Читать книгу Im Schatten des Burn-outs - Pina Petersberg - Страница 13
TAG DES UFOS WECKT SIEBENSCHLÄFER
ОглавлениеAm Siebenschläfertag hatten die erneuten tagelangen Regengüsse sich erschöpft und die Wetterlage war völlig undurchsichtig, sodass nähere Vorhersagen in Anlehnung an die alte Bauernregel unmöglich schienen. Bedeutete dies nun Schutz durch eine gute Fee oder drohte Unheil? Sollte sich nichts verändern?
Bald darauf, am Tag des Ufos, wurden nicht unser Winterschlaf unterbrochen, aber unser jahrzehntelanger Dornröschenschlaf fand ein rasches Ende. Es war ein wichtiger Tag, nicht nur für Geheimdienste, sondern auch für unsere Geschäftsführung, denn es galt, alle Sicherheitsvorkehrungen gegen seltsame unirdische Flugobjekte, aber auch Cyberattacken einer genauen Investigation zu unterziehen. Für diesen Zweck hatte Panther seine wichtigste graue Eminenz Fade beauftragt, eine sehr kostenintensive Anzeige zur Gewinnung eines advocatus diaboli oder Cyber-Kommandanten zu lancieren, der idealerweise als jung-dynamischer millennial durch die digitalen Techniken geprägt sein sollte.
„Ich erwarte von ihm das Kommando über Cyberattacken“, kündigte Panther entschieden an. „Das bedeutet nicht nur die Kreation von Killerviren zur Säuberung von Festplatten, sondern auch von cyber-kinetischen Attacken, die wiederum jegliche feindliche Objekte zerstören, ja selbst Whistleblower unmittelbar ausschalten“, fuhr er übereifrig fort, während in seinen gierigen Augen ein irrer Glanz flackerte, so sehr hatte er sich in Rage geredet.
Fade wiederholte devot, wie um sich zu vergewissern, dass er richtig verstanden hatte: „Alles ist zu hinterfragen, Schlüsselprozesse sind auf den Kopf zu stellen. Sensible Daten der Konkurrenz, Chat-Foren und Suchmaschinen sollen durch diese künstliche Intelligenz umfassend archiviert und ausgewertet werden, sodass durch unmittelbaren Zugriff auf die Gedanken der Bürger destruktive feindliche Ufos und auch Whistleblower durch cyber-kinetische Abwehr mit sofortiger Wirkung ausgeschaltet werden.“
Tatsächlich, Panthers diesbezügliches Alter Ego, Mr. Y, ward sehr bald gefunden. Er war mit den neuen Medien sozialisiert, sozusagen ein digital native. Er kommunizierte rund um die Uhr, natürlich an seinem Lieblingsort und unter Nutzung von Skype zur Zuschaltung bei wichtigen Sitzungen. Manchmal bestellte er unverbindlich eine Herzdame dazu. Er würde sich nicht an den Biokoka-Konzern anpassen, sondern machte schon im Bewerbungsgespräch klar, woher der Wind wehte.
„Sie gehören in die engere Auswahl“, drehte er den Spieß überlegen lächelnd um und zeigte seine makellosen, strahlend weißen Zahnreihen, ehe Fade noch wusste, wie ihm geschah. Zuvor hatte er zunächst genau geprüft, ob sich sein neuer, virtueller Arbeitsplatz lohnen würde.
So blieb für uns die Wetterlage nicht indifferent, sondern nach dem Siebenschläfertag gab es einen heftigen Umschwung. Mr. Y ließ uns fühlen, dass wir Gruftis zum Inventar gehörten. Schon bald fand sich eine E-Mail von Fade auf meinem Desktop: „Sie sind anonym observiert worden. Sie haben sich zum Frühsport nicht ausgestempelt.“
Ich fühlte Ärger in mir aufsteigen. Welcher Spitzel hatte das beobachtet?, fragte ich mich. Schließlich hatte ich doch meinen Abwesenheitsagenten aktiviert. Aber es half nichts, Besserung musste gelobt werden und Nachsitzen war angesagt. Allgemeines unterschwelliges Misstrauen breitete sich aus, kroch von hinten die Wirbelsäule empor, bis sich die Nackenhaare sträubten, ließ uns erschaudern. Wer war Freund und wer gehörte ins feindliche Lager? Waren Cookies unterwegs, ein Lauschangriff geplant oder gar elektronische Ufos im Anflug?
Das ehrgeizige Bemühen, nicht ins Fettnäpfchen zu treten, keine Fehler zu machen, provozierte Pannen, ja forderte sie heraus, im Gegensatz zu einer gesunden Fehlerkultur, in der es erwünscht war, aus ihnen zu lernen. Mr. Y war virtuell überall präsent und dabei nicht greifbar, nicht angreifbar. Wir bekamen ihn nie persönlich zu Gesicht. Eine Bedrohung, mit der wir von nun an leben mussten. In Konferenzen schaltete er sich dazu, wenn immer Panther verhindert war. Plötzlich tauchte während der PC-Arbeit eine Botschaft von ihm auf dem Screen auf oder er schaltete sich auch hier dazu und übernahm die Führung. Mitunter observierte er lautlos. Über Skype hatte er uns und unsere Umgebung jederzeit im Visier. Und er hatte die Gabe, Schwächen der Mitarbeiter unmittelbar herauszufinden. Er fokussierte punktgenau und traf stets ins Schwarze. Die paranoide Atmosphäre zehrte an unseren Kräften.
Blieb da nicht nur die Identifikation mit dem Aggressor als Überlebensstrategie? Hierüber waren die früher so (zu?) harmonischen Teams nun gespalten, was eine ständige Wachsamkeit forderte. Aggression wurde nicht offen ausagiert oder verbalisiert, aber sie schwelte ständig in einer Luft, die wie unsere Nerven zum Zerreißen angespannt waren. Morgens, wenn ich den Computer hochfuhr, plagten mich feine Magenschmerzen, zunächst nur ein Knurren und Grummeln in der Oberbauchmitte, schließlich immer häufiger diese feinen, leisen Nadelstiche. Mein Hirsemüsli mit Rosinen zum Frühstück lockte mich nicht mehr, stattdessen hastig ein paar Schluck Biokoka zur Linderung, nur nichts mehr spüren. Selbst für Toilettengänge musste nun der Abwesenheitsagent eingeschaltet werden. Geschah dies zu häufig, musste beim Frühsport von der Gruppe zur allgemeinen Ertüchtigung zur Gruppe für Beckenbodengymnastik gewechselt werden, bis sich alles wieder normalisierte. Und das war schambesetzt, vor allem wegen der gemischten Gruppen und der Rückschlüsse, die möglicherweise aus der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit abgeleitet werden konnten.
Immer häufiger erwischte ich mich dabei, an Biokoka denken, trank immer häufiger während meiner Arbeit kleine, labende Schlucke davon. Den meisten Mitarbeitern ging es ähnlich. Die freundliche, zierliche Kollegin Katinka stopfte zusätzlich unaufhörlich und wahllos Süßigkeiten in sich hinein, gemeinsam mit dem ehemals lustigen Chirurgen, der das Studium der Zwillinge finanzieren musste. Offenbar hatten sie Frustessen und drohten sichtlich, aus dem Leim zu gehen. Selbst Katinka, die ursprünglich so schmächtig gewesen war.
Die sonst so robuste Gesine brach während einer Sitzung in Tränen aus. Neptun schrie vehement: „Ich bin nicht kontaktgehemmt!“, nachdem sie ihm vorgeworfen hatte, er würde sich zu sehr hinter seinem Screen verschanzen. Er verlor die Beherrschung und richtete eine Schimpftirade gegen Gesine, die zu ihrem Zusammenbruch führte. Zum Glück war Edeltännchen geistesgegenwärtig und diplomatisch genug, Kampfhahn und Henne so rechtzeitig zu trennen, dass größerer Schaden vermieden wurde. In einem Acht-Augen-Gespräch ließ sich alles glätten. Gut, dass Mr. Y offensichtlich mit einer wichtigeren Mission betraut war.
Sonja, die wegen der nicht zu bewältigende Arbeitsmengen notfallmäßig aus ihrer Altersteilzeit zurückgerufen worden war, litt an schwerem Burn-out, musste sie doch zusätzlich ihren dementen Vater zu Hause pflegen. Unglücklicherweise (oder war das ihr Glück?) vertrug sie kein Biokoka, da sie aufgrund ihrer Sensitivität hierauf mit starkem Schwindel und Übelkeit reagierte, sodass Neptun sie teilnahmsvoll fragte: „Soll ich Sie wieder heimfahren?“
Dina, meine freundliche Bürogenossin, und Roswitha, die sommersprossige, rotwangige Nachbarin mit dem Obstgarten, waren zusätzlich zu der harten Arbeit im Konzern familiär stark engagiert mit der Verwöhnung ihrer Großfamilien und litten inzwischen nicht nur an Erschöpfung und Überarbeitung, sondern auch an bohrenden Rückenschmerzen.
Gesines pubertierender Sohn entzog sich zunehmend ihres energischen Einflusses und war diverse Male stoned durch „Biokoka on the rocks“ von der Polizei aufgegriffen worden, um dann zu Hause in den Plastikeimer zu erbrechen, der eigentlich der Reinemachefrau zur Aufwartung dienen sollte. Hierüber verbrachte seine besorgte Mutter verständlicherweise schlaflose Nächte, die sie noch dünnhäutiger gegenüber Panthers cholerischen Ausbrüchen, Neptuns Launenhaftigkeit und Mr. Ys hinterhältigen, virtuellen Attacken vor ihrem Desktop zusammenkauern ließen, wenn sie sich unbeobachtet wähnte.
So hatte jeder sein Päckchen zu tragen. Die Fortschritte des Anthropozäns rasten voran so schnell wie ein Lichtstrahl, doch sie forderten einen hohen Preis.