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Alltagswahnsinn

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„Guten Morgen, mein Schatz.“ Ich wuschele Benny sanft durch die weichen Locken. „Was macht denn Dein Knie?“ Ich hebe die Bettdecke an, um mir die Schwellung anzusehen. „Tut nicht mehr so weh“, antwortet er und ist erstaunlicherweise schon ziemlich wach für seine Verhältnisse. Ich bin erleichtert, dass sich der Gang zum Arzt heute damit erledigt hat. „Kann ich heute Nachmittag mit Felix auf den Soccer-Court? Wir wollten uns heute verabreden.“ Aha, daher die Motivation. „Ich würde sagen, Du gehst erst mal in die Schule und schaust, wie es Deinem Knie geht und wenn wir heute Nachmittag beide zu Hause sind, essen wir, Du machst die Hausaufgaben und dann entscheiden wir das spontan.“

Man sieht seinem Gesicht an, dass dies nicht die gewünschte Antwort war. „Ach Mann, kannst Du nicht einfach JA sagen?“, kommt prompt zurück. „Ja, könnte ich!“ Ben sieht mich verwirrt an. Er scheint meinen Worten nicht ganz zu trauen und ahnt, dass noch etwas folgt. „Wäre sogar für mich entspannter, ich müsste nicht kochen und keine Hausaufgaben nachsehen sondern könnte mit Lissy Kaffee trinken gehen.“ Wir haben das Thema schon so oft diskutiert, dass ich keine Lust mehr habe, immer Sätze wie Erst die Arbeit, dann das Vergnügen oder die Geschichte mit dem Ponyhof herunterzuleiern. Er versteht mich auch so und knufft mir zur Beendigung der Diskussion seine kleine Faust in die Seite. Na zumindest huscht ein Lächeln über sein Gesicht. „Ich gehe jetzt mit Tom runter, bis gleich.“

Tom schlürft genüsslich seinen warmen Kakao, ich meinen Kaffee und ich bin froh, dass wir die Woche ruhig angehen können. Ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, da geht schon das Telefon. Meine Güte, wer ruft denn um solch eine Uhrzeit schon an?

„Sommer“, melde ich mich leicht genervt. „Ja, guten Morgen Frau Sommer“, meldet sich eine freundliche Stimme, „Dreckmann hier. Sie hatten sich doch bei uns für einen Aushilfsjob als Servicekraft beworben, oder?“ Schnell muss ich meine Gedanken sortieren. „Ja, das stimmt, ist schon etwas her und Sie sagten, sie würden sich wieder melden, wenn Sie jemanden benötigen.“ „Genau. Ich weiß, das ist jetzt etwas kurzfristig, aber wir haben heute einen Beerdigungskaffee und bräuchten spontan noch Hilfe. Könnten Sie heute Nachmittag einspringen? Dann könnten wir auch besprechen, ob wir Sie in Zukunft regelmäßig einplanen können.“ Oh Mann, wenn ich jetzt mit zwei Kindern komme, die ich erst noch unterbringen muss, bin ich denen direkt zu kompliziert und unzuverlässig, also ist meine Antwort: „Natürlich, wann soll ich denn da sein?“ „Ja, der Kaffee geht um 14.00 Uhr los, also 13.00 Uhr wäre gut, damit Sie noch beim Eindecken helfen könnten. Geht das?“ „Ja klar. Also dann bis um eins. Ist schwarze Hose und weiße Bluse ok?“ „Ja geht schon, dann sehen wir uns um 13.00 Uhr. Bitte pünktlich!“ „Selbstverständlich“, antworte ich selbstbewusst und lege auf.

Um Himmels willen, wie bekomme ich so schnell jemanden, der sich um die Kinder kümmert? Ruhe bewahren, bis jetzt hat es immer irgendwie eine Lösung gegeben. Das Problem ist nur, dass ich diese Lösung in den nächsten 10 Minuten haben muss, denn dann müssen wir zum Kindergarten und von der Arbeit aus darf ich nicht privat telefonieren. Da ich bis 12.30 Uhr arbeite, muss ich von dort sofort zum Restaurant. Ach ja, dann muss ich die Klamotten ja auch schon mitnehmen. Oh nein, die Bluse ist noch nicht gebügelt. Jetzt aber schnell, das kriegen wir schon irgendwie hin. Es widerspricht völlig meinen Prinzipien, aber heute muss Tom alleine zu Ende frühstücken, und ich baue schnell das Bügelbrett auf, das Telefon schon in der anderen Hand.

„Dies ist der persönliche Assistent von Lissy. Sagen Sie ihm, was Sie wollen, vielleicht ruft sie zurück. PIEP!“ Schon wieder diese blöde Mailbox. „Hey Lissy, ich bin´s, Annie. Ich muss heute nach der Arbeit zu dem Restaurant, wo ich mich beworben habe und brauche dringend jemanden, der Tom vom Kindergarten abholt und zu Hause die Kinder versorgt, bis ich wiederkomme. Ich schätze so gegen fünf. Melde Dich bitte ganz dringend!“ Mist, ich muss noch etwas anderes versuchen, wenn Lissy Spätdienst hat, dann schafft sie das gar nicht. Und wer weiß, wann sie sich meldet! Herrje, ich muss los zum Kindergarten, sonst komme ich zu spät zur Arbeit. Dann muss ich halt – verbotenerweise – vom Auto aus weiter telefonieren, bis ich eine Lösung habe.

„Tom, wir müssen. Komm schnell Schuhe und Jacke anziehen. Hast Du Dein Brot schon in die Tasche gepackt?“ „Nein, wo ist das denn? Und wo sind meine Schuhe? Die blauen.“ „Keine Ahnung, Tom, dann musst Du eben heute die roten anziehen, die passen sowieso viel besser zu Deiner Hose. Komm, wir müssen uns beeilen.“ „Aber ich will die blauen oder die Gummistiefel.“ Aaaaah, ich könnte schreien. Es würde aber nichts helfen. Ich nicke die Gummistiefel ab und hoffe, dass ihn das besänftigt und er schnellstmöglich in meinem Auto sitzt. Währenddessen rattert mein Gehirn im Schnellverfahren. Mutti hat heute einen wichtigen Arzttermin, den würde sie zwar absagen, aber das will ich nicht. Da fällt mir Oma Lotte ein. JA, die würde sofort helfen.

Schnell schließe ich Tom das Auto auf. „Schnall Dich schon mal an, ich muss nur kurz zu Oma Lotte, etwas fragen. Bin sofort wieder da“, rufe ich ihm zu. Gott sei Dank ist schon Licht bei ihr und sie ist auch ziemlich schnell an der Türe. „Hallo Lotte, ich wollte fragen, ob Du heute Mittag vielleicht Tom vom Kindergarten abholen könntest?“ „Ach Kindchen, das tut mir leid, aber ich fahre um 11.00 Uhr mit dem Zug nach Köln, da muss ich mit dem Notar ein paar wichtige Dinge klären. Das kann ich so schnell jetzt nicht verschieben. Hast Du denn noch jemand anderen, der sich kümmern kann?“ „Na klar“, antworte ich überzeugend. „Ich finde schon jemanden, mach Dir keine Sorgen.“

Mit diesen Worten eile ich zum Auto. Nicht zu glauben, Tom ist tatsächlich schon angeschnallt in seinem Sitz. Schwungvoll drehe ich den Wagen im Hof und mache mich auf den Weg in den Kindergarten. „Komm schon“, sage ich mir selber, „das wird schon irgendwie klappen.“ Vielleicht habe ich ja Glück und treffe Max´ Mutter am Kindergarten. Dann frage ich sie, ob sie Tom heute Mittag mitnehmen kann. Ganz fest wünschen. Und daran glauben.

Tatsächlich, da steht Sophies Auto vor dem Kindergarten. Es besteht Hoffnung. Schwungvoll hebe ich Tom aus seinem Kindersitz und wir machen – wie immer, wenn ich es sehr eilig habe – ein Wettrennen, wer zuerst am Kindergartentor ist. „Erster“, ruft Tom quietschvergnügt aus. „Schon wieder. Aber warte ab, ich werde jetzt heimlich trainieren und bald schlage ich Dich!“, antworte ich ihm. Da kommt uns auch schon Sophie entgegen. „Guten Morgen Sophie. Gut, dass ich Dich treffe. Ich bräuchte heute spontan Deine Hilfe. Meinst Du, Tom kann nach dem Kindergarten mit zu Dir kommen? Ich könnte heute zu einer Probearbeit gehen, müsste aber direkt nach der Kanzlei dort hin. So bis 16.00 Uhr vielleicht?“ „Ja klar“, antwortet Sophie, „ist kein Thema. Ich muss Maxi nur um 17.00 Uhr zum Schwimmen bringen. Denkst Du, dass Du dann wieder da bist?“ „Das müsste hinhauen. Ich komme ihn dann auf dem Rückweg vom Restaurant direkt bei Dir abholen. Mensch bin ich froh. Wenn das klappt mit dem Job, dann entspannt sich vielleicht finanziell alles ein bisschen.“ „Dann drück ich Dir die Daumen. Ich muss jetzt auch los. Bis heute Nachmittag.“ „Ja, tschüss Sophie. Bis nachher.“

Erleichtert lasse ich mich in meinen Sitz plumpsen und starte den Motor. Jetzt muss ich erst mal die CD mit den Musical Ballads einlegen, dann kann ich meinen Adrenalinspiegel so langsam wieder herunterfahren, bis ich auf der Arbeit angekommen bin. Hoffentlich ist heute Morgen nicht so viel Verkehr, dass ich wenigstens pünktlich bin.

Die Musik beruhigt mich wirklich und so genieße ich den Anblick der Sonne, die schon über den Baumwipfeln strahlt und den blauen Himmel und bin wieder einmal dankbar, dass wir in so einer tollen Umgebung wohnen. Schöner als hier kann es auch im Urlaub nicht sein. Es sei denn, es geht ans Meer, das ist natürlich etwas Anderes.

Pünktlich mit dem Glockenschlag komme ich zur Tür herein. Frau Dr. Holst ist schon in ihrem Büro und ruft von dort aus motiviert: „Guten Morgen!“. Ich stecke den Kopf in ihr Büro und grüße zurück. „Sie sind aber heute früh dran!“, sage ich überrascht. „Ja, ich habe gleich den Gerichtstermin mit Frau Holler und möchte mich nochmal vorbereiten, damit wir heute mit dem positiven Beschluss für das Aufenthaltsbestimmungsrecht die Verhandlung beenden können.“ „Könnte Frau Holler ihren Sohn dann schon in dieser Woche nach Hause holen?“ „Da gehe ich von aus. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Aber diesen neuen Richter kenne ich noch nicht, den kann ich überhaupt nicht einschätzen. Ich bin mir sicher, dass Frau Holler ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt hat und sie hat trotz der falschen Darstellung und der emotionalen Belastung vorbildlich mit dem Jugendamt zusammengearbeitet. Ich hoffe wirklich, dass der Richter das auch so sieht und dieses Drama endlich beendet.“

„Ich würde es ihr wünschen. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand Lügen in die Welt setzt und man mir deshalb die Kinder wegnehmen würde, ich kann gar nicht sagen, wie verzweifelt ich wäre. Wie muss es denn dem Jungen gehen, der seine Mutter nur in Begleitung einer Mitarbeiterin des Jugendamtes sehen darf, als müsste man ihn vor ihr beschützen.“ „Das stimmt schon, aber dafür sind wir ja da, um den Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Sind Sie so nett und machen mir einen Kaffee, ich brauche noch eine halbe Stunde, dann muss ich mich auf den Weg machen. Da es eine lange Verhandlung wird, habe ich für heute keine Beratungstermine mehr angenommen. Sie können dann noch die restlichen Schriftsätze machen, die alten Akten ablegen und pünktlich Feierabend machen.“ „Das passt mir gut, ich habe heute nochmal ein Vorstellungsgespräch, oder besser gesagt, ich kann zur Probearbeit kommen.“

Das wäre der richtige Zeitpunkt, um Frau Dr. Holst um Hilfe zu bitten. Blöd, dass sie heute so unter Zeitdruck ist. Aber nachdem ich den Entschluss gefasst habe, will ich nicht länger warten. „Apropos: Ich hätte da noch ein Anliegen“, beginne ich. Sie sieht von ihren Unterlagen auf und mich ungeduldig an. Entschlossen setze ich mich und berichte ihr von meinem Vorstellungsgespräch und diesem unglaublichen Zwischenfall. Frau Dr. Holst ist völlig außer sich und man sieht ihr an, dass sie schon bei der Vorstellung die gleiche Wut packt wie mich. Leider hat sie nicht die Zeit, sich sofort und ausführlich darum zu kümmern, aber wie erwartet liegt ihr diese Angelegenheit sehr am Herzen und wir beschließen, so schnell wie möglich etwas zu unternehmen.

Da sie immer noch ziemlich aufgewühlt ist, dauert es eine Weile, bis Frau Dr. Holst sich wieder in die Unterlagen vertiefen kann. Als sie das Büro verlässt, habe ich auch langsam meine Fassung wiedergefunden und beginne, meine Ablage zu machen. Ehe ich mich versehe, ist es schon Mittag. Auch wenn ich pünktlich hier rauskomme, ist das zeitlich alles schon sehr knapp mit dem Beerdigungskaffee. Am besten ziehe ich mich gleich hier um, damit ich schon fertig dort ankomme.

So, noch schnell die Akten für morgen heraussuchen und dann ab in die Gästetoilette. Gott sei Dank habe ich die Sachen schon alle bereitgelegt. Mein Service-Outfit hatte ich wirklich lange nicht mehr an. Plötzlich fährt mir ein Schrecken in die Glieder. Hoffentlich passt mir die Hose überhaupt noch. Sofort steht mir der Schweiß auf der Stirn. Was, wenn die Hose nun zu eng geworden ist? Von wegen Kummerspeck angegessen und so. Augen zu und durch, es hilft nicht, Du musst die Hose jetzt anprobieren.

Ich habe mir mal Gedanken gemacht, wie ich in solch einem Moment vermeide, in Panik auszubrechen. Und habe für mich eine Lösung entwickelt, die mal besser und mal schlechter funktioniert. In solch einem Moment frage ich mich: „Was kann mir schlimmstenfalls passieren?“

In diesem Moment ist die Antwort: „Ich sehe aus wie eine Presswurst, habe Luftnot und versuche mit der Bluse den Anblick zu vertuschen. Wenn das nicht klappt, muss ich dort anrufen und sagen, dass ich doch kurzfristig absagen muss.“ Dann brauche ich mich aber wahrscheinlich in der ganzen Stadt um keinen Service-Job mehr zu bewerben. Also was hilft? Wünschen, dass die Hose passt!

Mein Wunsch wird erhört, ist gar nicht so schlimm, wie ich dachte, da passt sogar noch ein Brötchen rein. Apropos, ich habe wirklich Hunger. Und mein Brot am Vormittag schon weggeputzt. Eigentlich habe ich gar keine Zeit, mir etwas zu holen, aber wer mich kennt, weiß, dass ich hungrig unausstehlich bin. Richtig aggressiv werde ich dann. Und ich soll den trauernden Angehörigen dann die belegten Brötchen und den Streuselkuchen servieren, ohne sie anzufallen und das Brötchen aus der Hand zu reißen? Das geht gar nicht. Also zwei weitere Wünsche: Die Schranke am Bahnübergang muss auf sein und vor dem Bäcker muss ein Parkplatz frei sein.

Mit diesen Gedanken eile ich zu meinem Auto und mache mich auf den Weg. Also das wird ganz schön knapp, der Zug kommt immer zwanzig vor. Wenn ich nicht kurz vorher durch bin, stehe ich vor der Schranke und habe keine Zeit mehr für den Bäcker. Ich gebe Gas und schaffe es tatsächlich, über die Schienen zu kommen, bevor ich im Rückspiegel die rot blinkenden Lichter erkennen kann. Schwein gehabt. Der Verkehr ist erträglich und so komme ich gut durch das Städtchen. Nur noch hundert Meter und dann kommt auch schon der Bäcker. Und der Parkplatz! Glücklich parke ich ein und sehe durch das Schaufenster, ob zu dieser Zeit viel los ist. Nein, überhaupt nichts. Und warum? Weil heute Montag ist und der Bäcker zu hat! In welchem Kaff lebe ich hier eigentlich? Natürlich haben nicht alle Bäcker bei uns am Montag zu aber natürlich DIESER! Leider bleibt mir keine Zeit mehr, eine Alternative zu suchen, also fahre ich geradewegs zum Restaurant.

Als ich dort ankomme, scheine ich schon sehnsüchtig erwartet zu werden. „Gut dass Sie da sind, Frau Sommer. Wir haben schon eingedeckt, weil wir ein Problem mit dem Bäcker hatten und die Brötchen bis eben noch nicht da waren.“ Ich hätte fast laut losgelacht. „Könnten Sie vielleicht schnell helfen, die Brötchen zu schmieren? Wir sind ein bisschen in Eile“, sagt Frau Dreckmann. „Aber natürlich, das mache ich gerne. Ich komme gerade direkt von der Arbeit und hatte auch ein Problem mit dem Bäcker. Wäre es in Ordnung, wenn ich mir ein Brötchen nehme?“ Da muss auch Frau Dreckmann lachen.

So mag ich das Arbeiten, eine Hand wäscht die andere. Die Stimmung ist prima und ich habe gleich das Gefühl, hier würde ich mich sehr wohl fühlen. In einem Affentempo werden Brötchen geschmiert, gegessen, noch mehr geschmiert, dekoriert und auf silbernen Servierplatten angerichtet. Bevor die ersten Trauernden kommen, stehen auch der Kaffee und der Streuselkuchen bereit. Ich schaffe es sogar, in Ruhe einen Schluck Kaffee zu trinken und einmal durchzuatmen.

Dann öffnet sich die Türe, die ersten Gäste treffen ein, und als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, sind schon zwei Stunden vergangen wie im Flug. Wenn ich ehrlich bin, fühlt sich diese Arbeit nicht wirklich so anstrengend an, wie ich dachte und ich freue mich, dass ich schon um halb vier Feierabend machen kann und dazu noch ein gutes Trinkgeld bekommen habe. So kann ich in Ruhe Tom abholen und bin rechtzeitig zu Hause, wenn Ben kommt.

Als wir zu Hause ankommen, habe ich noch ein paar Minuten, also schmeiße ich ruck zuck den Herd an und zaubere etwas Schnelles auf den Tisch. Für heute müssen Nudeln mit Käsesauce genügen. Määääh, schreckt mich das Gemecker einer Ziege auf. Etwas irritiert schaue ich mich um, und dann fällt es mir ein: Stimmt ja, Ben hat den Klingelton meines Handys umgestellt. Er fand es lustig, dieses Gemecker einzustellen, wenn ich eine SMS erhalte. Sie ist von Lissy. Hatte ich ja ganz vergessen, dass ich ihr heute Morgen einen Notruf geschickt hatte. „Hallo Süße. Bin leider nicht in der Nähe, daher kann ich Dir heute nicht helfen. Ich hoffe, Du findest eine Lösung! Lg Lissy.“ Manchmal wundere ich mich über Mobilfunknetzanbieter. Da wäre ein Brief ja fast schneller gewesen.

„Ja, alles gut“, antworte ich knapp. „Können ja heute Abend mal telefonieren.“ Da geht auch schon die Klingel und Ben steht vor der Türe. „Mama, kann ich mich denn jetzt noch mit Felix treffen?“, sind seine ersten Worte. „Hallo Benny, ich freue mich auch, Dich zu sehen. Hast Du Hunger?“ „Eigentlich würde ich lieber spielen gehen.“ „Komm doch erst mal rein, pack Deine Schultasche aus und komm mal richtig an. Außerdem musst Du zuerst Deine Hausaufgaben machen. Komm setz Dich zu mir in die Küche.“ „Och Mann, ich habe Felix aber versprochen, dass ich komme und Du sagst immer, Versprechen muss man halten.“ Er weiß schon genau, wie er argumentieren kann.

Immer wieder versucht er es, obwohl er weiß, dass ich mich darauf nicht einlassen kann. Nachdem wir gegessen haben breitet Ben widerwillig die Mathesachen aus. Und gleich darauf wie so oft der Standardspruch: „Ich kapier das nicht!“ „Dann zeig doch mal her. Wo genau ist denn das Problem?“ Seine Anstrengungsbereitschaft geht mathematisch gesehen gegen „Null“. Ich sehe schon: Textaufgaben. Textaufgaben heißt für Ben: Er beginnt den Text zu lesen und gibt auf. Sein Kopf schaltet ab, bevor der erste Satz zu Ende gelesen ist. Meist versteht er die Frage schon, wenn er laut vorgelesen hat. Da mein Akku mittlerweile deutlich schwächelt, beschließe ich, das Ganze etwas zu beschleunigen.

Also was hilft? Bestechung. Ich weiß, pädagogisch gesehen völliges No-Go. Aber heute meine einzige Rettung wie mir scheint. „Ich mach´ Dir einen Vorschlag: Wenn Du mir jetzt die erste Aufgabe laut vorliest und wir dann alle drei Aufgaben ohne Unterbrechung zusammen machen, essen wir morgen bei McDonalds.“ „Ja“, schreit er sofort begeistert, „darf ich dann zwei Happy Meals essen?“ „Aber nur, wenn Du jetzt Gas gibst.“ Das lässt Ben sich nicht zweimal sagen. Er fängt an zu lesen: „Tim läuft auf dem Sportplatz eine Runde (400 Meter) in 2 Minuten“ – „Loser“, kommentiert Benny. „Hallooo? Wie bist Du denn drauf? Lies weiter!“ „Sina läuft in derselben Zeit…..“ Schon während er das laut vorliest, sehe ich wie sich sein Gesicht verändert. Sieht aus, als hätte er eine leuchtende Glühbirne über seinem Kopf. So haben wir die erste Aufgabe schnell geschafft. Nachdem wir uns durch den Rest gequält haben und das Heft endlich zugeklappt ist, schicke ich ein Halleluja in den Himmel.

„Darf ich denn jetzt noch zu Felix?“, kommt prompt seine Frage. „Ach Benny, das lohnt sich doch gar nicht mehr. Es ist jetzt schon so spät geworden. Geh doch einfach noch was raus auf die Fußballwiese. Aber zeig´ mir zuerst noch Dein Hausaufgabenheft.“ „Nö! Keine Lust“, antwortet er bockig. Irgendetwas sagt mir, dass nicht nur die geplatzte Verabredung hinter seiner Laune steckt. „Komm schon, umso schneller kannst Du raus.“ Wutschnaubend holt er es aus der Tasche, schmeißt es auf den Küchentisch und geht hinaus. Auf der einen Seite tut es mir leid, dass Ben sich immer alles gegenzeichnen lassen muss, aber seitdem ist es wesentlich besser geworden mit der Häufigkeit der vergessenen Hausaufgaben. Außerdem nutzen die Lehrer das Heft auch schon mal, um positive Notizen zu seiner Motivation reinzuschreiben.

„Ben hat gut mitgearbeitet“ steht allerdings heute nicht drin. „Ben hatte heute in Mathe wieder keine Hausaufgaben.“ Oh Mist, das habe ich gestern Abend in der ganzen Aufregung gar nicht mehr kontrolliert. Aber andererseits müsste ich mich ja eigentlich darauf verlassen können, dass Paul das auch kontrolliert, wenn er am Wochenende dort ist. Ich bin gerade so sauer und muss mich zusammennehmen, um Ben nicht sofort wieder reinzuholen. Da sehe ich einen weiteren Eintrag im Heft: „Frau Sommer, könnten Sie mich bitte heute Abend anrufen? Frau Dittmann.“ Seine Klassenlehrerin.

Schon wieder. Wie oft habe ich solche Anrufe schon gemacht. Und wie sehr ich sie hasse. Kann denn nicht mal ein Monat ohne eine E-Mail, ein Telefonat oder ein persönliches Gespräch vergehen? So schwer es mir auch fällt, ich versuche mich zu gedulden. Ich lasse Ben eine Weile spielen, bevor ich ihn hereinbitte, um mit ihm zu sprechen. „Möchtest Du erzählen, was heute in der Schule war?“, mache ich den Anfang. „Weiß nicht.“ Das ist bei ihm der höfliche Ausdruck für: Ich will es nicht sagen.

„Es wäre mir lieber, Du erzählst es mir, als wenn ich mich heute Abend am Telefon überraschen lassen muss. Außerdem würde ich gerne Deine Seite der Geschichte hören.“ Als er an mir vorbeigeht, streiche ich ihm über den Rücken und sehe, wie er mit sich kämpft. Dann kommen die Worte langsam und gequält aus ihm heraus: „Ich hab so mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt und da war die Frau Dittmann gleich genervt.“

„Hast Du nicht den Knetball mitgehabt, den wir Dir extra dafür besorgt haben?“ Es entsteht wieder eine Pause. „Schon“, antwortet er zögerlich. „Aber?“, will ich natürlich wissen. „Den hat Herr Porsch mir in der Stunde vorher abgenommen.“ „Weil?“ Oooh, jedes Detail lässt er sich aus der Nase ziehen. „Ich hab den nur mal rüber zu David geschmissen, weil der das auch probieren wollte.“ „Wahrscheinlich quer durch die Klasse, oder?“ „Ja, was kann ich dafür, dass David ganz hinten sitzt? Und der hat ihn dann wieder zurückgeworfen und dann wollte Sophie den Ball auch mal….“ Ich ahne schon, wie das ausgegangen ist. Dann weiß ich ja, was mich heute Abend erwartet.

Wieder spüre ich diese Zerrissenheit: Ich bin sauer, dass er wieder einmal der Grund für Chaos und Ärger in der Klasse war, bin aber auch traurig, weil es für ihn selbst schon belastend genug ist, nicht zur Ruhe zu kommen und immer das Kind in der Klasse zu sein, das man neben gute, brave Schülerinnen setzt, damit sie nicht noch mehr Ablenkung haben oder verursachen. Und diese Mädels sind meist auch nicht scharf darauf, neben dem Störenfried oder Problemkind sitzen zu müssen. Das Gespräch mit Frau Dittmann am Abend verläuft ähnlich wie sonst, mit der Ankündigung, dass Ben ab sofort wieder am Einzeltisch direkt vor dem Lehrerpult sitzt. Doch diesmal endet das Gespräch anders als gewohnt: Frau Dittmann rät mir dringend dazu, darüber nachzudenken, ob ich Benny nicht endlich Medikamente gegen ADHS geben könnte.

Ich bin so geschockt. Sie kennt meine Einstellung zu diesem Thema nur zu gut. Ich würde alles dafür tun, ihm keine Medikamente geben zu müssen. Und ich werde auch nicht aufgeben. Als ich aufgelegt habe, bin ich so am Ende, dass ich einfach nur noch ins Bett möchte. Mühsam schleppe ich mich in den Keller, um die Wäsche aufzuhängen, bevor ich todmüde ins Bett falle.

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