Читать книгу Eine Schlange in der Dunkelheit - R. B. Landolt - Страница 6
ОглавлениеDie Frau im Käfig
Auf den ersten Blick sah das Gasthaus nicht sehr einladend aus. Eine finstere Gasse führte vom Marktplatz den Hang hinauf und endete unvermittelt vor der Front eines dunklen Gebäudes. Zwischen zwei vergitterten Fenstern war eine Eichentür eingelassen, auf der in kunstvollen, jedoch kaum noch lesbaren Lettern Zum Wilden Mann eingebrannt war.
An diesem Abend herrschte in der Schankstube ein geschäftiges Kommen und Gehen. Neben dem Holzfeuer, das in der Mitte des Raums loderte, erhellten einige an der Decke hängende Funzeln den langgezogenen Raum. Sämtliche Tische waren besetzt, die Bänke an den Wänden brachen unter der Last der Gäste beinahe zusammen. Junge Burschen eilten zwischen den Tischen hin und her, Gelächter mischte sich mit betrunkenen Rufen, und hin und wieder krachte eine Faust nieder.
Jaco seufzte, bevor er den nächsten Stapel schmutzigen Geschirrs ins Spülwasser tauchte. Er war müde vom stundenlangen Abwasch. „Dir ist wohl langweilig“, grummelte der Mann, der neben ihm stand. Ichabod, der Wirt, kompakt gebaut und in seiner schläfrigen Aufmerksamkeit an eine Spinne erinnernd, schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln, doch es verschwand sofort, als die Tür in den Angeln knarrte und ein frostiger Hauch aus der Dunkelheit hereinwehte. Die beiden Neuankömmlinge schauten in die Runde und traten nach kurzem Zögern an die Theke. Der größere der beiden, ein vierschrötiger Bursche mit kantigem Kinn und krausem schwarzem Haar, setzte seinen Begleiter, der ihm kaum bis an die Hüfte reichte, mit einem Schwung auf einen freien Hocker.
Jaco spürte die forschenden Blicke in seinem Rücken, doch er machte keine Anstalten, sich bemerkbar zu machen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Während die nächsten Teller gurgelnd im heißen Wasser versanken, hörte er leises Tuscheln. „Was lachst du?“, fragte eine misstönende Stimme. Als er sich umdrehte, starrten ihn aus dem zerknitterten Gesicht des Zwerges zwei kieselsteinharte Augen an. „Machst du –“
Eine Lachsalve von einer der hinteren Tischreihen übertönte den Rest seiner Worte. Jaco beugte sich über die Theke. „Wie bitte?“
„Ich fragte, ob du dich über mich lustig machst?“
„Nein, warum sollte ich?“
„Glaubst du, es wäre das erste Mal, dass man über mich lacht? … Ich bin ein Zwerg – oder ein Gnom oder ein Wicht, falls dir das lieber ist –, und ohne die Hilfe meines Freundes hier hätte ich es nicht einmal auf den Hocker geschafft.“ Er schnitt eine Grimasse. „Aber gut, sei’s drum … Wie heißt du, Junge?“
„Warum wollen Sie das wissen? Und ich bin nicht Ihr Junge!“
Der Zwerg stieß ein meckerndes Lachen aus. „Ah, der Junge ist empfindlich ...“
„Sie waren bei der Vorstellung“, schnaubte Jaco. Und nachdem er reichlich Zeit für eine Antwort eingeräumt und außer einem spöttischen Grinsen keine erhalten hatte, sagte er schnippisch: „Sie kennen meinen Namen.“
Der Zwerg zwang sich ein verkniffenes Lächeln um den schiefen Mund. „In Ordnung, nur keine Aufregung! Ich bin übrigens Shi-Sha, und dieser schweigsame Bursche hier ist Bruno, unser Feuerschlucker, aber er schluckt auch andere gefährliche Stoffe. Er spricht nicht, dafür ist er ein wahrer Kenner harter Getränke. Für ihn also einen Schnaps, wenn’s beliebt. Und für mich ein Bier.“ Während Jaco den Bestellungen nachkam, beugte sich der Zwerg vor. „Ich möchte dich was fragen. Es geht um Olga, unsere Hellseherin. Was zum Teufel geschah bei der Vorstellung?“
„Wie soll ich das wissen? Das ist doch alles Mumpitz! Es war doch von Anfang an ein abgekartetes Spiel."
„Oho, da irrst du dich aber gewaltig. Olga braucht keine Tricks."
„Keine Tricks? Der Zauberer wusste doch schon vor dem Auftritt alles über mich."
„Hast du irgendwas zu ihr gesagt, was sie erschreckt hat?“ Die Faust des Zwerges schnappte nach vorn und krallte sich um Jacos Arm. „Komm schon! Ich will wissen, was da los war!“
Jaco riss sich los. „Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie mich gefälligst in Frieden!“
„Was geht hier vor?“ Der Wirt war nähergetreten. „Belästigen dich die beiden Herren?“
„Ist schon gut. Der Herr hat sich geirrt.“
„Keine Dummheiten mehr, klar!“, fauchte Ichabod, bevor er sich wieder ans andere Ende der Theke zurückzog.
„Tut mir leid“, sagte der Zwerg, „wenn’s um Olga geht, bin ich empfindlich … Aber irgendwas muss sie furchtbar aufgeregt haben. Wir machen uns alle Sorgen. Du hast wirklich keine Ahnung, was es gewesen sein könnte?“
Jaco zuckte die Schultern. „Nein. Ich kann Ihnen nicht helfen.“
„Na ja, es ist doch sonderbar, dass sie ausgerechnet bei einer Nummer mit dir ohnmächtig wird.“ Der Feuerschlucker wies mit dem Kinn auf sein leeres Glas. „Die Frage ist also, warum? Kennt sie dich? Bist du ihr früher mal begegnet?“
„Nein! Wie sollte ich? Ich habe euch heute das erste Mal gesehen, und wenn ich könnte, würde ich es gerne ungeschehen machen. Dass es der Hellseherin schlecht geht, tut mir leid, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was geschehen ist.“ Jaco merkte, dass sein Unbehagen wuchs, doch es war mehr als das. Er fühlte sich für dumm verkauft. Für dumm verkauft vor den Zuschauern, vor den Leuten, von denen er die meisten kannte und die sich nun auf ewige Zeit über ihn lustig machen würden. War es seine Schuld, dass die Hellseherin so reagiert hatte?
„Hat sie was zu dir gesagt? Es kam mir vor, als hätte sie was in dein Ohr geflüstert“, fragte der Zwerg. Seine Miene ließ darauf schließen, dass er nicht so schnell aufgeben wollte.
„Tut mir leid, ich habe keine Zeit. Ich muss arbeiten“, sagte Jaco schroff und zog sich in die Küche zurück. Während er Tee schlürfte und seine aufgedunsenen Hände massierte, dachte er über die Vorstellung nach und spürte den Ärger wieder hochspülen. Es gab Zeiten – nicht wenige eigentlich – da wünschte er sich nichts sehnlicher, als weit weg zu sein, irgendwo, wo ihn niemand kannte und seine Herkunft keine Rolle spielte.
Der Wirt trat durch die Tür. „Was wollte der Kerl von dir?“
„Es ist nichts“, sagte Jaco, doch auf Drängen Ichabods erzählte er schließlich, was bei der Vorstellung geschehen war. „Na ja, und jetzt sind die Zirkusleute ziemlich aufgebracht, weil die Hellseherin angeblich krank ist. Und sie geben mir die Schuld.“
Der Wirt grinste mitfühlend. „Ach was, vergiss den Kram, das gehört zu ihrem Geschäft.“
„Die Leute haben mich verspottet! Ich habe mich vor allen zum Idioten gemacht. Hätte ich mich bloß geweigert. Ich bin ja so blöd.“
„Jeder macht sich gelegentlich lächerlich. Ich könnte dir Geschichten erzählen …!“, lachte Ichabod.
„Etwas anderes geht mir nicht aus dem Kopf“, sagte Jaco nach einer Weile nachdenklich. „Wie kann die Hellseherin meine Mutter beschreiben, als ob sie sie gekannt hätte? Findest du das nicht merkwürdig?“
„Deine Mutter? Das ist doch Blödsinn! Sie wird es irgendwie herausgekriegt haben. Oder sie hat einfach geraten.“
„Wie denn? … Ich gleiche meiner Mutter nicht im Geringsten. Und niemand kannte sie, nur du und meine Oma, und die ist tot. Die Beschreibung entsprach ganz dem Bild auf dem Medaillon, das sie mir hinterlassen hat.“
„Vielleicht hat sie es gesehen, was weiß ich. Manchmal merkst du gar nicht, dass es auf deiner Brust hängt.“
„Das Medaillon? Im Sommer vielleicht, aber sicher nicht jetzt. Kann sie vielleicht durch mein Hemd sehen? Außerdem trug ich meine Jacke.“
„Dummes Zeug! Man darf diesen Leuten nicht alles glauben“, sagte Ichabod heiser und wischte mit dem Ärmel über die Stirn.
Jaco atmete erleichtert auf, als er in die Gaststube zurückkehrte und den Platz der beiden Zirkusleute leer fand. Aber eigentlich musste er sich eingestehen, dass er trotz allem gerne gewusst hätte, was der Grund für das Verhalten der Hellseherin gewesen war. War es jeweils tatsächlich nur ein ausgeklügelter Teil der Vorstellung, in jeder beliebigen Stadt wiederholbar? Oder doch nicht? Etwas in seinem Inneren war stutzig geworden, drängte nach Antworten, während ein anderer Teil voller Misstrauen war.
„Wie lange dauert es in dieser Spelunke eigentlich, bis man bedient wird?“
Jaco fuhr verdutzt herum. „Tiburon!“
Der breitschultrige Mann am anderen Ende der Theke grinste von einem Ohr zum anderen. Obwohl bereits an der Schwelle zum Alter, wie er jeweils kokettierend zu sagen pflegte, war sein dunkelblondes Haar nur mit einigen wenigen grauen Strähnen durchsetzt. Er trug es ein bisschen zu lang, und immer wieder zuckten seine Hände an die Schläfen, um widerspenstige Büschel nach hinten zu streichen. Seine Augen waren so voller Leben, dass es schwerfiel, sein wirkliches Alter zu schätzen. „Na, mein Freund, wie geht‘s?“
„Das Haus ist voll, die Teller schmutzig. Viel Arbeit.“
„Du Armer! Du verdienst unser Mitleid. Ein schweres Los! Vielleicht solltest du gelegentlich eine Pause machen“, lachte er. „Oder erlaubt dir es der Wirt nicht?“
Ichabod war nähergetreten und tätschelte seine Schulter. „Tiburon! Lange nicht gesehen! Du scheinst die Gesellschaft anderer Leute zu scheuen.“
„Ha, schau dich selbst an! Ein lebender Kadaver! Dauernd stehst du in deiner Ecke und blinzelst. Man weiß nie so genau, ob du überhaupt noch unter uns weilst.“
Sie lachten dröhnend.
„Ich habe mich eben mit deinem Sklaven unterhalten“, sagte Tiburon grinsend. „Die Arbeit scheint ihn schwer zu belasten.“
„Was?“, rief Jaco. „Sowas habe ich nie behauptet.“
„Was machen deine Erfindungen?“, fragte Ichabod, ohne auf Jacos empörte Worte einzugehen. „Nichts Neues? Dir gehen wohl langsam die Ideen aus? Ich kann mich gut an deine letzte erinnern. War das nicht irgendeine Vorrichtung gegen Blitze? Wie nanntest du das Ding? Blitzableiter? Dein rußgeschwärztes Gesicht wird mir in ewiger Erinnerung bleiben.“
„Lach nur, mein Freund, aber diesmal wirst du dich wundern, wart's nur ab! Aber es ist noch zu früh, darüber zu sprechen ... Und du, zufrieden mit dem Geschäft?“
„Das Geschäft läuft gut, aber die Gäste könnten angenehmer sein ... Apropos Gäste, unser besonderer Freund, der Bürgermeister, ist auch da. Er beobachtet dich schon eine ganze Weile. Also halt dich zurück, ich möchte keinen Ärger!”
Jaco hob bestürzt den Kopf. Tatsächlich. In einer Nische an der hinteren Wand saß eine gedrungene Gestalt und warf ihm böse Blicke zu. Der Tisch war vollbesetzt, grobes Gelächter brandete alle paar Augenblicke auf. Der Bürgermeister! Er hatte ihn nicht kommen sehen. Seine Miene verhieß nichts Gutes. Bestimmt hatte ihn sein Sohn längst über die Schlägerei informiert.
Auch Tiburon schaute sich um. „Tatsächlich, Bürgermeister Grimm!“, knurrte er verächtlich. „Und sein Saubannerzug.“
„Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich den Kerl sehe!“, murmelte Ichabod. „Jedes Mal, wenn er auftaucht, gibt’s Probleme. Am liebsten gäbe ich ihm und seiner Bande Hausverbot, aber was kann man gegen die oberste Behörde tun? Er ist nun mal der Bürgermeister.“
Tiburon hatte Jacos argwöhnische Blicke bemerkt. „Was ist los? Hast du was ausgefressen?“
„Ich hatte eine Schlägerei mit seinem Sohn.“
„Mit Olin? Diesem nichtsnutzigen Bengel? Ich hoffe, du hast es ihm ordentlich gegeben.“
„Ich habe ihm die Nase gebrochen.“
„Tatsächlich?“, lachte Tiburon. „Gut gemacht … Aber sieh dich vor! Der Bürgermeister lässt sich sowas nicht gefallen. Er scheint was im Schilde zu führen.“
„Ich weiß … Heute ist kein guter Tag.“
„Hast du sonst noch was angestellt?“
„Ich … ich war heute Mittag bei der Zirkusvorstellung“, antwortete Jaco nach einigem Zögern. „Und dabei, na ja, dabei ist etwas Komisches passiert. Beim Auftritt der Hellseherin.“
Tiburon blinzelte verwirrt. „Eine Hellseherin? Was redest du da?“
„Ich wurde nach vorne gerufen, und dabei –“
„Ach so, ich verstehe. Du hast dich überreden lassen? … Hat sie dir eine goldene Zukunft versprochen? Reichtum, Gesundheit, ein tolles Weib?“
„Du machst dich lustig über mich.“
„Ich kann dir genau sagen, was sie dir erzählt hat. Ich kenne das.“
„Lass mich doch mal ausreden!“
„Kein tolles Weib? Das ist aber enttäuschend.“
„Idiot!“ Jaco verzog sich wieder an sein Spülbecken.
Tiburon grinste, dann winkte er dem Wirt. „Noch ein Bier!” Er brütete eine Weile vor sich hin und starrte auf den leise knisternden Schaum. Dann blickte er auf. Jaco stand wieder am Spülbecken, die Augen blickten ernst und konzentriert.
Ein schemenhaftes Bild tauchte auf, eine Gestalt, klein und schmal, genauso ernst und konzentriert über ein Heft gebeugt. Gott, wie lange ist das her, dachte Tiburon, eine Ewigkeit, ein halbes Leben? Er lächelte, während sich sein Blick unerwartet in die Vergangenheit richtete.
Ein klarer Tag im Sommer, kochende Hitze steigt aus der Ebene in den Himmel. Tiburon steht auf dem Turm, ein breitkrempiger Hut auf dem Kopf, der ihm etwas Schatten verspricht, ein Fernglas in der Hand. Sein Blick schweift über die Einöde. Keine Bewegung, kaum ein Schatten, eine unerbittliche Welt, erstarrt in Hitze und Stille.
Er setzt das Fernglas ans Auge, sein Blick gleitet, vielfach verstärkt, über die Ebene. Nichts. Plötzlich stutzt er. Weit draußen, von bloßem Auge kaum erkennbar, nimmt er einen dunklen Punkt wahr. Mehrmals setzt er das Glas ab, reibt sich verwundert die Augen und schüttelt den Kopf. Einige Minuten vergehen. Dann rennt er die Stufen hinunter und läuft mit langen Schritten hinaus. Der Punkt entpuppt sich als ein Junge von vielleicht zehn Jahren, der ungeachtet der brütenden Hitze auf einem Stein sitzt, ein Heft auf den Knien. Er lächelt freundlich. Tiburon lächelt zurück.
„Was machst du da?"
„Ich zeichne", antwortet der Junge.
„Du zeichnest? Was denn?"
„Alles, was ich sehe."
„Und was siehst du?"
„Den Himmel, die Ebene, Steine, Gebüsch."
„Was noch?"
„Den Horizont. Farben, rot, gelb, braun, blau, schwarz. Und Wolken."
Tiburon lächelt. Der Junge gefällt ihm. „Ist das alles?"
„Pferde, Kamele, ein Zelt in der Wüste."
„Donnerwetter. Das siehst du alles?"
„Ja, wenn ich will."
„So einfach ist das?”, seufzt Tiburon.
„So einfach", sagt der Junge.
„Unser Freund verlässt die gute Stube“, murmelte Ichabod. „Er hat wohl Amtsgeschäfte, die nach ihm rufen.”
„Amtsgeschäfte? Du machst wohl Witze. Der Kerl hat noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet. Und das alles auf Kosten der Steuerzahler.” Tiburon beobachtete im Spiegel hinter der Theke den Bürgermeister, der sich mit schwerfälligen Schritten näherte.
„Ach, unser Erfinder!“, warf ihm Grimm höhnisch entgegen. „Wie schön, dich zu sehen. Lange nichts mehr gehört von dir! Ich dachte, du bist tot.“
„Hättest du wohl gerne, was? Den Gefallen tue ich dir nicht.“ Tiburon wandte sich um und betrachtete den aufgedunsenen schweren Mann von oben bis unten, als sähe er ihn zum ersten Mal. Unter dem ausgebeulten, speckig glänzenden Anzug quoll ein stattlicher Bauch hervor, der im Verlauf der letzten Jahre stetig stattlicher geworden war. Von der rechten Schulter baumelte anstelle des Arms ein leerer Ärmel, eine Kriegsverletzung, wie er gerne behauptete, doch man munkelte, dass er im Suff unter eine Kutsche geraten war. Sein verkniffener Mund, wenn er ihn denn mal öffnete, zeigte eine Ansammlung schlechter Zähne, seine dichten schwarzen Brauen, meistens missmutig hochgezogen, verliehen ihm einen Ausdruck kaum kontrollierter Streitsucht.
Grimm schmiss eine Handvoll Münzen auf den Tresen. Als Jaco nach dem Geld griff, schoss seine Hand nach vorne. „Habe ich dich, Bürschchen!“ Jaco, überrascht durch den unerwarteten Überfall, versuchte verzweifelt, seinen Arm aus der Umklammerung zu lösen, doch er wand sich vergeblich. Die Leute drehten sich auf ihren Bänken um und starrten neugierig auf die Szene. „Glaubst du im Ernst, dass du meinen Sohn verprügeln darfst, ohne dafür bestraft zu werden?“
„Er ist selber schuld“, schnaubte Jaco. „Sie kamen zu dritt auf mich los, diese Feiglinge!“
„Ach was!“, knurrte der Bürgermeister. „Sowas hat Olin nicht nötig. Kommst du freiwillig mit, oder muss ich Gewalt anwenden?“
„Lassen Sie mich los!“
„Du hast ihm die Nase gebrochen. Dafür wirst du bezahlen, auf Heller und Pfennig.“
Jaco war bleich geworden. „Aber –“
„Moment!“ Tiburon war neben den Bürgermeister getreten. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. „Lass ihn los!“
Grimm fuhr zusammen. „Halt dich raus, Tiburon, das geht dich nichts an! Dieser Bursche hat meinem Sohn die Nase gebrochen!“
„Dann hat endlich jemand das getan, was längst überfällig war“, fauchte Tiburon. Das beifällige Gemurmel in der Gaststube war nicht zu überhören. „Jedermann weiß, dass diese Bande, angeführt von deinem Sohn, noch ganz andere Dinge auf dem Kerbholz hat.“
Der Bürgermeister blickte in die Runde, doch seine Miene wirkte verkrampft. „Unsinn! Das sind bloß harmlose Bubenstreiche.“
„Ach ja? Sollen wir uns mal umhören? Es gibt sicher einige Betroffene, die uns gerne eine Geschichte erzählen. Dein Sohn spielt darin die Hauptrolle.“
Grimm verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich. Zwei Männer stellten sich mit geballten Fäusten neben ihn, doch der Bürgermeister winkte ab. „Nur die Ruhe! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben ...“, lächelte er plötzlich, doch Jaco sah hinter dem verkrampften Grinsen eine Wut, die Grimm nur mit Mühe zurückhalten konnte. „Dann auf ein anderes Mal, Junge! Ich hoffe, du bist dir im Klaren, dass dies noch nicht zu Ende ist. Nicht immer wird ein Schutzengel in der Nähe sein.“ Dann wandte er sich abrupt um und ging mit hocherhobenem Kopf zum Ausgang. Die Tür fiel ins Schloss.
„Das gefällt mir nicht“, sagte Ichabod sorgenvoll.
„Mir auch nicht“, sagte Tiburon. „Das wird er nicht so schnell vergessen.“
„Ich weiß“, sagte Jaco leise.
„Du solltest in nächster Zeit vorsichtig sein … Aber lassen wir uns den Spaß nicht verderben. Vielleicht besuchst du mich wieder mal. Komm doch morgen vorbei, wenn du Zeit hast. Ich muss dir was zeigen.“
„Eine neue Erfindung ...?“, fragte Jaco gedankenverloren, seine immer noch zitternden Hände betrachtend.
„Natürlich. Aber es ist mehr als eine Erfindung, es ist – wie soll ich sagen – etwas, was die Menschheit noch nie gesehen hat. Du würdest es niemals erraten. Du musst es mit eigenen Augen sehen.“
„Komm schon, erzähl was darüber!“
„Ein echtes Wunder.“
„Ein Wunder? Übertreibst du nicht?“ Jaco zeigte nach draußen. „Hast du heute Abend den Sonnenuntergang gesehen? Das ist ein Wunder. Welches Wunder lässt sich damit vergleichen?“
„Fliegen!“, antwortete Tiburon.
Die Wirtshaustür fiel hinter Jaco ins Schloss. Es war kälter und düsterer als die letzten Tage, und gleichsam als Beweis dafür, dass der Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ, schlug ihm ein eisiger Orkan ins Gesicht. Mit einem Frösteln zog er den Mantelkragen hoch und tauchte in das Labyrinth dunkler Gassen ein. Die Nacht war voller Geräusche. Betrunkene lachten, heisere Stimmen grölten ein schmutziges Lied, der Wind trug den Applaus vom Marktplatz herauf. Nach einigen Minuten verklang der Lärm hinter ihm, und schon bald war er von einer tiefen Stille umgeben.
Oberhalb der letzten Häuser, wo ein kaum sichtbarer Trampelpfad abbog, wandte er sich um. Der Marktplatz leuchtete inmitten der Häuser wie ein großes flackerndes Licht in der Dunkelheit. Dort saßen immer noch Leute beieinander, lachten und feierten und waren fröhlich. Bei dieser Vorstellung fühlte er sich mit einem Mal einsam.
Seit dem Tod seiner Oma hatte er sich an das Alleinsein gewöhnt, doch das Haus war kalt geworden. Die Erinnerung an sein altes, behütetes Leben weckte den Schmerz aufs Neue, und obwohl er wusste, dass diese Welt längst nicht mehr existierte, so war sie in seiner Einbildung immer noch lebendig und an vielen Tagen so schmerzhaft, dass ihm die Seele brannte.
Mit einem Seufzer verscheuchte er die Gedanken, strich sich das nachtfeuchte Haar aus der Stirn und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Metern blieb er überrascht stehen. Ein rötliches Licht schimmerte zwischen den Bäumen. Im ersten Moment dachte er, dass ihm seine Augen einen Streich spielten, doch dann, neugierig geworden, stieg er den Abhang entlang, bis er zwischen mannshohen Gebüschen hindurch freie Sicht hatte.
Kaum fünfzig Meter unter ihm lag eine flache Wiese, auf der ein niedriges Feuer brannte und ein flackerndes Licht auf eine im Halbkreis angeordnete Wagenburg warf. „Sieh mal einer an“, flüsterte er. „Das Zirkuslager.“ Eine Weile lauschte er mit gespitzten Ohren, doch alles, was er hörte, war das Gurgeln und Plätschern des Baches und manchmal, ganz leise, das Scharren von Hufen. Er wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als ein Klagelaut durch die Stille brach, hohl und fremdartig, und unwillkürlich dachte er an ein wildes Tier, doch dann wurde ihm klar, dass es auch etwas anderes gewesen sein konnte.
„Allmächtiger“, murmelte er. Nichts regte sich. Der Platz machte einen verlassenen Eindruck. Nur das Feuer knackte, und an einem Fenster glaubte er das Flackern einer Kerze zu sehen, doch vielleicht war es auch nur der Widerschein der Flammen. Er wartete eine Weile, bis er zaghafte Schritte den Abhang hinunter und dann in den Platz hineinwagte. Bei jedem Meter merkte er, wie sein Argwohn größer wurde. Sein Schatten ging ihm voraus, wie ein mutigerer Teil seiner selbst.
Am Ende des Halbkreises glitt er hastig hinter den ersten Wagen und schaute sich um. Aus der Nähe erkannte er, dass die Wände nicht grau waren, wie es das Mondlicht vorgegaukelt hatte, sondern mit bunten Farben bemalt. Über einer Herde fremdartiger Tiere mit geschecktem Fell und spitzen Hörnern hingen eine Mondsichel und gezackte Sterne. Eine Straße verlor sich am Horizont, darauf fuhren Zirkuswagen, gezogen von Pferden mit buschigen Mähnen. Ein Regenbogen überspannte einen Wald und reichte bis hinaus auf ein unermessliches Meer, auf dem, klein wie Nussschalen, Boote trieben.
Erst jetzt fiel ihm auf, wie armselig und schäbig die Wagen waren, von Wind und Wetter verwaschen und gebleicht. Der Geruch von billigem Essen und ungewaschenen Kleidern stieg ihm in die Nase. Die Minuten verstrichen. Er trat zögernd in die Wiese hinaus, da schnitt etwas durch die Luft. Er stolperte, fiel und sah Flügel über sich. Einen Augenblick glaubte er, ein Gespenst zu sehen, das ihn erschrecken wollte, doch die Erscheinung entpuppte sich als eine riesige weiße Eule, die sich auf silbernen Schwingen in die Nacht davonmachte. Ärgerlich schimpfend glitt er auf die Füße und wischte den Schmutz von den Kleidern. In der Zwischenzeit war es kalt geworden, er zog den Mantel enger, warf noch einen letzten Blick zurück ... und erstarrte.
Diesmal wusste er, woher der Schrei gekommen war. Es war ein Wagen, der abseits der anderen stand, kleiner und nicht bemalt, doch es war nicht nur die Abwesenheit der Farben und Zeichnungen, die ihm etwas Trauriges und Trostloses verlieh. Sein Puls schlug hart und schnell, er holte einmal, zweimal tief Luft und huschte mit ein paar Sprüngen näher heran. Der Vorhang vor dem kleinen vergitterten Fenster bauschte sich im Nachtwind. Am Boden kauernd, überlegte er, was er tun sollte. Ein drückendes Gefühl der Angst überfiel ihn. Die Vorstellung, dass sich hinter der Wand ein unheimliches Wesen verbarg, war so schrecklich, dass er kaum noch atmete. In seiner Phantasie versammelten sich die wildesten Kreaturen, nur darauf wartend, dass dumme Jungen wie er den Weg zu ihnen fanden ...
Was tust du hier, du Idiot? hörte er sich in seinen Gedanken sagen, doch dann meldete sich eine andere Stimme. Sei kein Feigling! rief sie ihm zu. Komm schon! Du willst doch wissen, was da drin ist!
Mit einem Bittgebet zum Himmel trat er um die Ecke, stieg zögernd die Treppe hoch und klopfte an die Tür, bis er merkte, dass sie nur angelehnt war und wie von selbst aufging. Das Mondlicht warf einen hellen Pfad ins Wageninnere und ließ etwas Glänzendes aufblitzen.
Ein großer eiserner Käfig.
Erregung überkam ihn. Einen Moment lang verschwamm alles, doch er verhielt sich ganz still, atmete tief ein, atmete nochmals ein, und sein Blick wurde wieder klar, doch der Drang wegzulaufen war überwältigend. „Was zum Teufel mache ich hier?“, flüsterte er sich zu. Dann fischte er mit zitternden Fingern ein Streichholz aus der Tasche und trat hinein. Sein Herz klopfte wild.
Die plötzliche Helligkeit blendete ihn. Den hinteren Teil des Raumes beherrschte, einem Zwinger gleich, der Käfig. Die Gitterstäbe strahlten eine Festigkeit aus, die ganz und gar nicht zu dem zerbrechlich wirkenden Wesen passten, das mit aufgerissenen Augen am Gitter stand.
Es war ein gespenstischer Anblick. Die Frau war klein und zart und reichte ihm kaum bis an die Schultern. Ihre Haut war käseweiß, wie gebleicht, als ob sie lange Zeit keine Sonne gesehen hätte. Sie starrte Jaco unruhig an, doch er hatte nicht den Eindruck, dass sie sich fürchtete. Auf einem Tischchen entdeckte er eine Kerze und zündete sie an. Erneut tauchte das Wageninnere aus dem Dunkel auf. Die Gitterstäbe umschlossen einen kleinen Raum mit einem Bettgestell, auf dem eine Matratze und einige schmutzige Decken und Kissen lagen. „Keine Angst, ich tue Ihnen nichts“, sagte er leise. „Ich habe Sie gehört. Brauchen Sie Hilfe?“
Ihre Augen blieben so leer wie ein blinder Spiegel.
„Haben Sie Hunger?“ Er griff nach dem Blechnapf, der auf dem Tischchen lag. Das Essen roch besser, als er befürchtet hatte. „Oder Durst?“ Keine Reaktion. Mit einem letzten Versuch deutete er mit dem Kerzenhalter auf einen Schal, der an einem Haken an der Wand hing. „Ist Ihnen kalt?“
Sein Gesicht glitt in den Lichtkegel.
Kaum hatte er den Kerzenhalter wieder gesenkt, bemerkte er eine Veränderung an der Frau. Sie schien starr von einem Schrecken, der so groß war, dass sie nicht mehr atmete. Ihr Mund verzog sich zu einem lautlosen Schrei, ihre eingefallene Brust hob und senkte sich.
Dann riss sie die Augen auf und stieß sie einen markerschütternden Schrei aus.
Jaco stolperte vor Schreck rückwärts über Tisch und Schemel und schlug heftig auf dem Boden auf. Im gleichen Augenblick, als er wieder zu atmen wagte, sprang die Frau ans Gitter und begann mit aller Kraft, an den Stäben zu rütteln. Ein Gurgeln ertönte zwischen ihren aufgerissenen Lippen, kaum verständlich am Anfang, doch dann wurde es zu einem Wort, einem Namen, er verstand ihn nicht. Er sprang auf die Beine und stürzte mit einem einzigen Satz zur Tür hinaus und die Treppe hinunter und jagte den Hang hinauf, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.