen Namen und schon ein Stück seiner Geschichte kennt, nicht aber den Menschen an sich. Vielleicht öffne ich ja irgendwann mal einem Mann die Türe, der mich umhaut und den mir das Universum geschickt hat.

Hallo Annie, werd mal wieder klar im Kopf, der Mann ist verheiratet und lässt sich von seiner Frau schlagen. Hast Du nicht genug Probleme? Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Außerdem bin ich noch gar nicht so weit, dass in meinem Kopf oder meinem Herzen Platz für einen neuen Mann wäre. Das Klopfen an der Eingangstüre reißt mich aus meinen Gedanken.

„Guten Morgen, Herr Simon. Bitte folgen Sie mir. Möchten Sie gerne einen Kaffee oder Tee?“, versuche ich seine angespannte Haltung etwas zu lösen. „Nein danke“, antwortet er nur knapp und man sieht ihm deutlich an, wie unwohl er sich fühlt. Auch wenn er bestimmt schon Anfang 30 ist, sieht er aus wie ein großer ängstlicher Junge, der dabei erwischt wurde, dass er etwas ausgefressen hat. Ich lege ihm die Unterlagen hin, die er ausfüllen muss und bald darauf kann er auch schon zu Frau Dr. Holst ins Büro und seine Sorgen auf ihren Tisch legen.

Ich bin froh, dass meine Chefin so kompetent ist und ich mit dem Gefühl dort arbeiten kann, dass den Menschen auf bestmögliche Weise geholfen wird. Und ich bin natürlich gespannt auf die Geschichte des jungen Mannes, die ich ungefähr eine Stunde später dann auf meinem Diktiergerät abhöre und niederschreibe. Grundsätzlich glaube ich ja immer an das Gute im Menschen und dass es für alles eine Lösung gibt. Aber manchmal – und so ein Tag ist heute – muss ich während des Schreibens kurz innehalten und tief durchatmen. Wie sollte man nicht verzweifelt sein, wenn man eine kleine Tochter hat, die man über alles liebt und nicht alleine lassen möchte. Mit einer Mutter, die handgreiflich wird, wenn sie überfordert ist. Und die man immer noch liebt.

Ich schreibe und schreibe und die Gedanken schwirren nur so durch meinen Kopf. Da klingelt schon wieder das Telefon und so bleibt für den Augenblick kein Raum mehr für Grübeleien, die Arbeit muss schließlich weiterlaufen. Der Vormittag vergeht wie im Flug. Ich muss sehen, dass ich pünktlich hier rauskomme, damit ich nicht zu spät zum Vorstellungsgespräch komme. Am besten ich erinnere meine Chefin nochmal, damit auch alles klappt: „Ich habe ja heute mein Vorstellungsgespräch und muss relativ pünktlich gehen. Ist denn noch etwas Wichtiges zu erledigen?“, frage ich vorsichtig. Sie hat es lieber, wenn man noch etwas Luft hat, um alles zu Ende zu bringen, aber das hätte ich auch gerne. Geht aber nicht immer.

Zugegeben, sie hat zu Hause eine Haushaltshilfe und einen Gärtner. Da kann man beruhigt mal ein paar Überstunden machen und sich dann an den gedeckten Tisch setzen nach getaner Arbeit. Das sieht aber bei mir etwas anders aus. Und ich bin auf diesen Zusatzjob angewiesen. Aber leider muss sie ja als Chefin einverstanden sein. Wie heißt die Formulierung im Arbeitsvertrag: „Nebenbeschäftigungen müssen genehmigt werden und dürfen nicht zu Lasten der Arbeit gehen.“ Naja, jedenfalls so ähnlich.

„Schaffen Sie denn alle Schriftsätze bis dahin?“, kommt prompt die Gegenfrage. „Wenn ich die Unterlagen für´s Gericht noch vorbereiten soll, dann müsste ich den letzten Schriftsatz morgen machen. Dann kann ich aber länger bleiben. Ist kein Problem.“ „Na gut“, antwortet sie zähneknirschend. Begeisterung sieht anders aus. Kann ich aber nicht ändern. „Sagen Sie, wie heißt die Kanzlei nochmal, wo Sie sich vorstellen?“, möchte Frau Dr. Holst wissen. „Wolf und Partner“, antworte ich, „scheint eine ganz kleine Kanzlei in Bonn zu sein, die sind nicht mal im Internet.“ „Von denen habe ich auch noch nie gehört. Dann bin ich gespannt, wie es läuft. Viel Glück. Bis morgen früh.“ „Danke! Ich bin auch gespannt.“

Mit diesen Worten eile ich zurück an meinen Schreibtisch und überschlage mich, um noch alles fertigzumachen – hoffentlich vergesse ich in der Eile nichts Wichtiges. Dann flitze ich schnell in die Gästetoilette, um mein zwischenzeitlich versagendes Deo etwas aufzufrischen und einen dezenten Lippenstift aufzulegen. Schließlich soll der gute Herr Wolf mir direkt ansehen, dass ich nicht nur zwei Kinder und zwei Jobs locker organisieren kann, sondern dabei auch noch Wert auf mein Äußeres lege. Ich bin ja schließlich in der Blüte meines Lebens, oder?!

Ich fühle mich tatsächlich so, als ob ich heute jeden Job bekommen könnte, und freue mich richtig auf den Termin. Ein kleines bisschen nervös bin ich zwar, aber das gehört ja dazu. Allerdings werde ich noch nervöser, als ich diese Kanzlei einfach nicht finden kann. Ich beschließe, vor dem Café zu parken, das in der angegebenen Straße ist und mich zu Fuß weiter auf die Suche zu machen. Der Hausnummer nach zu urteilen, müsste es gleich gegenüber sein, aber ich finde gar kein Schild. Mal sehen, was auf den Klingeln steht. Tatsächlich, im zweiten Stock steht: Wolf und Partner auf der Klingel. Ist schon seltsam, dass diese Kanzlei es gar nicht nötig zu haben scheint, mit einem richtigen Schild auf sich aufmerksam zu machen. Nun gut, schauen wir einfach mal, wie es drinnen aussieht.

Schon nach kurzem Klingeln summt der Türöffner und ich betrete den Hausflur. Oje, das sieht genau so einladend aus wie die Haustüre. Je höher ich steige, desto mehr zieht sich mein Magen zusammen. Die Graffitis an den Wänden und der Geruch nach Urin passen überhaupt nicht zu meiner Vorstellung von Geschäftsräumen. Aber keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich versuche, weiterhin mein offenes, freundliches Gesicht zu behalten und gehe Stufe für Stufe das Treppenhaus hinauf. Die Beklemmung nimmt ihren Höhepunkt, als ich im zweiten Stock ankomme und sehe, wer mir die Türe geöffnet hat.

Soll ich meinem Instinkt folgen und auf dem Absatz kehrt machen? Am liebsten würde ich die Treppe gleich wieder hinunterrennen. Aber hey, was habe ich zu verlieren. Es schadet nicht, Übung in Vorstellungsgesprächen zu bekommen. Mit dieser Einstellung betrete ich die nach Zigarettenqualm und vergammeltem Essen stinkende „Kanzlei“, die eine normale Wohnung mit einem heruntergekommenen Arbeitszimmer ist. Herr Wolf ist genauso einladend wie seine Kanzlei. Ein ungepflegter, untersetzter Mann Mitte Fünfzig. Als er mich hereinbittet, bleibt er so in der Türe stehen, dass ich mich geschickt an ihm vorbeihangeln und dabei seinen verschwitzten Körpergeruch direkt einatmen muss.

Oh mein Gott, mir ist so übel. Ich beschließe, der Form halber kurze Zeit zu bleiben, um schnellstmöglich herausbekommen, was man als Aushilfskraft in einer Kanzlei verdienen kann. Und dann werde ich mich geschickt mit der Vortäuschung eines weiteren Termins aus dem Staub machen.

„Nehmen Sie Platz, Fräulein Sommer!“, sagt er selbstgefällig. „Frau!“, verbessere ich ihn. „Oh gerne, wie Sie möchten, Frau Sommer!“ Was ist denn das für ein Unterton? Ich muss mich echt zusammenreißen. Der Stuhl, den er vor seinem Schreibtisch vorbereitet hat, sagt schon alles über unser zukünftiges Verhältnis aus: Ich sitze sehr tief unter ihm und er schaut auf mich herab. Nicht mit mir!“, denke ich und versuche durch meine Sitz- und Körperhaltung genau das auch rüberzubringen.

Er beschreibt ein wenig den Arbeitsplatz und spult das übliche Procedere eines Vorstellungsgespräches ab. Endlich kommt der Punkt, an dem ich an der Reihe bin und meine Fragen stellen kann. „Wie wären denn meine Arbeitszeiten?“, möchte ich gerne wissen. „Jeden Tag 4 Stunden. Am besten nachmittags, weil vormittags ist Frau Grubner hier.“ „Aber ich dachte, es handelt sich um eine Aushilfsstelle auf 400,-- Euro-Basis“, frage ich leicht verwirrt nach. „Ja, genau!“

Moment mal, habe ich jetzt ein mathematisches Problem oder bietet mir dieser Rechtsanwalt tatsächlich an, für € 5,00 die Stunde zu arbeiten? Sein Gesicht sagt mir, dass er es wirklich ernst meint. Das schlägt dem Fass den Boden aus. Dass der sich das überhaupt traut, unter diesen Bedingungen. Die Gedanken schießen mir durch den Kopf und ich überlege, wie ich jetzt hier ohne mein Gesicht zu verlieren hinauskomme.

„Wissen Sie Herr Wolf. So viele Stunden kann ich bei Ihnen gar nicht arbeiten, um auf das Gehalt zu kommen, das ich benötige, um meine Kinder zu versorgen.“ Mit diesen Worten will ich aufstehen und gehen. Doch Herr Wolf lenkt ein. „Einen Moment noch.“ Er lehnt sich zurück in seinem bequemen, gepolsterten Ledersessel. „Es gibt da noch eine andere Möglichkeit.“ Er macht eine kurze Pause und mich neugierig. „Sie könnten den dreifachen Stundenlohn verdienen mit einer anderen Beschäftigung.“ Ich warte ab, ob er fortfährt. Doch er macht wieder eine Pause, als wollte er, dass ich errate, worum es sich handelt. Aber ich habe keinen Schimmer, worauf er hinaus will.

Bis er anfängt, an seiner Hose zu nesteln und den Knopf zu öffnen. Da erahne ich, was dort hinaus will. Das kann nicht sein, das ist ein schlechter Traum. Nein, ist es nicht, er öffnet genüsslich den Reißverschluss seiner Hose und sieht mir geradewegs ins Gesicht, die Augen schon ganz glasig. Das kann er nicht bringen. Oh mein Gott, er packt tatsächlich sein bestes Stück an und holt es nach draußen. „Wie wär´s, Sie können direkt mit der Probearbeit beginnen!“ Völlig außer mir sitze ich da und schnappe nach Luft. Angeekelt von diesem schlabberigen Gehänge wende ich den Blick ab und kann mich endlich wieder aus der Schockstarre befreien.

Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und stürme hinaus in den Hausflur. Hoffentlich finde ich in dieser Panik die Haustüre wieder. Plötzlich fährt mir ein neuer Schrecken in die Glieder: Was, wenn er – ohne dass ich es bemerkt habe – die Kanzleitüre abgeschlossen hat. Ich drücke schnell die Klinke herunter und – nichts. Mir bleibt fast das Herz stehen, die Türe lässt sich nicht öffnen. Mein Puls steigt auf 180 und ich versuche mit aller Kraft noch einmal die Türe zu öffnen und - Gott sei Dank, sie hat nur geklemmt. Ich stürze die Treppe herunter, bis ich draußen auf der Straße stehe. Ich weiß gar nicht, wo ich hin soll, mein Adrenalinspiegel ist so hoch, dass ich mich jetzt auf gar keinen Fall ins Auto setzen kann. Aber hier will ich auch nicht bleiben.

Kurzerhand eile ich in das Café und setze mich in die hinterste Ecke. Was ich jetzt brauche, ist ein ganz starker Kaffee, besser noch einen Schnaps. Ich bin so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekomme, wie ein netter junger Mann am Nebentisch mich amüsiert anlächelt. „Sie sehen aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst gesehen!“, sagt er freundlich. „Das wäre mir viel lieber gewesen, das können Sie mir glauben!“, entfährt es mir spontan. Er lacht laut, und kleine Grübchen blitzen in seinen Mundwinkeln auf. Hey, der ist ja richtig attraktiv. Und noch nett dazu. Doch er scheint auf jemanden zu warten, denn auf dem Stuhl neben ihm liegt ein riesiger Strauß gelber Rosen. Als die Bedienung mir meinen Kaffee bringt, sieht er auf seine Uhr und sagt: „Ich möchte gerne zahlen.“

Bevor er geht, nimmt er eine einzelne Rose aus dem Strauß und übergibt sie mir mit den Worten: „Nicht verzweifeln, wir sind nicht alle so!“, und verschwindet lächelnd aus dem Café.

Auf der Fahrt nach Hause gehen mir immer wieder die Bilder des Gehänges durch den Kopf. Ich bin so sauer, dass mir erst jetzt die ganzen coolen Sprüche einfallen, die ich ihm gerne an den Kopf geworfen hätte. Ich bin gespannt, was Lissy dazu sagt. Sie hätte bestimmt den richtigen Spruch parat gehabt.

„Na, hast Du den Job?“ Lissy erwartet mich schon mit einem Latte Macchiato. „Ähm, ich könnte ihn haben, muss aber nochmal drüber schlafen. Wo sind denn die Kinder?“ Lissy sieht mich stirnrunzelnd an. „Mit Brutus auf der Wiese hinten.“ „Oh gut, dann erzähle ich Dir jetzt mal, wie man sein Gehalt deutlich aufbessern kann.“ Wie erwartet kriegt Lissy sich gar nicht mehr ein vor lauter Lachen. „Schade, dass ich nicht da war, dem hätte ich was erzählt. Was meinst Du, soll ich auch mal einen Vorstellungstermin vereinbaren und mir das aus nächster Nähe ansehen?“ Die Vorstellung gefällt mir gut. „Aber dann musst Du eine Kamera zur Hand haben und das Ganze auch festhalten.“ So langsam entspanne ich mich und mein Blutdruck normalisiert sich etwas. Eigentlich müsste man darüber nachdenken, so jemanden anzuzeigen. Das werde ich mir nochmal in Ruhe überlegen.

„Ich freue mich richtig auf ein gemütliches Abendessen mit den Kindern“, denke ich laut. „OK, das ist mein Stichwort, ich mach mich jetzt auch vom Acker, bin heute Abend zum Essen eingeladen“, strahlt Lissy mich an. „Ich sag den Kindern noch Tschüss und schicke sie dann rein, ja? Und wenn sie mal am Wochenende beim Blödmann sind, dann machen wir zwei uns einen richtigen Mädelsabend, was meinst Du?“ „Ja, das hört sich gut an. Das machen wir auf jeden Fall.“

Ich beschließe, in unserem kleinen Garten auf der Rückseite des Hauses zu essen. Schön, dass wir hier so ganz ungestört sein können, wenn wir es möchten. Und ich glaube, das brauchen wir heute ganz dringend. Montags ist so ziemlich der einzige Tag in der Woche, wo wir keine Termine wie Fußballtraining, Ergotherapie oder ähnliches haben, so dass ich nach den turbulenten Wochen froh um jede Gelegenheit bin, den Stresspegel herunterfahren zu können.

Als die Jungs hereinstürmen, schreien sie sofort nach Essen. „Was sollen wir denn heute Abend essen?“, frage ich die Jungs. „Ravioli!“, „Pizza!“, „Reibekuchen!“, kommt es wild durcheinander bei mir an. „Eins davon ist OK, dann müsst ihr euch aber einig werden und es gibt wenigstens noch etwas Gesundes dazu.“ Wir einigen uns schließlich auf Pizza und Rohkost. „Wenn ihr mir helft, können wir im Garten picknicken“, schlage ich vor. „Megageil!“, ruft Tommy und rennt sofort in die Küche. Oh mein Gott, er ist fünf. Woher hat er diesen Wortschatz bloß?

Ben kommt zu mir und drückt sich an mich. „Danke Mama“, sagt er leise. „Wofür denn Benny?“, frage ich. „Für das Picknick und überhaupt, für alles.“ Ich merke, dass mir Tränen in die Augen schießen und versuche mich zu beherrschen. „Ach Benny! Das mache ich doch gerne und du weißt, ihr beide seid das Wichtigste in meinem Leben. Ich möchte einfach nur, dass es Euch gut geht. Hast Du Lust, später noch etwas mit mir alleine zu machen, wenn ich Tom ins Bett gebracht habe?“ „Mmmh“, höre ich nur. Sein Gesicht ist immer noch fest an meinen Körper gedrückt. Ich schließe die Augen, nehme ihn fest in meine Arme und genieße den Moment.

Als er seine Umarmung langsam löst, sehe ich ihm in die blauen, etwas traurigen Augen und sage: „Überleg Dir schon mal, wozu Du Lust hättest, ja? Schiebst Du jetzt die Pizza in den Ofen?“ Sein Gesicht hellt sich etwas auf. „OK“, sagt er und so machen wir uns auf den Weg zu Tom. Der versucht ganz angestrengt, auf einem Stuhl an der Arbeitsplatte stehend, mit dem Sparschäler ordentliche Streifen der Gurkenschale zu entfernen. Als die Pizza im Ofen ist, breitet Ben eine große Decke auf der Wiese aus. Wie schön es ist, hier im Garten die letzten Sonnenstrahlen des Tages noch einfangen zu können. Ich freue mich selbst wie ein kleines Kind auf dieses Picknick. Tief in mir drin ist immer noch ein Stück Kind und ich wünsche mir, dass das auch so bleibt und mir dieses Geschenk der Unbeschwertheit nie verloren geht. So selten diese Momente auch sein mögen. Schnell ertönt das Piepen des Backofens und wir tragen das Essen hinaus auf die Decke.

„So, wie war denn Euer Tag?“, frage ich die Jungs. Tom sprudelt als erster wie aus der Pistole geschossen los. „Der Julius war total gemein, der hat mir meinen Lego-Turm kaputtgetreten. Und dann hat er auch noch gelogen und gesagt, er war es gar nicht. Dabei hab ich es genau gesehen.“ „Und was hast Du dann gemacht?“, will ich wissen. „Bestimmt geheult“, sagt Ben, noch bevor Tom antworten kann. Ich stupse Ben an. „Gar nicht, ich bin doch keine Heulsuse. Aber die Frau Straubitz hat das gesehen und hat gesagt, er muss mir helfen, den Turm wieder aufzubauen.“ „Das finde ich gut.“ „Nö, überhaupt nicht, ich bau doch nicht mit dem Julius zusammen einen Turm.“

Er erzählt aufgeregt weiter, während Ben sich einen Ball besorgt hat und „hochhalten“ übt – natürlich neben der Picknickdecke. Wie nicht anders zu erwarten gibt es plötzlich ein Geschepper und die Becher mit der Apfelschorle fliegen durch die Gegend. „Benny, kannst Du nicht mal 5 Minuten den Ball liegen lassen?“, rufe ich sauer. Auch wenn ich weiß, dass er es nicht mit Absicht gemacht hat, ist meine Geduld manchmal echt überstrapaziert. Ich konfisziere den Ball und lasse mich mit einem Stück Möhre in der Hand auf die Decke fallen. Sofort legen die beiden sich neben mich und wir sehen in die dicken Cumuluswolken am blauen Himmel.

„Was siehst Du?“, frage ich Ben. Es dauert einen Augenblick, bevor er antwortet. „Einen fliegenden Drachen.“ Tom drückt sich enger an seinen Bruder. „Ja, ich sehe ihn auch. Der hat ein ganz großes Maul, siehst Du? Sieht ein bisschen gruselig aus.“ Ben muss schmunzeln und nimmt seinen Bruder in den Arm. „Nein, der ist nicht gefährlich. Der verjagt nur alles Böse und passt auf uns auf.“ „Echt?“, fragt Tom erstaunt. „Na klar.“ Zufrieden entspannt sich Tom in seinem Arm. „Ich sehe ein Kaninchen mit einem großen Kochlöffel in der Hand.“ „Ja“, rufen beide direkt aus. „Ich glaube, der hat Spaghetti gekocht, guck mal, da hängt noch eine Nudel dran“, setzt Tom noch einen drauf. So verbringen wir eine ganze Zeit lang lachend und entspannt auf der Wiese und genießen den Luxus, einfach die Zeit und die Wolken vorüberziehen zu lassen.

Irgendwann fällt mein Blick auf die Uhr und ich läute für Tom den Feierabend ein. Während Ben schon mehr oder wenig freiwillig die Spülmaschine einräumt, bringe ich Tom ins Bett. Es dauert gar nicht lange, und wir haben alles Nötige erledigt. „Was meinst Du, sollen wir uns etwas Gemütliches anziehen und uns einen Tee kochen?“ „Ja und Schokokekse dazu.“ Hmm, meine Figur sollte eindeutig „nein“ zu dieser Idee sagen, doch leider bin ich genau so ein Schleckermaul und kann die Finger ganz schlecht von nahezu jeder Art von Süßigkeiten lassen. Aber was soll´s, heute haben wir uns das echt verdient. Da es langsam etwas frisch wird draußen, hole ich die Decke hinein in die gute Stube und breite sie im Wohnzimmer auf dem Boden wieder aus. Dazu noch die großen Kissen von der Couch und schon ist die Kuschelecke fertig. Ben ist eigentlich den ganzen Tag lang immer in Bewegung und zappelig und hyperaktiv, aber wenn wir zusammen auf dem Boden liegen und lesen oder spielen, hat man das Gefühl, dass er endlich mal zur Ruhe kommen kann.

Es dauert gar nicht lange, und er kommt die Treppe hinuntergerannt und wirft sich schwungvoll auf die gemütlichen Kissen. Ich kann nicht anders, ich muss ihn direkt in meine Arme nehmen und feste an mich drücken. „Du hast eben gar nicht viel erzählt, wie war denn Dein Tag heute in der Schule?“ „Geht so.“ Es dauert immer ein wenig, bis er auftaut, aber mit etwas Geduld kommt er irgendwann dann doch aus sich heraus. „Wir hatten heute in der Pause den Soccer-Court.“ „Und, wer hat gewonnen?“, hake ich nach. „Kurz vor Ende der Pause stand es noch zwei zu zwei, und dann habe ich den Ball bekommen und Christian ausgedribbelt. Und dann treffe ich nur den Pfosten. Boah, die haben so gemeckert, weil ich den nicht reingemacht habe. Jetzt bin ich wieder der Loser.“ „Ach Mensch, das tut mir echt leid. Aber das kann doch jedem passieren.“ „Sag das mal dem Leo, dem Penner. Beim nächsten Mal wählt er mich bestimmt gar nicht mehr.“

Es tut mir in der Seele weh. So sehr er auch seinen Fußball liebt, er ist halt nicht der Beste auf dem Platz und seinen Kumpels kann er ja schlecht sagen: „Dabei sein ist alles!“ Wobei die meisten Jungs eigentlich richtig prima sind, egal ob in seiner Klasse oder seiner Fußballmannschaft. Aber es genügt ja einer, der einen blöden Kommentar machen muss. Und den gibt es natürlich überall. Wie sehr würde ich ihm mal ein Erfolgserlebnis wünschen. „Was haben denn die anderen Jungs dazu gesagt?“, hake ich nach. „David hat Leo gesagt, er soll die Klappe halten und dann sind wir weggegangen.“ „Finde ich gut. Es ist schön, wenn man Freunde hat, die zu einem halten. Und außerdem hat jeder irgendetwas, das er gut kann. Bei dem einen ist es das Fußballspiel, bei dem anderen etwas Anderes. Du zum Beispiel kannst wunderbare Geschichten erfinden. Hast Du Lust?“ „Au ja, dann aber wir beide zusammen!“

Das ist eins der Dinge, die uns beide besonders verbindet. Wir lieben es, wenn jemand mit einem Satz eine Geschichte beginnt und immer abwechselnd weitererzählt wird. Daraus entstehen oft die witzigsten Sachen. „Das Eichhörnchen war immer noch ganz traurig, weil seine Geschwister ihn wegen seines langen Schwanzes, über den es immer stolperte, aufgezogen hatten“, beginnt Ben unsere Geschichte. „Es wollte lieber allein sein und lief in den herbstlichen, bunten Wald hinein. Dort kletterte es hinauf in einen Baum, um sich eine der letzten Eicheln zu schnappen und genüsslich daran zu knabbern“, erzähle ich weiter. „Plötzlich hörte das Eichhörnchen ein wimmerndes Geräusch. Es lauschte eine ganze Weile, um herauszufinden, woher dieses Wimmern kam.“ „Und dann sah er es: Ein kleines Mäuschen lag ganz dicht am Baumstamm und zitterte vor Kälte.“

So entsteht nach und nach eine wunderbare Geschichte und ich bin sehr erleichtert, als ich am Ende in Bens Augen sehe und er richtig glücklich aussieht. Er hat wirklich eine Gabe, sich in andere Menschen oder auch Tiere hineinzuversetzen, hat unglaublich viel Phantasie und so ein liebenswertes und hilfsbereites Wesen. Manchmal wünschte ich mir, dass auch andere diese Seite von ihm sehen könnten.

Als er später im Bett liegt, sagt er: „Mama, weißt Du, was ich mir wünsche?“ „Nein, sag es mir!“ „Das nächste Mal erfinden wir eine Geschichte mit einem Delfin. Und dann erzählen wir nicht nur, sondern DU schreibst sie dabei auf! Kannst Du das machen? Sonst sind unsere Geschichten so schnell wieder vergessen.“ „Das ist eine richtig gute Idee, weißt Du das? Dann brauchen wir aber etwas mehr Zeit. Wenn Du Lust hast, können wir am nächsten Wochenende, wo ihr zu Hause seid, schon loslegen.“ „Ja“, antwortet er zufrieden und mit einem Lächeln im Gesicht. Lächelnde Kinder sind so ziemlich das Schönste, was es gibt.

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