Читать книгу Eine Schlange in der Dunkelheit - R. B. Landolt - Страница 10

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Lollo

Ein Jubelschrei brach durch die Stille des Vormittags. Serafina stutzte. Sie war auf dem Weg zum Marktplatz, wo sie zusammen mit Ezechiel und Agatha die Nachmittagsvorstellung vorbereiten wollte. Ein kleiner Junge mit einer viel zu großen Strickmütze kam eben aus einer Gasse gerannt, einen Gegenstand an die Brust pressend, der verdächtig nach einer Wurst aussah. Einige Meter hinter ihm hastete ein Mann, fluchend und prustend vor Anstrengung. Fenster wurden geöffnet, irgendjemand schrie: „Haltet den Dieb!“, ein anderer, der eben die Straße hochkam, versuchte, dem Jungen den Weg abzuschneiden, doch dieser setzte mit einem Sprung über das ausgestreckte Bein hinweg und prallte in einen Burschen, der eben um die Ecke trat. Seine beiden Begleiter sprangen rechts und links dazu und versperrten dem Flüchtling den Weg.

Serafina eilte die Gasse hinunter. „He!“, rief sie entrüstet, als ein rothaariger Bursche den kleinen Kerl bei den Haaren packte. „Nicht so grob!“

Die drei Burschen drehten sich um. „Er hat eine Wurst gestohlen!“ Mit diesen Worten griff der Mann, der den Dieb verfolgt hatte, wutentbrannt nach seinem Eigentum, doch der Kleine ließ sich nicht so leicht von seiner Beute abbringen. Mit einem Fauchen beugte er sich vor und biss zu. Der Mann prallte zurück. Auf seiner Hand zeichneten sich die Abdrücke von Zähnen ab.

„Brauchen Sie Hilfe, um mit dem Kleinen fertigzuwerden?“, fragte Serafina, was mutiger klang, als sie sich fühlte.

„Er stiehlt wie eine Elster. Das ist nun das dritte Mal in diesem Monat. Man müsste ihn einsperren.“ Der Mann drohte dem Jungen mit der Faust, der ihm zur Antwort die Zunge herausstreckte. „Das nächste Mal kriegst du Prügel, verstanden?“ Dann ging er rasch die Gasse hinauf, wo er kurz darauf von einer zeternden Frau in Empfang genommen wurde.

Endlich hatte Serafina Gelegenheit, den Jungen genauer anzusehen, und jetzt erst erkannte sie erstaunt, dass er viel älter war, als es seine Größe vorgegaukelt hatte. Sein Gesicht glich einem verschrumpelten Apfel, der zu lange im Keller aufbewahrt worden war. Sein Alter war kaum zu schätzen. Während ihn der Rothaarige immer noch in festem Griff hielt, blickte sie der Kleine unverwandt an.

„Siehst du nicht, dass er nicht ganz richtig ist?“, fragte ein blasser blonder Junge mit einem Verband um die Nase. Es schien sich um den Anführer der Gruppe zu handeln. „Lollo hat einen gewaltigen Dachschaden.“ Er bückte sich und zog den Kleinen an den Ohren. „Nicht wahr, kleiner Lollo, immer tiefe Nacht im Kopf.“

Das Licht in Lollos Augen erlosch, er öffnete den Mund und spuckte den Jungen an. Dieser zuckte zusammen und wollte zu einem Schlag ausholen, doch Serafina fiel ihm in den Arm.

„Das lässt du bleiben“, sagte sie.

„Was mischst du dich ein? Das ist unsere Angelegenheit.“

„Drei gegen einen, was für mutige Kerle ihr doch seid. Lasst ihn los!“

„Lasst ihn los, lasst ihn los!“, höhnte der blasse Junge. „Was meinst du, Rübe, sollen wir ihn laufen lassen? Wir wissen ja, wo wir ihn finden.“

Der Rothaarige nickte enttäuscht. „Na gut! Also hau ab! Wenn wir dich das nächste Mal erwischen, geht’s dir schlecht.“ Lautes Gelächter begleitete den Kleinen, als er wie vom Teufel gehetzt die Gasse hinunterrannte und um die nächste Hausecke verschwand.

„Wer bist du eigentlich? Gehörst du zum Zirkus?“ Serafina gefiel der Blick des blonden Jungen nicht, mit dem er sie anstarrte.

„Ja“, sagte sie. Die beiden anderen Jungen waren nähergetreten. Sie hatten eine gedrungene Gestalt und wirkten ziemlich fies, vor allem der Rothaarige. Der dritte im Bund, ein dicklicher, bleicher Bursche, dessen fettiges schwarzes Haar sich um seine abstehenden Ohren kringelte, starrte sie gierig an. „Sind das deine Leibwächter?“, fragte sie.

„Ich brauche keine Leibwächter“, sagte der Junge schroff. Serafina grinste. Sie hatte wohl einen wunden Punkt getroffen. Zu ihrer Überraschung streckte er die Hand aus. „Ich bin Olin.“

Von Rübe kam ein leichtes Husten, das sich anhörte wie ein unterdrücktes Kichern.

Sie machte keine Anstalten, ihn zu begrüßen.

Olins Wangen röteten sich. „Na gut, dann halt nicht. An deiner Stelle würde mich vorsehen, Zirkusmädchen! Wenn du nicht höflicher bist, könnte euer Gastspiel schnell zu Ende sein. Mein Vater versteht keinen Spaß.“

„Ach, dein Vater?“, höhnte sie. „Und wer ist dein Vater?“

Olin streckte die Schultern. „Er ist der Bürgermeister. Er sagt, wo’s langgeht.“

„Ich krieg gleich eine Gänsehaut.“

Olin legte seine Stirn in Falten, als müsste er überlegen, ob ihn das freche Mädchen auf den Arm nahm, entschied sich aber schließlich, nicht auf ihren Spott einzugehen. „Übrigens, wir suchen jemanden. Vielleicht hast du ihn gesehen.“

„Wen meinst du?“

„Ein Bursche in deinem Alter.“

„Ich weiß nicht, wen du meinst.“

„Er heißt Jaco! Wir suchen ihn. Rübe glaubt, dass er ihn heute Morgen gesehen hat.“

„Rübe?“ Olin zeigte auf den rothaarigen Jungen. „Ich kenne ihn nicht. Wie oft soll ich das noch sagen?“

„Mittelgroß, mager, hässlich, lange Haare. Kleider aus dem letzten Jahrhundert. Sieht aus wie ein Zigeuner. Fällt der Groschen?“

„Und wenn schon“, sagte sie. „Ich bin –“

Eine barsche Stimme unterbrach sie. „Was ist hier los?“

Selbst Serafina, die auf ihren Reisen den unheimlichsten Gestalten begegnet war, konnte sich eines Schauders nicht erwehren. Unter einem bis in die Stirn gezogenen zerbeulten Schlapphut blickte eine raubtierhafte Fratze hervor. Es war ein hagerer Mann, nicht sehr groß, mit funkelnden Augen, die sie von oben bis unten betasteten. Serafina fühlte sich mit einem Mal nackt. Er trat ganz nahe heran. „Wen haben wir denn da, meine Süße?“, fragte er und legte seine Hand auf ihren Arm.

„Lassen Sie mich gefälligst los!“ Sie entwand sich seinem Griff, doch er gab nur ein heiseres Lachen von sich. „Und ich bin nicht Ihre Süße!“

„Willst du mich nicht vorstellen, Olin?“, sagte er, ohne den Blick von ihr zu nehmen.

Olin, der beim Erscheinen des Mannes ängstlich zurückgewichen war, schluckte leer, bevor er antwortete. „Sie gehört zum Zirkus, Matiar.“

Serafina rümpfte die Nase. „Ich möchte nun endlich gehen.“

„Wir haben sie nach Jaco gefragt“, mischte sich Rübe ein.

Serafina wandte sich entschlossen um, doch Matiar stellte sich in den Weg. „Nicht so schnell, mein Täubchen! Vielleicht kannst du uns helfen. Ich könnte mir vorstellen, dass du weißt, wo er ist.“

„Wieso glaubt eigentlich jeder, dass ich diesen … Jaco kenne?“

Matiar gab ein meckerndes Lachen von sich. „Ich war an der Vorstellung und habe deine schmachtenden Blicke gesehen.“

Serafina merkte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. „Sind Sie verrückt geworden? Ich habe nichts dergleichen –“

„Sachte, sachte. Wir möchten ja bloß wissen, wo er steckt.“

„Ich bin hier“, sagte jemand hinter ihr.

„Na, wer sagt’s denn?“, knurrte Matiar.

„Was wollt ihr?“, fragte Jaco.

Matiar lachte hämisch. „Ich wusste, dass du nicht weit sein kannst.“

„Was willst du?“, wiederholte Jaco seine Frage.

Olin trat ganz nahe an ihn heran. Er hatte offensichtlich seinen Mut wiedergefunden. „Du hast meine Nase gebrochen. Dafür wirst du büßen. Mein Vater wird dich ins unterste Verließ stecken. Dann brauchen wir dein blödes Rattenarschgesicht endlich nicht mehr zu sehen.“

„Das würde dir so passen“, entgegnete Jaco und zuckte zurück, als ihm Matiars sehnige Hand verächtlich ins Gesicht schlug. Das Gefühl, das der Schlag auslöste, gefiel ihm überhaupt nicht. Dieses Mal sah es wirklich übel aus.

Serafina hatte mit gerunzelter Stirn danebengestanden. „Jetzt sind es vier gegen einen. Das wird ja immer besser. Ihr seid wirklich mutige Kerle.“

„Bist du immer noch da, Mädchen?“, schnauzte Matiar. „Hau ab, bevor ich dir Benehmen beibringe!“

Serafina wollte ihren Ohren nicht trauen. Wenn sie etwas hasste, dann Einschüchterungen. „Wenn Sie mich anfassen, schreie ich Zeter und Mordio.“

Jaco zog sie zur Seite. „Komm, verdrück dich lieber! Es ist besser, wenn du dich raushältst. Das hier ist mein Problem. Ich kenne die Typen, lass mich nur machen.“

„Ich lasse mich von diesen Schwachköpfen nicht bedrohen“, rief Serafina entrüstet. „Versuchen Sie es doch!“, rief sie Matiar zu, der mit geballten Fäusten vor ihr stand.

„Jetzt habe ich aber genug“, zischte er drohend und stürzte sich auf Serafina, doch er hatte sich verrechnet. Mit einem lauten Schrei haute sie ihm eine Ohrfeige um die Ohren, dass er wie vom Blitz getroffen stehen blieb und ungläubig seine rot angelaufene Wange betastete. Ein paar Sekunden lang war es still, doch Serafina wusste, dass es nun ernst wurde. Während sie noch überlegte, welcher Fluchtweg sich anbot, brach ein verzerrter Laut aus Matiars Kehle, und er warf sich nach vorne. Jaco streckte sein rechtes Bein vor und traf ihn genau in die Kniekehle. Arme und Beine flogen auseinander, und er klatschte mit einem heftigen Schimpfwort auf den Boden.

Auf ein Zeichen Olins griffen die Jungen an. Bevor Jaco wusste, was ihm geschah, wurde er von drei Seiten her angesprungen, und nach einigen Sekunden nutzloser Gegenwehr brach er unter den Schlägen und Tritten zusammen. „Bleib unten, du Arsch!“, keuchte Olin, auf Jacos Brust kniend, die Faust drohend erhoben.

Matiar stand langsam auf, ein helles Lodern in den Augen. „Und nun zu uns beiden, Bübchen.“ Und zu Serafina: „Und um dich werde ich mich nachher kümmern. Mach dich auf was gefasst!“

Jaco duckte sich, wartete auf den Schlag.

Doch er blieb aus.

Mit Ausnahme eines erschreckten Keuchens war es mit einem Mal still geworden. Als er aufsah, zappelte Matiar in der Faust eines Mannes und versuchte vergeblich, sich aus dem mörderischen Griff zu befreien. „Feiglinge!“, brummte Gorgon, die Faust um Matiars Kehle, der mit baumelnden Füssen in der Luft hing und nach Atem rang.

Serafina lachte fröhlich auf, als Shi-Sha hinter Gorgon hervortrat und Jaco auf die Beine half. „Da sind wir wohl genau richtig gekommen.“

Die drei Jungen waren erstarrt. Es dauerte nur einen Moment, bis sie sich von ihrem Schock erholt hatten und auf die Füße sprangen. Shi-Sha stellte sich in den Weg. „Einen kleinen Moment“, sagte er. „Das hier ist Serafina. Sie gehört zu unserem Zirkus. Ihr habt versucht, ihr wehzutun. Macht das nicht noch einmal, sonst bekommt ihr es mit uns zu tun.“ Er griff nach Jacos Arm. „Und dieser Junge hier gilt ab sofort als unser Freund, klar? Und nun haut ab, aber schnell!“

„Du auch“, fauchte Gorgon und schüttelte Matiar durch, bevor er ihn mit einer beiläufigen Bewegung wegwarf. Seine Augen waren dunkel vor Zorn.

„Genau!“, knurrte ihn Shi-Sha an. „Sollten wir noch einmal hören, dass du diesen Jungen auch nur schief ansiehst, werden wir dich finden, klar?“

Eine Schlange in der Dunkelheit

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