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Entscheidung mit Folgen

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Als ich wach werde, blitzen warme Sonnenstrahlen durch die Jalousien und fordern mich regelrecht auf, diesen herrlichen Tag zu beginnen. Ach ist das schön, mal nicht vom Wecker aus dem Schlaf gerissen zu werden, sondern nachdem man richtig ausgeschlafen ist, so langsam zu sich zu kommen und zu spüren, wie die Sonnenstrahlen auf der Nase kitzeln. Ich räkele mich genüsslich in meinem Bett und kuschele mich noch etwas in die Kissen. Schade, das mit dem Traum hat nicht geklappt. Naja, vielleicht das nächste Mal.

Während ich so entspannt im warmen Bett liege, sehe ich mich in meinem Schlafzimmer um: Paul würde über die schönen, pastellfarbenen Kissen und die weißen Kerzen nur abfällig lästern. Auch den geerbten kleinen Sekretär meiner Oma mit den in weiß und türkis eingerahmten Fotos darauf hätte ich hier gar nicht aufstellen dürfen. Und zur Krönung mein Bücherregal in den gleichen Farben. Paul hatte für Bücher nie etwas übrig. Dieses Zimmer ist eine richtige Oase für mich geworden. Ich muss daran denken, was Lissy gestern gesagt hat. Sie hat Recht, es gibt so viele Dinge, die ich gerne mache, und für die ich mir nicht mehr die Zeit nehmen kann. Das erste, was mir sofort einfällt: Mir einen leckeren Kaffee machen und mich mit einem Buch wieder ins Bett zu legen. Ja, das habe ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gemacht. Schon hält es mich nicht mehr im Schlafzimmer. Ich tanze förmlich nach unten, mache die Kaffeemaschine an und schäume mir warme Milch auf. Kurz darauf liege ich tatsächlich wieder im Bett, mein Buch in der Hand und den duftenden Kaffee auf dem Nachttisch. Hmm, das ist wie in alten Zeiten. Früher habe ich das jeden Sonntag gemacht, aber diese Augenblicke sind so selten geworden, dass sie umso kostbarer sind.

Ich weiß gar nicht, wie lange ich so gelegen und gelesen habe, als es plötzlich an der Türe schellt. Samstagvormittag. Wer kann das sein? Ich überlege, ob ich überhaupt an die Türe gehen soll. Mit meinem Schlafshirt, auf dem ein riesiger Winnie Puuh seinen Kopf in einen Honigtopf steckt, möchte ich nicht unbedingt jedem die Türe öffnen. Aber es könnte ja auch etwas Wichtiges sein. Mit diesem Gedanken gehe ich leise hinunter, um unbemerkt herauszufinden, wer vor der Türe steht. Kein Auto im Hof. Ich habe wirklich keine Ahnung. Doch meine Neugierde siegt. Ich nehme die Türklinke in die Hand und öffne die Türe einen Spalt breit. „Lotte“, sage ich erleichtert, „komm doch rein. Sorry, aber ich bin noch nicht angezogen.“ „Guten Morgen, Annie. Ich wollte Dich nicht stören. Ich habe nur gerade Brötchen gebacken und dachte, vielleicht hast Du ja Lust, mit mir zu frühstücken?“ Das ist ja mal eine schöne Überraschung. „Ja, sehr gerne“, antworte ich spontan. „Ich zieh´ mir etwas an und dann komme ich rüber, OK?“ „Ja“, freut sich Lotte, „dann bis gleich.“

Seit unserem Einzug wollten wir immer mal gemütlich einen Kaffee trinken, aber bisher hat das noch nie geklappt. So ziehe ich mir etwas Bequemes an, nehme noch ein Glas meiner selbstgemachten Brombeermarmelade aus dem Regal und schlendere über den Pfad mit den terracottafarbenen Pflastersteinen durch unseren schönen Hof zu Oma Lotte hinüber.

Sie hat ihre Haustüre offen gelassen, aber ich klopfe doch lieber erst einmal an. „Hallo?“ „Komm rein, Annie, ich bin hier in der Küche!“, ruft Oma Lotte um die Ecke. Hmm, wie das duftet. Warme Brötchen, frisch gemahlene Kaffeebohnen. Ich fühle mich zurückversetzt in die gute Stube meiner Omi. Sie ist nun schon so viele Jahre nicht mehr da, aber immer noch vermisse ich sie sehr. Die Erinnerungen an die Zeit mit ihr, sei es genau dieser Duft nach frisch gemahlenem Kaffee oder dem Kirschstreusel, den sie gebacken hat. Ihr ernstes Gesicht, wenn wir als Kinder sonntags nicht vor dem Mittagessen aus dem Bett kamen, ihr stolzer Blick, wenn wir ein gutes Zeugnis mit nach Hause gebracht haben und ihr herzhaftes Lachen, wenn sie mit ihren Freundinnen Karten gespielt und gewonnen hat. Ich bin so dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten und trage ein großes Stück von ihr in mir.

Irgendwie fühle ich mich jetzt bei Oma Lotte genau so „zu Hause“. „Komm setz Dich. Wie magst Du Dein Frühstücksei?“ Oh, sogar ein Frühstücksei gibt es. „Mittel, außen hart und nur in der Mitte etwas weicher, aber es darf nicht mehr flüssig sein.“ Schwierig zu erklären. „Also genau so wie mein Werner es geliebt hat. Wenn das Wasser anfängt zu kochen, noch 5 Minuten.“ Ich muss lachen: „Ja genau so mag ich es.“

Und schon haben wir es uns an ihrem einladend gedeckten Tisch gemütlich gemacht. „Sag mal Lotte, Du sagtest eben Werner. Heißt Dein Mann nicht Edgar?“ Lotte wirkt plötzlich nachdenklich. Doch dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ja, Edgar ist mein zweiter Mann. Wir sind erst ein paar Jahre verheiratet. Werner war mein erster Mann und meine große Liebe, mit ihm habe ich die schönste Zeit meines Lebens geteilt.“ Die Erinnerung daran scheint sie sehr zu bewegen.

„Wenn ich zu viel frage, dann sag mir Bescheid. Aber ich würde mich natürlich freuen, mehr über Werner zu erfahren.“ „Nein, ist schon in Ordnung. Was möchtest Du wissen?“ „Na, wie ihr euch kennengelernt habt und wie alt Du da warst.“ Während ich mein Brötchen aufschneide, fängt sie an zu erzählen:

„Also, ich bin ja in Bonn groß geworden. Das heißt am Rande von Bonn in einer kleinen Siedlung mit Häusern, wo die Familien wohnten, denen es finanziell nicht so gut ging. Aber wir hatten eine schöne Gemeinschaft und einer war für den anderen da. Einmal im Jahr war schon damals Pützchens Markt. Auch wenn wir kein Geld für die ganzen Attraktionen hatten, sind wir immer gerne über den Markt spaziert und haben uns alles angesehen. Manchmal hat mein Vater eine Tüte gebrannter Mandeln gekauft, die wir uns dann zu fünft geteilt haben. Als ich 17 war, kam der Neffe unserer Nachbarin zu Besuch aus Aachen, weil er auch einmal diese berühmte Kirmes sehen wollte. Und seine Tante fragte mich, ob ich nicht mitgehen und ihm alles zeigen könnte. Ich bin eigentlich nicht so der geborene Gesellschafter, schon gar nicht für jemanden, den ich überhaupt nicht kenne, aber damals gab es das Wort „nein“ noch nicht in meinem Wortschatz. Also habe ich zugesagt und zu Hause gewartet, bis Frau Stumm den jungen Mann vom Bahnhof abgeholt hatte.

Um es kurz zu machen: Als ich ihn sah, bekam ich sofort weiche Knie und ein warmes Gefühl im Bauch. Es war nicht so, dass er besonders attraktiv war, aber er hatte das gewisse Etwas und strahlende Augen, die mich sofort gefangen hielten. Es war ein wunderbares Wochenende und am letzten Tag ist er sogar mit mir über den Pluutenmarkt spaziert und hat mir von dem einzigen Geld, das er hatte, einen dünnen Seidenschal gekauft.

Es war schlimm, als er am Sonntag zurück nach Aachen fahren musste. Damals gab es ja noch kein „Skypen“ oder wie ihr das nennt, oder Emails oder Handys. Das war für junge Verliebte gar nicht so einfach. Aber für uns war klar, dass wir uns wiedersehen mussten. Wir fühlten, dass wir für ein gemeinsames Leben bestimmt waren. Werner machte seine Lehre in Aachen fertig und dann suchten wir uns ein gemeinsames Zuhause hier in der Nähe. Unsere Eltern haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil wir so jung schon zusammenziehen wollten, aber wir ließen uns durch nichts davon abbringen. Wir waren zusammen so stark, dass wir wussten, wir können alles schaffen. Wir waren bereit, die ganze Welt aus den Angeln zu heben.“

„Wow, das hört sich fantastisch an. Und so romantisch“, unterbreche ich sie. „Ja, es war eine wunderbare Zeit. Auch wenn wir einiges entbehren mussten, war es eine ziemlich unbeschwerte Zeit. Damals hatten wir kein Geld für ein ausgiebiges Frühstück, aber uns genügte eine Scheibe Brot und eine Tasse löslicher Kaffee. Apropos, willst Du noch einen Kaffee?“ „Gerne! Aber dann musst Du unbedingt weiter erzählen.“

„Ja, wir haben beide viel gearbeitet, weil wir später eine Familie gründen und dafür etwas „auf der hohen Kante“ haben wollten. Unsere Kinder sollten behütet im Grünen aufwachsen, am liebsten in einem Heim, das uns später auch gehörte. Und als ich dann schwanger wurde, haben wir uns nach genau diesem Heim umgesehen. Dann haben wir diesen Hof entdeckt. Er gehörte damals dem alten Bauern Radwig. Er hatte genug von der ganzen Knochenarbeit am Hof und wollte diesen auf Rentenbasis verkaufen. Wir fühlten uns sofort zu Hause und haben das gut durchgerechnet. Mit dem, was wir zusammengespart hatten, konnten wir die ersten Jahre über die Runden kommen, so dass ich für das Kind da sein konnte. Und dann würde ich mir wieder eine Teilzeitstelle oder eine Arbeit suchen, die ich auf dem Hof machen konnte und so würden wir das gut schaffen. Soweit der Plan.“

„Hört sich an, als wenn jetzt ein „Aber“ käme.“ „Ja, das Leben hat oftmals andere Pläne. Der Vertrag beinhaltete, dass wir den Hof auch instand hielten und hier war ziemlich viel Arbeit. Aber das hat uns nicht abgeschreckt, wir wussten ja, wofür wir das taten. Leider waren einige Arbeiten nicht ganz ungefährlich und …“ Lotte stockt kurz. Man sieht ihr an, dass die Erinnerung schmerzhaft scheint. „Wenn Du nicht weiter erzählen möchtest, ist das OK.“ Ich nehme ihre Hand und sie legt nach kurzem Zögern ihre zweite darauf. „Nein, es tut gut, das einmal zu erzählen.“

„Lenas Haus war damals noch eine Scheune. Als ich begann, dort aufzuräumen und Werkzeuge zu sortieren, brach über mir ein Balken heraus und fiel auf mich herunter. Ich war damals im sechsten Monat. Im Krankenhaus sagte man uns, der Herzschlag des Kindes sei normal, aber man könnte nicht wissen, ob das Kind einen Schaden erlitten hätte. Das könne man erst bei der Geburt sehen. Wir haben gebetet und gehofft, dass alles gut werden würde. In dieser Zeit konnte ich natürlich nicht mehr viel helfen zu Hause und alles blieb an Werner hängen. Er hat sich nie beschwert und nach seiner normalen Arbeit hier auf dem Hof voller Elan weitergearbeitet. Es ist so ein schlimmes Gefühl, wenn Dein geliebter Mann alles für Dich tut und Du ihm helfen möchtest, aber ohnmächtig zusehen musst.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“ „Aber Werner hat nie die gute Laune verloren und sagte: „Schatz, Ihr beide seid mein Leben und ich wüsste nicht, für wen ich das lieber tun würde.“ Mir kommen fast die Tränen, so sehr rührt mich ihre Geschichte. Aber ich wage kaum zu fragen, was mit dem Baby war, denn ich habe Oma Lotte noch nie von einem Kind sprechen hören und auch bei der Angelegenheit in der Anwaltskanzlei war nie die Rede von einem Kind.

Lotte erzählt weiter: „Als Emma damals zur Welt kam, war das ein Tag voller Glück und auch voller Angst, wie unsere Zukunft aussehen würde. Um es kurz zu machen: Sie war so schwer verletzt worden durch den Balken, dass sie nie würde laufen können. Es zerriss uns das Herz, als man uns das sagte, und im gleichen Augenblick verzog Emma das kleine Gesicht zu einem Engelslächeln, als wollte sie uns sagen: „Hey, lasst uns nach Hause gehen und das Beste draus machen.“ Sie war so ein Sonnenschein.“

Ich wage es nicht, Lotte zu unterbrechen und irgendetwas zu sagen. „Natürlich war das Leben hier auf dem Hof dann ganz anders, als wir es geplant hatten. Aber es stellte sich heraus, dass wir ihr nirgendwo anders so eine schöne Zeit hätten bieten können. Ich konnte nicht arbeiten gehen, da ich den ganzen Tag über für Emma da sein wollte und auch musste. Aber wir haben es uns schön eingerichtet. Wenn ich am Hof gearbeitet habe, war sie immer bei mir. Werner kam, so schnell es ging, von der Arbeit heim, um Zeit mit ihr zu verbringen. In diesen Stunden habe ich dann für die Familien aus dem Dorf Näharbeiten gemacht und die Lebensmittel, die auf dem Hof in Hülle und Fülle wuchsen, verarbeitet und uns etwas Leckeres gekocht. Herr Radwig forderte zwar auch die vereinbarten Dienste ein, aber das haben wir alles irgendwie geschafft. Es war eine anstrengende Zeit, doch wir waren sehr glücklich.

Irgendwann erfuhren wir, dass Emma nur noch einige Jahre zu leben hatte, und sie schien es auch zu spüren. Zu dieser Zeit haben wir dann einen kleinen Goldie-Welpen geholt, Benny. Als sie den Namen erwähnt, muss ich lächeln. Der hat ihr wieder neue Kraft und neuen Lebensmut gegeben und uns auch. Es war wie ein letztes Aufbäumen. Jede kostbare Minute genießen. Jedes Lächeln auf ihrem Gesicht genießen. Ich sehe noch heute, wie sie auf einer Decke auf der Wiese im Halbschatten des Apfelbaumes liegt und Benny neben ihr, mit dem Kopf auf ihrem Bauch. So ist sie dann auch eingeschlafen.“

Der Kloß in meinem Hals ist so dick und die Tränen laufen jetzt völlig ungehindert über mein Gesicht. „Ach Kindchen, ich wollte Dich nicht traurig machen. Natürlich war das eine schlimme Zeit, aber was am Ende zählt, ist die Zeit, die wir miteinander hatten.“ Ich muss tief Luft holen, nicke ihr zu und stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. Tausend Gedanken und Gefühle wirbeln durch meinen Kopf. Da wohnt man mit jemandem Türe an Türe und weiß gar nicht, welche Geschichte sich hinter diesem Menschen verbirgt. Ich bin manchmal gestresst vom pausenlosen Bewegungsdrang meines Großen und Lotte wäre froh gewesen, wenn ihre Tochter je hätte laufen und über die Wiese tollen können.

Als ich in den Spiegel sehe, bin ich geschockt, wie verheult ich aussehe. Ja, so bin ich, ich kann es auch nicht ändern. Gott sei Dank sind wir ja hier unter uns und niemand sieht mich so. Ich bin vor Allem froh, dass meine Kinder mich nicht so sehen können. Wieder bewundere ich Lotte, die trotz dieses Schicksals so eine positive Einstellung zum Leben hat. Jetzt muss ich noch wissen, was mit Werner passiert ist und nehme nach einem tiefen Atemzug meine Kraft zusammen und gehe zurück in die Küche. „Möchtest Du noch etwas essen?“, fragt Lotte. „Nein, ich bin pappsatt. Nur einen Saft würde ich noch gerne trinken.“ „Dann lass uns ins Wohnzimmer gehen.“

Lotte geht voran, denn bislang waren wir immer nur in der Küche, ihr Wohnzimmer ist die eigentliche Seele des Hauses. Neben dem Kamin ist ein Sekretär, auf dem ihre ganzen Fotos stehen und ich komme mir vor, als würde ich gerade Teil dieser Familie. Wir setzen uns auf die gemütliche Couch mit dem traumhaften Blick in ihren Blumengarten. Margeriten und Ranunkeln leuchten in allen Farben zu uns herüber. Lotte hat zwei Gläser Sekt vorbereitet und reicht mir eins davon. „Ich wünsche Dir, dass Du mit Deinen Kindern hier immer so glücklich bist, wie wir es waren. Und dass ihr immer gesund bleibt.“ Ihr Gesicht sagt mir, wie sehr diese Worte ihr aus dem Herzen sprechen.

„Ich danke Dir sehr. Ich glaube, das sind wir schon. Die Kinder fühlen sich so wohl hier und Dich mögen sie auch sehr gerne. Sag mal, darf ich noch wissen, was mit Werner passiert ist?“ „Ja, das darfst Du. Wir haben uns gegenseitig Halt gegeben und Benny hat auch seinen Teil dazu beigetragen, dass wir die Zeit überstanden haben. Wir haben Benny dann als eine Art „Therapiehund“ ausbilden lassen. Damals nannte man das noch nicht so, aber wir sind dann mit ihm in Krankenhäuser und Hospize gegangen und haben anderen Kindern damit eine Freude gemacht.“ „Genau das habe ich letztes Jahr zu Lissy gesagt: Wie gerne würde ich für die Kinder einen Hund anschaffen und ihn ausbilden lassen“, unterbreche ich Lotte, „aber mir fehlt zum einen die Zeit, mich darum zu kümmern und das Ganze ist ja auch ziemlich kostenintensiv. Ich kann mir gut vorstellen, wie erfüllend diese Aufgabe ist.“

„Ja, das stimmt, aber auch für das Tier und seinen Herrn eine große Anstrengung. Benny hat das noch 5 Jahre geschafft, und dann ist er zu Emma gegangen. Nicht lange danach ist auch mein Werner gegangen.“ Sie hält inne und sieht sich die Fotos auf dem Kaminsims an. „Das tut mir so leid, Lotte.“ Irgendwie fehlen mir die Worte angesichts einer solch tragischen Geschichte. Doch sie antwortet: „Ist schon gut, Annie. Weißt Du, solange ich hier lebe, sind sie alle bei mir.“

Ich nehme ihre Hand und eine Zeitlang sitzen wir einfach nebeneinander auf der Couch und schweigen. „Aber sag mal, was ist denn mit dem Vater von Benny und Tom. Den sehe ich eigentlich nie“, unterbricht sie irgendwann unser Schweigen. „Ach weißt Du, Lotte, im Vergleich zu Deiner Geschichte ist sie ziemlich harmlos, wenn auch für die Kinder traurig. Wenn ich es mit einem Lied ausdrücken sollte, fällt mir spontan diese Zeile von Falco ein: Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist! Vor einiger Zeit habe ich Paul gebeten, dass er sich doch mal etwas Zeit für seine Kinder nehmen soll und seine Antwort war: „Ich hätte auch ohne Kinder leben können. Ich tu´ nur noch, was MIR Spaß macht, und wer damit nicht klar kommt, hat Pech gehabt.“ Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zu seinem Kurschatten.“

Lotte ist sichtlich entsetzt. „Er hat Dir ernsthaft gesagt, dass er sich mit ihr trifft?“ „Mehr als das. Er hat sogar vorgeschlagen, dass wir sie mit in unseren Sommerurlaub nehmen. Wenn ich auf die Kinder aufpassen müsste, könnte sie ihm Tauchen beibringen und abends mit ihm was trinken gehen, weil er ja keine Lust hätte, schon um zehn wegen der Kinder auf dem Zimmer zu hocken.“ Lotte schüttelt den Kopf. „Und was hast Du dazu gesagt?“ „Dass ich sie auf gar keinen Fall mitnehmen würde.“ „Und dann?“, hakt Lotte nach. „Hat er den Urlaub storniert!“, antworte ich. „Nicht im Ernst!“ Lotte kann nicht glauben, was sie da hört. „Doch, er hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass ich mich so anstellen würde.“

„Was ist das nur für eine Frau?“, will Lotte wissen. „Naja“, antworte ich, „Frau ist vielleicht übertrieben, das Mädel war frische 20 Jahre alt.“ Wieder schüttelt Lotte verständnislos den Kopf. „Da fällt mir nichts mehr zu ein.“ „Mir irgendwann auch nicht mehr“, entgegne ich, „ich habe einfach die Hoffnung, dass er die Zeit mit den Kindern jetzt, wo er sie nur ab und zu am Wochenende sieht, wirklich zu schätzen weiß und genießen kann. Den Kindern wünsche ich es auf jeden Fall.“

„Viele Menschen erkennen erst, was wichtig ist, wenn es zu spät ist. Irgendwann wird er merken, was er verpasst hat. Und welchen Preis er dafür bezahlt. Und was Dich angeht: Ich bin sehr gespannt, was die Zukunft für Dich noch so bereithält!“, schmunzelt Lotte. Dazu fällt mir wieder spontan ein Zitat ein: Die Mutter von Forrest Gump hat ja schon gesagt: Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weißt nie, was man kriegt!, antworte ich. „Ja genau, und deshalb musst Du auch, wenn sich eine Praline anbietet, nicht über die Kalorien nachdenken, sondern zugreifen und genießen.“ Dieser Gedanke gefällt mir. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich schießt mir Lenas Bekannter durch den Kopf. Ob er eine Praline ist? Oder der Apfel aus dem vermeintlichen Paradies, den man besser nicht angerührt hätte? Na wenn ich das mal wüsste.

Ich merke, dass mein Kopf keinen Platz mehr für einen vernünftigen Gedanken hat und fasse einen Entschluss. „Ich glaube, ich muss jetzt gehen. Ich habe irgendwie das Bedürfnis, meine Laufschuhe anzuziehen und in den Wald zu gehen.“ „Mach das!“, sagt Lotte. Ich nehme sie in den Arm und halte sie eine Weile fest. „Vielen Dank für die Einladung, es war sehr schön, mit Dir zu frühstücken.“ „Danke gleichfalls“, sagt sie lachend. „Ich denke, das wird nicht das letzte Mal gewesen sein.“ „Ganz bestimmt nicht! Ich wünsche Dir noch ein schönes Wochenende!“ „Das wünsche ich Dir auch. Und eine Schachtel Pralinen – die Auslese!“

Diese Frau ist einfach unglaublich. Man sieht ihr überhaupt nicht an, was sie in ihrem Leben schon alles durchmachen musste. Sie blickt trotzdem voller Vertrauen in die Zukunft und steckt mich damit förmlich an. Ich winke ihr noch einmal kurz zu und hüpfe beschwingt durch den Hof, um meine Laufschuhe und die Stöcke aus dem Keller zu holen. Ich komme um die Ecke und – PENG – pralle gegen etwas. Nach dem ersten Schrecken schaue ich hoch und – erschrecke mich schon wieder. „Oh Gott!“ Ausgerechnet Lenas Bekannter. Das kann doch wohl kein Zufall sein. Eben habe ich noch an ihn gedacht und jetzt steht er hier. Habe ich mir unbewusst gewünscht, dass er kommt? Vielleicht hätte ich aber vorher darüber nachdenken sollen, dass der Zeitpunkt nicht besonders gut gewählt ist. Ich hatte heute Morgen im Bad gerade mal Zeit für eine Katzenwäsche, habe mir nur etwas Bequemes übergezogen, mir dann bei Oma Lotte die Augen aus dem Kopf geheult und 2 Gläser Sekt in mich hineingekippt. Oh Gott, ich möchte gar nicht sehen, wie ich jetzt aussehe. Ich sehe zu ihm hoch und habe keine Ahnung, was ich machen oder sagen soll. Und ich weiß noch nicht einmal seinen Namen.

„Hallo Annie!“, sagt er. „Hallo!“, antworte ich. Oh, wie peinlich. „Michael!“ „Was?“ „Ich heiße Michael. Damit Du mich nicht immer mit Oh Gott ansprechen musst. Wieder ein Gespenst?“, fragt er amüsiert. „Nein, sorry bin im Ausnahmezustand!“, poltert es aus mir heraus. In diesem Augenblick habe ich das Gefühl, dass mein ganzes Leben ein einziger Ausnahmezustand ist. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und sehe, dass ich so schnell wie möglich in mein Haus komme.

Ich lasse mich auf die Treppe plumpsen und stecke den Kopf zwischen die Knie. Wenn ich ein Strauß wäre, würde ich meinen Kopf im Boden vergraben. Kann man denn noch peinlicher sein? „Aaah“, ich könnte laut schreien. Aber wenn Michael das draußen hören würde, meint er womöglich noch, dass ich Hilfe brauche. Vielleicht hätte er gar nicht Unrecht. Am besten lege ich mich einfach nur noch ins Bett. Oder nein, ich habe eine bessere Idee. Ich öffne die Terrassentür: Ja, das Wetter ist perfekt und so klappe ich meine Liege aus und mache es mir im Halbschatten bequem und – schlafe sofort ein.

Eine Stunde später werde ich wach und muss mich erst einmal sortieren. Ach ja, ich habe geträumt. Von Michael und Paul, von Benny und Tom, von Brutus, von meiner Schwester und meiner Chefin. Ich glaube, ich muss dringend etwas Ruhe und Ordnung in mein Leben bringen. Ja, das werde ich tun. Also überlege ich nicht lange, hole die Walkingschuhe und Stöcke aus dem Keller und laufe los. Das ist für mich das beste Mittel, um einen klaren Kopf zu bekommen. Gesagt getan. Keine fünf Minuten später bin ich im Wald – dankbar dafür, dass ich Michael nicht noch einmal über den Weg gelaufen bin. Die frische Waldluft tut gut und schon bald erwische ich mich dabei, wie ich singend und mit bester Laune durch den Wald laufe.

Das sollte ich wirklich öfter machen. Ich merke, wie gut mir der Sauerstoff tut und meiner Figur kann das auch nicht schaden. Automatisch lege ich bei diesem Gedanken meine Hand auf den Bauch und denke: Zweimal die Woche müsste doch genügen, um das kleine Polster wieder loszuwerden. Wie schön die Gegend hier doch ist: Der kleine Bach, der hier durch den Wald fließt, die Sonnenstrahlen, die durch die Lichtungen blitzen. Hier müssten eigentlich auch die Rehe sein, die Tom von seinem Baum aus gesehen hat. Ich lasse meinen Blick weiter schweifen und bin begeistert von der Vielfalt der Bäume und Sträucher. Auf einer Lichtung schimmern lila blühende Sträucher, von denen ich mir am liebsten einige zu Hause in die Vase stellen würde. Doch dann wären sie nach wenigen Tagen verblüht und hier kann ich sie mir immer wieder ansehen. Und die Schmetterlinge bewundern, die um die Blüten herumflattern. Im Nu ist eine Stunde vorbei und ich komme wieder zu Hause an, völlig erschöpft, aber glücklich.

Irgendwie bin ich völlig zeitlos. Auf dem Weg in die Dusche werfe ich einen Blick auf den Wecker im Schlafzimmer. Drei Uhr nachmittags. Eigentlich wollte ich am Wochenende noch so viel schaffen, aber irgendwie hat mich dieser Tag emotional und nun auch körperlich völlig geschafft. Daher beschließe ich, jetzt nur noch das Nötigste im Haus zu tun, und mich dann ins Auto zu setzen, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Wozu hätte ich denn heute Abend Lust? Ich weiß es, ich werde mir ein schönes Stück Fisch kaufen, etwas Salat und mir dann eine gesunde leckere Mahlzeit machen. Und dann einen gemütlichen Fernsehabend auf der Couch. Völlig entspannt.

Es ist so ganz ungewohnt, am Wochenende mal nur Zeit für sich selbst zu haben. Natürlich vermisse ich die Jungs, aber bei dem straff durchorganisierten Ablauf der ganzen Woche bin ich jetzt eigentlich ganz erleichtert, dass ich den Tag mal so entspannt angehen kann. In den Geschäften ist eine schöne ruhige Stimmung, da die meisten Familien ihre Einkäufe schon morgens erledigt haben und so schlendere ich locker durch die Gänge und lasse mich inspirieren, was ich für das Wochenende noch gerne mitnehmen möchte.

Die Meeresfrüchte sind im Angebot. Die sind direkt nach den unbezahlbaren Belgischen Pralinen meine absolute Lieblingsschokolade. Sehr verlockend. Aber ich wollte ja ein bisschen auf die Figur achten. Andererseits war ich ja heute schon laufen. Und morgen früh kann ich ebenfalls laufen gehen. Ach was soll´s. Denk daran, was Oma Lotte über die Pralinen gesagt hat. Also landet die Köstlichkeit in meinem Einkaufswagen.

Und am Abend auf dem Wohnzimmertisch. Ja, so hatte ich mir mein freies Wochenende vorgestellt: Der Fisch war köstlich und ich sitze mit Bens Sonne und einer kuscheligen Decke auf der Couch. Was für ein Luxus: Endlich habe ich Zeit, mir ein Buch zu nehmen und ohne Zeitdruck zu lesen. Das Buch über ADHS, das mir die Kinderpsychologin empfohlen hat, liegt schon seit Wochen in meinem roten Bücherregal und wartet darauf, dass ich einen Blick hineinwerfe.

So vieles kommt mir schon bekannt vor, denn im Grunde weiß ich ja, was man tun kann, um Benny zu helfen. Aber ich habe immer noch die Hoffnung, dass es irgendwo doch noch einen Hinweis gibt, der uns weiterhilft. Die Stärken der Kinder fördern. Einer der Lehrbuchsätze, aber einer, an den ich fest glaube. Eine von Bennys Stärken ist ganz klar seine Phantasie und seine Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Und seine Hilfsbereitschaft. Das mit der Delfin-Geschichte muss ich wirklich fest einplanen. Ich beschließe, Tom am Wochenende mal einen Tag lang bei seinem Freund Max einzuquartieren und diese Zeit ausschließlich für Benny und unsere Geschichte zu reservieren. Ich höre Benny so gerne dabei zu, wenn er eine Geschichte erzählt.

Die Gedanken wandern so durch meinen Kopf und plötzlich kommt mir eine Idee. Ja, genau das ist es. Ich bin total aufgeregt. Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Ich werfe die Decke beiseite, hole meinen Laptop aus der Schublade und drücke auf Power. Ich weiß gerade nicht, wohin mit meiner Energie, wenn ich so eine spontane Idee habe, kann es mir gar nicht schnell genug gehen. Als das Internet endlich startklar ist, gebe ich den Suchbegriff ein: Hörbuch.

Eine Geschichte mit Benny zu erfinden, ist schon eine tolle Sache, aber diese mit seiner wunderbaren Stimme auch noch festzuhalten, begeistert mich total. Ich kenne mich aber leider damit überhaupt nicht aus, also versuche ich dank des World Wide Web die Erfahrungen der restlichen Welt für uns zu nutzen. Vielleicht gibt es ja in unserer Gegend ein Studio, das solche Aufnahmen machen könnte. Doch so schnell dieser Gedanke auch kam, genauso schnell kann ich ihn wahrscheinlich auch wieder verwerfen. Das wird bestimmt eine ganze Stange Geld kosten.

Also google ich mich ein wenig durch die Welt der Hörbücher, um mich überhaupt erst einmal zu informieren. Vielleicht kann man ja mit einfacher Technik selbst eine Aufnahme machen. Der Abend vergeht wie im Flug. Im Hintergrund läuft eins meiner Lieblingsmusicals mit Fred Astaire im Fernsehen und ich liege mit dem Laptop auf dem Schoß im Wohnzimmer und bin motiviert und glücklich, eine neue Idee gefunden zu haben. Da ich mich bisher mit dieser Materie überhaupt nicht beschäftigt habe, nutze ich die Zeit und wandere von einer Seite zur anderen. Plötzlich erscheint auf dem Bildschirm ein Link zu einer Seite mit dem Titel: Hörbuchwettbewerb. Das macht mich neugierig.

Der Kinderbuch-Klassiker von Morgen“ lautet der Wettbewerb für phantasievolle Kinder-Hörbuchgeschichten, der von der Akademie „Gelbe Feder“ ausgeschrieben ist. Angenommen werden alle deutschsprachigen Einsendungen mit maximal 22.000 Zeichen. Es kann der Beginn eines längeren Manuskriptes sein, das jedoch bisher unveröffentlicht sein muss. Alle Einsendungen, die bis zum 10. Oktober (Poststempel) eingehen, nehmen an dem Wettbewerb teil. Sie können die Datei als MP3-File auf einer CD oder als Anhang einer Email senden.“

Mensch, ich könnte mir vorstellen, dass das Benny gut gefallen würde, wenn seine Geschichte irgendwo festgehalten und veröffentlicht würde. Das muss ich ihm wirklich zeigen. Auf der anderen Seite: Die Chance, bei solch einem Wettbewerb Erfolg zu haben, ist doch sehr gering, und vielleicht würde er das wieder als eine Niederlage empfinden. Ich werde das mit dem Wettbewerb im Hinterkopf behalten und mich mit Benny überhaupt erst einmal an seine Geschichte setzen und dann sehen wir weiter.

Ich versuche, den Gedanken wieder beiseite zu schieben. Aber einmal in meinem Kopf festgesetzt ist er wie der rosa Elefant. Gut, dass der Akku des Laptops gerade anfängt zu blinken, das ist das Zeichen, dass ich die Geschichte jetzt vorerst weglegen sollte. Ich kann ja trotzdem locker in meinem Gedächtnis kramen, ob ich nicht jemanden kenne, der die Möglichkeit hätte, das mit uns aufzunehmen. Und wenn es nur für uns ist. Da es mittlerweile schon spät geworden ist, beschließe ich, auch gleich ins Bett zu gehen. Wenn das stimmt, was ich über Mark Twain gehört habe, möchte ich das jetzt auch mal versuchen. Man sagt, dass er – wenn er mal in einer Geschichte nicht wusste, wie es weitergehen sollte oder sonst irgendeine Lösung für etwas suchte – mit dem Wunsch für eine gute Eingebung ins Bett gegangen ist. Natürlich voller Zuversicht, dass das funktionieren würde. Das nehme ich mir jetzt auch vor.

Ganz gemütlich lasse ich auch den Sonntag vorbeiplätschern und freue mich im Laufe des Nachmittags, dass die Kinder bald nach Hause kommen. Ich bereite das Essen vor, damit wir unseren gewohnten Wochenend-Abschluss mit einem schönen Abendessen genießen können.

Punkt 18.00 Uhr biegt Pauls Auto um die Ecke. Na wenigstens wenn er sie wieder wegbringt, ist er pünktlich. Die Kinder kommen aus dem Auto geschossen und springen mir in die Arme. „Hey, nicht so stürmisch, ihr haut mich ja glatt von den Socken.“ „Hallo Mama! Was machen wir jetzt noch?“ Also es sieht nicht so aus, als könnte ich sie jetzt an den Tisch zum Essen setzen. Die beiden müssen noch richtig Energie loswerden. „Sagt Papa Tschüss und wenn ihr möchtet, können wir dann noch eine Runde aufs Trampolin.“ „Jaaa. Trampolin“, kommt sofort die Antwort. Schnell verabschieden sie Paul und rennen schon mal vor.

„Möchtest Du noch einen Kaffee?“, frage ich, um die „Übergabe“ etwas zu entspannen. „Nein“, antwortet er angespannt wie immer und steigt sofort wieder in sein Auto. „Wann möchtest Du die Kinder wieder holen? Übernächstes Wochenende?“, frage ich immer noch höflich nach. „Weiß ich noch nicht“, antwortet er nur und braust davon. Ich würde mir wirklich wünschen, dass wir einfach nett und ungezwungen miteinander umgehen können, doch leider blockt Paul jeden Versuch der freundlichen Kommunikation gleich ab. Und flüchtet.

Hinten im Hof höre ich die Kinder lauthals lachen und Brutus aufgeregt dazu bellen. Meine Laune bessert sich sofort. „Mama komm mit aufs Trampolin“, ruft Benny schon von Weitem. „Ja, komm hoch“, ruft nun auch Tom. „Seid ihr sicher? Wenn ich mal anfange zu hüpfen, fliegt ihr ja über das Netz hinaus“, provoziere ich etwas. „Wenn Papa mit drauf wäre, würde die Bespannung reißen!“, setzt Benny noch einen drauf und lacht sich kaputt. Oh Kinder können so nett sein.

„Komm wir federn Tom“, sagt Benny. Der schaut gleich etwas ängstlich drein. „Aber nicht über das Netz“, sichert er sich ab. „Nein“, beruhige ich ihn, „wir sind ganz vorsichtig. Wenn es Dir zu doll wird, rufst Du: Ausdiemaus.“ Das findet er lustig. Wir legen den kleinen Kerl in die Mitte des Trampolins, stellen uns rechts und links an seine Seite und auf Bennys Kommando fangen wir an, gleichmäßig zu hüpfen. Zumindest versuchen wir es, was bei unserem Gewichtsunterschied nicht wirklich gut funktioniert. Also rollt der kleine Tom schnell in meine Richtung und ich muss aufpassen, dass ich nicht auf ihn springe. „Ausdiemaus“, kommt postwendend aus seinem Mund. Ich glaube, er hat es ein wenig mit der Angst zu tun bekommen. „Komm wir versuchen es nochmal, aber zuerst etwas langsamer.“

„Können wir nicht Brutus in die Mitte setzen und ihn federn?“ Bei dem Gedanken daran muss ich laut lachen. „Oh nein, das geht auf gar keinen Fall. Er kann doch gar nicht Ausdiemaus rufen, wenn ihm das nicht gefällt.“ „Aber er könnte ja bellen“, mischt sich Benny ein: „Aber er bellt ja auch, wenn er Spass hat, wie sollen wir dann wissen ob ihm das gefällt oder nicht?“ Das muss Tom einsehen. „Aber ich lege mich gerne in die Mitte und dann federst Du mich mit Mama.“ „Nein, ich will in der Mitte bleiben.“

Also wagen wir einen neuen Versuch. Noch bevor wir loshüpfen, ruft Tom: „Ausdiemaus“ und direkt danach: „Spaß, ich hab nur Spaß gemacht. Fangt endlich an.“ Es dauert ein wenig, bis wir es raushaben, wie Tom gleichmäßig hoch federt, aber am Ende schaffen wir es sogar, dass Benny und ich ihn zusammen auffangen, als er bis hoch auf Bennys Kopfhöhe federt. Ich glaube, das war nun genug Aufregung für den Abend und ich merke, wie mir so langsam die Luft ausgeht. Und so bin ich es, die diesmal Ausdiemaus ruft. „Ach nööö, wir wollen noch nicht rein“, meckert Benny. „Ich schon“, meint Tom. Ich glaube, ihm ist jetzt doch etwas schwindelig geworden. „OK, ich gehe schon mit Tom rein, dann kann er duschen und Du kommst bitte in einer Viertelstunde nach.“

Wir sind oben im Bad und ich habe Tom gerade fertig in einen frischen Schlafanzug gepackt, da höre ich von draußen einen Schrei. Einen wohlbekannten Schrei. Sofort renne ich die Treppe hinunter und zum Trampolin. Benny liegt weinend in der Mitte und hält sich das Knie fest. „Ich hab fast den Rückwärtssalto geschafft und dann bin ich schief aufgekommen.“ Das Knie ist ganz geschwollen. „Komm, ich trag Dich rein und dann sehen wir mal, ob wir das so hingekommen oder ob wir noch zum Arzt müssen.“

Nach einem Eispack, Arnica Globuli und einem kuscheligen Platz auf der Couch mit einer Decke und einer Tasse Tee sieht die Welt Gott sei Dank schon wieder besser aus. „Du versuchst jetzt einzuschlafen, und wenn die Schmerzen zu stark sind, mache ich nochmal Salbe drauf oder gebe Dir etwas für die Schmerzen. Und morgen früh sehen wir, wie es aussieht.“ Ich hoffe, das Krankenhaus bleibt uns dieses Mal erspart. Es ist kaum zu glauben, die Kinder sind gerade zwei Stunden zu Hause und das Leben ist mit Karacho zurück.

Als Benny schließlich auch im Bett ist, packe ich die letzten Reste aus der Tasche. Die Krankenversicherungskarte sollte ich besser gleich in die Küche legen, falls wir sie morgen früh doch noch brauchen. Ich öffne den Reißverschluss an der Seite der Tasche – nichts. Seltsam. Ich hatte mit Paul vor langer Zeit vereinbart, dass wir diese immer griffbereit in der Seitentasche platzieren, damit wir im Notfall sofort wissen, wo sie zu finden sind. Ob er sie gebraucht hat und vergessen hat, sie zurückzulegen? Aber dann hätte er doch bestimmt eben etwas gesagt.

Es hilft nichts, ich muss das unbedingt noch heute Abend klären. Da er ja mir gegenüber nicht sehr gesprächig ist, schreibe ich ihm eine SMS: „Wo sind denn die Versichertenkarten? Kann sie nicht finden.“ Es dauert gar nicht lange und seine Antwort kommt: „Bei mir!“ Mist, hat er es doch vergessen? „Benny hat sich wehgetan. Kann sein, dass ich sie morgen brauche.“ Seit Paul aus Bonn weggezogen ist, gestaltet es sich etwas umständlich, wenn mal etwas vergessen wurde. „Dann musst Du zu mir kommen!“, lautet seine Antwort. So ein Blödmann, nur weil er es vergessen hat, muss ich im Zweifelsfall die lange Fahrt machen. Ich antworte nicht so ärgerlich, wie ich gerade bin, weil ich wie immer Stress vermeiden will, den am Ende die Kinder ausbaden müssen: „Falls ich sie brauche, melde ich mich. Bitte pack sie das nächste Mal wieder in die Tasche. Danke.“

Ich hatte die Angelegenheit bereits abgehakt, als Minuten später noch eine Antwort von Paul folgt: „NEIN!“ Was ist denn das jetzt? Wie „nein“? Ich weiß gar nicht, was er meint. Also lese ich noch einmal meine letzte Nachricht. Ich habe doch nur gebeten, die Karten beim nächsten Mal wieder einzupacken. Da ich ihn tatsächlich nicht verstehe, schicke ich ihm eine Nachricht mit zwei Fragezeichen. Dann kommt die Antwort von Paul: „Du musst mich in Zukunft erst um Erlaubnis fragen, wenn Du mit den Kindern zum Arzt gehen willst.“ Hä? Das kann er doch nicht ernst meinen. Ich wollte auch diesbezüglich keinen Stress, daher hatte ich von Anfang an einem gemeinsamen Sorgerecht mit allen Konsequenzen zugestimmt. Obwohl Paul die Arzttermine mit den Kindern bisher überhaupt nicht interessierten. Genauso wenig wie die Schultermine. Das sieht doch aus wie reine Schikane. Um genau das zu bestätigen, setzt er noch eins drauf mit der nächsten SMS: „Ich will, dass Du von mir eine schriftliche Einwilligung holst, bevor Du mit einem Kind zum Arzt gehst.“ „Wie soll das denn funktionieren bei dieser Entfernung?“, frage ich nach. Jetzt platzt mir gleich der Kragen. Mit seiner letzten SMS zu diesem Thema beendet er die Kommunikation: „Das ist DEIN Problem!“

Ich kann das einfach nicht glauben. Eine unfassbare Wut steigt in mir hoch. Paul hat oft genug deutlich gemacht, dass ihn diese Angelegenheiten gar nicht interessieren. Das ist also ein reines Machtspiel. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich tauchen wieder die Bilder des Vorstellungsgespräches in meinem Kopf auf. Auch eine Art von Machtspiel. Was denken sich diese Menschen eigentlich? Muss ich mir das alles gefallen lassen? Plötzlich ist die Antwort ganz klar in meinem Kopf: NEIN!

Jetzt ist eindeutig der Punkt erreicht, wo ich mir so ein Verhalten nicht mehr gefallen lassen werde. Mein Entschluss steht fest: Ich werde mich mit aller Macht wehren. Mit aller Macht heißt für mich notfalls auch mit gerichtlicher Unterstützung. Gleich morgen werde ich meine Chefin darum bitten, dass wir gemeinsam gegen diesen Rechtsanwalt vorgehen. Und außerdem wird Paul von mir einen Brief erhalten, der sich gewaschen hat. Ich werde dafür sorgen, dass ich nicht mehr von seinen Launen abhängig bin, wenn es um das Wohl meiner Kinder geht! Oder auch um mein eigenes! Es reicht!

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