Читать книгу Eine Schlange in der Dunkelheit - R. B. Landolt - Страница 9
ОглавлениеDer Drachen
„Tiburon, wo bist du?“ Das Echo von Jacos Stimme klang hohl und weit entfernt.
„Komm runter! Ich bin in der Halle“, rief Tiburon.
Er stand auf der Galerie über dem ehemaligen Festsaal, der sich über gut dreißig Meter bis zu einem halbkreisförmigen Fenster ausdehnte. Der Wind wisperte durch die Risse in der Wand, ein frostiger, nach Winter und Tod riechender Hauch, doch Tiburon schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er versuchte sich vorzustellen, wie es früher ausgesehen haben musste, als vor langer Zeit die Festmähler der Adligen stattgefunden hatten, doch angesichts des leeren Raums, in dem es im Winter nach Moder und Feuchtigkeit roch, fiel es ihm schwer. Und doch, hier hatte es einst nach Rauch und Hunden und geröstetem Fleisch gerochen, hier hatten große Tische gestanden, die ganze Länge des Saales einnehmend, lange Bänke warteten auf Gäste, Tafelsilber und Gläser funkelten im Licht der Kronleuchter.
Beim Geräusch des Tors, das ins Schloss geworfen wurde, wandte er sich um und fing Jaco an der Treppe ab. „Nicht so schnell! Es gibt Dinge, denen man mit Respekt gegenübertreten muss. Wie ich gestern schon sagte – was du sehen wirst, verändert die Welt.“
„Mach’s nicht so spannend!“
„Geduld.“ Tiburon legte Jaco den Arm um die Schultern und führte ihn in die Halle.
Jaco stieß einen leisen Pfiff aus. Das hier hatte er tatsächlich nicht erwartet.
In der Mitte des Raumes lag auf einem hölzernen Gestell etwas, das einem riesigen Insekt ähnelte, leblos auf der Seite liegend, mit einem dreieckigen Flügel, der die halbe Länge des Raumes einnahm. Die Strahlen der Sonne, die durch die hohen Fenster fielen, verwandelten das Gewebe, das den Flügel umspannte, zu flüssigem Silber.
„Was soll das sein?“, fragte Jaco, nachdem er einige Male mit gerunzelter Stirn um das Gerät herumgegangen war. Es glänzte und schimmerte im grellen Licht.
„Darf ich vorstellen – der Drachen. Es ist, mein Herr, ein Fluggerät, eigentlich ein Gleiter, mit dem ich – gute Wetter- und Thermikverhältnisse vorausgesetzt – morgen meinen ersten Flugversuch durchführen werde.“ Tiburon ballte im Triumph die Faust. Er sog tief die Luft ein und hoffte, dass die gefährliche und beunruhigende Spannung, die ihn jedes Mal beim Anblick des Gleiters erfüllte, verflachte und verschwand. Als er das erste Mal, ganz unerwartet und am Anfang erschreckend wie beim Aushecken einer bösen Tat, auf die Idee vom Fliegen stieß, hatte er gelacht. Eine Weile schob er alles, was sich mit der verrückten Idee befasste, beiseite, doch sie kam zurück, mit boshafter Regelmäßigkeit, und begann seine Träume zu erobern, nistete sich in seinem Unterbewusstsein ein, bis er eines Tages den Widerstand aufgab und sich an die ersten Skizzen machte.
„Fliegen? Mit diesem Ding?“
„Klar!“ Tiburon deutete auf das Segel. „Ich habe alles genau berechnet. Es braucht eine Spannweite von über zehn Metern, dann müsste es gehen. Sieh hier, der Stoff ist federleicht, aber gleichzeitig stabil und reißfest.“
„Und was ist das hier?“, fragte Jaco und zeigte auf den dreieckigen Rahmen unter dem Segel.
„Das Traggestell. Und die Tragriemen, an denen ich mich festschnalle.“
Jaco griff sich vielsagend an die Stirn. „Mein Gott, du meinst es wirklich ernst. Mit diesem … Ding willst du fliegen?“
„Aber natürlich“, sagte Tiburon, unbeeindruckt von Jacos Einwänden. „Also, pass auf, ich versuche, das Prinzip zu erklären ... Es ist im Grunde ganz einfach. Warum kann ein Vogel fliegen und wir nicht?“ Er fuhr fort, ohne die Antwort abzuwarten. „Die Flügel sind das Geheimnis.“
„Er ist endgültig übergeschnappt“, murmelte Jaco, mehr zu sich selbst als zu Tiburon.
„Weißt du was? … Eigentlich warst du der Auslöser.“
„Ich?“
„Nicht du, aber dein Adler. Er hat mich auf die Idee gebracht.“
„Tonto?“
„Na ja, es ist eine Weile her, seit ich über das Prinzip des Fliegens nachdenke, aber dann kam mir endlich die entscheidende Idee. Es geht um den Auftrieb ...“ Er hüstelte. „Es gab mal einen gescheiten Kerl namens Archimedes, ein Grieche, schon lange tot. Hast du von ihm gehört? … Nein? Macht nichts. Er fand das Prinzip des Auftriebs heraus, und das bedeutet, dass es … na ja, wie soll ich das erklären …, dass es eine Kraft gibt, die auf einen von Luft umströmten Körper einwirkt, und zwar senkrecht, der Schwerkraft entgegen, verstehst du?“
„Nein.“
„Egal“, sagte Tiburon fröhlich. „Ich kann‘s nicht genauer erklären. Wenn sich ein Vogel mit einer gewissen Geschwindigkeit bewegt, erzeugen seine Flügel einen Auftrieb, und genau dieser Auftrieb hält ihn in der Luft. Das heißt, solange er sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt, fliegt er, wenn nicht, stürzt er ab. Das ist alles.“
„Das klingt ziemlich einfach.“
„Und das wird auch mich in der Luft halten. Wenn es mir gelingt, eine bestimmte Geschwindigkeit zu erreichen, werden mich die Flügel, das heißt der Auftrieb, tragen. Ich kann gar nicht abstürzen.“
„Eine bestimmte Geschwindigkeit? Wie willst du das anstellen? Du müsstest rennen wie der Teufel.“
„Jetzt hast du’s verstanden. Dafür brauche ich den perfekten Ort für den Start, und den habe ich gefunden ... Keine Sorge, es wird alles gut gehen.“
Jaco blickte ihn böse an, die Arme vor der Brust verschränkt. „Du bist nicht bei Trost. Du wirst dir alle Knochen brechen.“
„Das werde ich nicht“, sagte Tiburon bestimmt.
„Und wie steuerst du?“
„Mit der Verlagerung des Gewichts, das sollte keine große Sache sein.“
„Wie kommst du wieder runter?“
„Indem ich die Geschwindigkeit reduziere. Sie nimmt langsam ab, ich werde nach unten getragen und lande weich wie auf einem Daunenkissen ...“
Jaco rollte mit den Augen und wandte sich dem Ding zu, das von der Decke hing, einem Vogel ähnlich, sich graziös um seine eigene Achse drehend. „Und was ist das dort?“
Tiburon grinste stolz. „Das ist ein Modell. Es hat zwei Flügel, wie du siehst, und einen Rumpf.“
„Ein Spielzeug?“
„Ein Modell“, wiederholte Tiburon würdevoll. Er strich mit den Fingerkuppen über die schwarzbemalte Bauchseite, drückte sie nach allen Seiten, um das Gewicht zu prüfen. „Sieh mal, leicht wie eine Feder ... Ich hoffe, dass die Flügel genügend Auftrieb erzeugen, um es in der Luft zu halten.“
„Hast du es ausprobiert? Wenn es so leicht ist, wie du behauptest, dann macht der Wind damit, was er will. Er zerschmettert das Ding an der nächsten Mauer, bevor du Oh verflixt! sagen kannst.“
„Du sprichst einen wichtigen Punkt an, über den ich mir noch nicht im Klaren bin. Wahrscheinlich braucht es irgendeinen Antrieb ...“ Mit einer gequälten Handbewegung fuhr er sich durch die Haare. „Was meinst du, sollen wir es ausprobieren? … Ja? … Gehen wir auf den Turm und schauen wir, wie das Wetter ist, und lassen das Ding fliegen, einverstanden?“
„Tiburon, eigentlich wollte ich dir was erzählen, aber –“
„Wirst du fliegen, meine Kleine? Oder wirst du mich enttäuschen?“, sagte Tiburon zärtlich und glitt mit seinem Finger liebkosend über die sanften Rundungen des Flugmodells.
Während er den Schal fröstelnd enger zog, blickte Jaco in die Tiefe. Sie waren die steilen Treppen hinauf bis zuoberst auf den einzigen verbliebenen Turm gestiegen, der in majestätischer Pracht über der Burg oder das, was von ihr übriggeblieben war, thronte. Riesige Blöcke des schwarzen Mauerwerks, jeder so groß wie ein Hühnerstall, lagen über den Boden zerstreut, halb versunken in der weichen, sumpfigen Erde. Nichts war geblieben von den Wänden und Dachvorsprüngen, unter denen die Hofleute Schutz gesucht hatten, und von den vier Türmen, die das Hauptgebäude umgeben hatten, stand nur noch einer, und auch dieser hatte seine Krone verloren.
„Nicht zuviel Wind?“, rief Jaco. Eiskalte Böen rissen und zerrten an seinem Mantel. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. „Warum versuchen wir’s nicht ein anderes Mal?“ Tiburon antwortete nicht. Er stand an der kniehohen Mauer. Immer wieder hielt er prüfend die Hand in die Luft. Jaco beugte sich überrascht vor, als er die Gestalt erblickte, die sich mit kleinen, trippelnden Schritten der Burg näherte. „Tiburon, wir kriegen Besuch.“
„Was?“
„Es ist der Pfarrer“, antwortete Jaco. Er stellte sich ganz außen an der Brüstung hin und hielt die Hände um den Mund. „Herr Pfarrer!“, schrie er, „wir sind hier oben.“ Der Geistliche schaute sich verwirrt um. „Herr Pfarrer“, rief Jaco noch einmal, und diesmal hatte er Erfolg. Der Pfarrer hob den Arm und deutete an, dass er hochkomme.
Es dauerte allerdings eine knappe Viertelstunde, bis die schwarzgekleidete Gestalt, heftig keuchend und hustend, auf dem Turm ankam, das Gesicht verloren im Schatten der viel zu großen Kapuze. „Mein Gott! Tiburon, Jaco“, krächzte er, nachdem er heftig schnaufend Atem geholt hatte, „lange nicht gesehen.“
„Ei, der Herr Pfarrer!“, sagte Tiburon zur Begrüßung. „Das ist mal eine angenehme Überraschung. Ich hoffe, die Treppe war nicht zu steil für Sie. Das ist nichts für ehrwürdige alte Männer!“ Den letzten Satz sagte er mit boshaftem Unterton.
Der Pfarrer war klein und zart, von gebeugter Gestalt und mit einem leichten Hinken, das er sich bei einem Sturz von der Kanzel zugezogen hatte. Niemand wusste, wie alt er war, doch er war wahrscheinlich jünger, als seine verrunzelte Haut verriet. Nachdem er sich mit einem leisen Seufzer auf der Mauer bequem gemacht hatte, richtete er seine pfiffigen Augen auf Tiburon.
„Findest du, dass ich langsam alt werde?“
„Wenn ich Sie so ansehe, dann … ja!“, lachte Tiburon.
„Es geht nichts über eine tüchtige Brise frischer Luft. Und Bewegung tut den alten Knochen gut“, sagte der Pfarrer mit wohlwollendem Schmunzeln. „Aber ich machte mir Sorgen, ich befürchtete bereits, dass dich deine schmähliche Niederlage bei unserem letzten Spiel so mitgenommen hat, dass du dem Schach abgeschworen hast.“
„Meine Niederlage?“, schnaubte Tiburon entrüstet. „Sie haben mich mit einem faulen Trick hereingelegt! Das hätte ich einem Geistlichen, der die Moral hochhalten sollte, nicht zugetraut … Das nächste Mal werde ich Ihnen den Talar über den Kopf ziehen. Noch einmal werden Sie mich nicht auf diese hinterhältige Art besiegen, das sage ich Ihnen im Guten, mein Lieber.“
„Na na, Tiburon, akzeptiere es wie ein Mann!“, kicherte der Geistliche. „Aber lassen wir das, ich dachte, ich muss wieder mal nach meinen Schäfchen sehen. Wie steht's denn, was machen deine Erfindungen?“
„Das werden wir gleich wissen“, erklärte Tiburon. „Sie kommen gerade richtig.“ Der Wind war in den letzten Minuten abgeflaut, eine unerwartete Stille breitete sich aus. „Jetzt oder nie. Passt auf!“ Er stemmte die Füße in den Boden, wartete, bis der Moment kam, dann streckte er die Hand aus. „Und nun flieg, mein zarter Liebling, flieg hinauf zu den Wolken!“ Er hielt das Modell in der ausgestreckten Hand, zögerte eine Sekunde, zwei, drei, dann, mit einem waagrechten kräftigen Stoß, schob er es in den Abgrund.
Es flog.
Schwerelos wie eine Daunenfeder glitt es einige Meter vom Turm weg, senkte die Nase und drehte in eine leichte Rechtskurve. Es schien, als hätten die Elemente Mitleid mit dem zerbrechlichen Spielzeug, es entfloh immer schneller ihren Blicken, wurde weit draußen zu einem schwarzweißen, kaum noch sichtbaren Flecken am Himmel, bis es, angestoßen durch den wieder aufkommenden Wind, eine weite Kurve nahm und sich in geschmeidigem Schwung wieder näherte.
Tiburon stöhnte, als es an Höhe verlor, wie ein Stein durchsackte und sich in letzter Sekunde in einen gebremsten Gleitflug zu retten vermochte. „Weiter so!“ Er fuchtelte wie wild mit den Armen. „Und noch eine Kurve, jetzt nach –“ Er brach ab und musste fassungslos zusehen, wie sein Spielzeug von einem heftigen Windstoß erfasst wurde. Durchgeschüttelt, doch unbeeindruckt vom Angriff aus dem Hinterhalt, versuchte es, der kräftigen Bö mit einem Dreher zur Seite auszuweichen, doch dann, bereits todgeweiht, trudelte es in verzweifelten Kehren, wirbelnd und sich überschlagend, in die Tiefe und schlug mit einem Knirschen in einen Felsblock am Fuß des Turmes. Das Holz splitterte nach allen Seiten, weiße und schwarze Teile über den Boden zerstreuend …
„Wieso hat es nicht geklappt?“, fragte Jaco. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er es wagte, die Grabesstille zu brechen. Er saß an der Werkbank, einem langen Tisch, vollgestellt mit Flaschen und Büchsen, aus denen abstoßende Gerüche drangen, übersät mit Drähten, Schnüren, Nägeln, Schrauben und Resten von Farben, die entweder zu Stein erstarrt oder in Rinnsalen auf den Tisch getropft waren. Der Pfarrer hatte sich auf den einzigen Sessel gesetzt, während Tiburon am Fenster stand, immer noch sichtlich unter den Nachwirkungen des Misserfolgs leidend.
„Ich werde fliegen, Jaco“, murmelte Tiburon, ohne auf die Frage einzugehen. Er hielt das Fernglas auf die Ausläufer der Berge gerichtet. „Nichts und niemand kann mich davon abhalten. Es war nur elendes Pech!“
„Pech!“, grunzte Jaco. „War der Wind zu stark?“
„Könnte sein.“ Nach einem langen Schweigen sagte Tiburon offen: „Ich bin ein bisschen dumm gewesen. Wie konnte ich bloß annehmen, dass das Gerät ohne Antrieb fliegt ... Aber ich habe so einige Ideen. Allerdings braucht das seine Zeit.“
Er versank wieder in seinem düsteren Schweigen.
Der Pfarrer räusperte sich. „In einer meiner letzten Predigten habe ich den Nutzen von Niederlagen zu erklären versucht. Natürlich haben die wenigsten den Sinn verstanden, aber ihr seid ja helle Köpfe … Auch Niederlagen sollten gefeiert werden …“
„Ich weiß, was Sie meinen“, sagte Tiburon. „Ich glaube, in der Küche müsste noch eine angebrochene Flasche Rotwein herumstehen. Oder ist es zu früh am Tag, Hochwürden? Ich könnte Ihnen auch eine Tasse Tee anbieten?“
Die Entrüstung des Pfarrers war nicht gespielt. „Tiburon, verdirb mir nicht die Laune! Es hat so schön angefangen. Ich trinke Tee, wenn ich krank bin. Sehe ich krank aus?“
„Eigentlich nicht“, feixte Tiburon. „Ich würde sogar sagen, Ihre rosige Gesichtshaut beweist einmal mehr, dass nichts über eine gesunde Lebensweise geht.“
„Du willst dich wohl lustig machen über mich? Apropos gesunde Lebensweise, hast du immer noch von jenen Zigarren, du weißt schon?“
Nachdem er es sich in einem Sessel gemütlich gemacht hatte, paffte der Pfarrer genüsslich vor sich hin. „Ah, diese Zigarren sind unbeschreiblich. Der Teufel persönlich hat sie hergestellt. Um arme alte Geistliche vom rechten Weg abzubringen.“
Tiburon prostete dem Pfarrer zu. Während die beiden älteren Herren einen Schluck nahmen und wohlwollend nickten, betrachtete Jaco den Gleiter mit argwöhnischen Blicken. „Und wenn es dir gleich ergeht wie dem Modell? Du wirst dir den Hals brechen!“
„Ach was, das wird klappen. Ich habe ja nicht vor, weit zu fliegen. Ein paar Meter, mehr nicht. Schauen, ob es funktioniert. Vielleicht hole ich mir Schrammen und blaue Flecken beim Landen. Alles wird gut.“
„Es ist gefährlich“, beharrte Jaco.
„Weniger gefährlich als auf einem wilden Pferd zu reiten“, entgegnete Tiburon.
„Du bist ein Träumer, Tiburon!“, mahnte der Pfarrer.
„Träumer verändern die Welt … Sehen Sie es doch so. Wenn der Mensch nicht dauernd versuchte, die Grenzen zu erweitern, Neues zu suchen, etwas zu probieren, was vor ihm noch nie jemand getan hat, würden wir heute noch auf allen Vieren kriechen …“
„Fliegen gehört nicht zu unseren gottgegebenen Fähigkeiten. Wir haben alle unseren Platz zugewiesen bekommen. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir fliegen können, hätte er uns Flügel gegeben ...“
„Warum willst du überhaupt fliegen?“, fragte Jaco, der sich nicht so schnell beruhigen ließ. „Du könntest ja auch was anderes erfinden.“
„Aber klar! Ich könnte, aber ich will nicht. Ich, Tiburon, werde der erste Mensch sein, der wie ein Vogel durch die Luft fliegt.“ Er faltete die Hände über dem Bauch und sagte mild: „Ihr werdet noch einmal an mich denken, wenn die ganze Welt von mir spricht.“
Der Pfarrer schüttelte entmutigt den Kopf und wandte sich Jaco zu. „Eigentlich bin ich deinetwegen gekommen.“
„Meinetwegen?“
„Ich wollte dich warnen, denn du wirst offenbar gesucht. Es soll eine Auseinandersetzung mit Grimms Sohn gegeben haben, und nun sind die Mitarbeiter des verehrten Bürgermeisters hinter dir her.“
„Die Mitarbeiter?“, rief Tiburon entrüstet, „Sie meinen diese halbschlauen Hinterwäldler?“
„Genau. Der Bürgermeister vergisst niemals eine Demütigung. Also schickt er seine Vasallen aus. Die Männer fürs Grobe.“ Der Pfarrer schnippte die Asche von seiner Zigarre. „Du solltest dich vorsehen, Jaco. Ich habe mich beeilt, denn auf dem Weg ist mir Matiar über den Weg gelaufen. Seine Miene verheißt nichts Gutes.“
„Du kennst ihn“, knurrte Tiburon. „Er hasst dich. Dass du gesucht wirst, bedeutet ein Fest für ihn. Du hast keine Chance. Also, was willst du nun tun?“
Betretenes Schweigen.
„Ich habe keine Angst vor ihm. Und überhaupt, in ein paar Tagen ist die ganze Sache vergessen.“ Jaco gab sich alle Mühe, die Sache als Bagatelle abzutun, doch sein zuversichtlicher Tonfall klang nicht überzeugend.
„Wenn ich nicht gewesen wäre“, entgegnete Tiburon, „wäre es dir schon gestern schlecht ergangen. Grimm wartet bloß auf eine Gelegenheit, um dir zu zeigen, wo der Hammer hängt.“
„Was kann ich tun?“, fragte Jaco verbittert. „Soll ich mich entschuldigen? Niemals! Lieber lasse ich mich einsperren!“
Auf der Schwelle drehte sich der Pfarrer nochmals um. „Da fällt mir ein, eine Fremde soll sich in der Stadt herumtreiben, eine sehr … ungewöhnliche Frau. Niemand kennt sie. Und in einem Bauernhaus wurde Brot und Fleisch gestohlen.“
„Sie meinen eine Frau in einem zu großen Mantel?“, fragte Jaco.
„Du kennst sie?“ Tiburon wandte sich mit gerunzelter Stirn um.
„Sie gehört zum Zirkus. Seit heute früh wird sie vermisst.“
„Woher weißt du das?“
„Die Zirkusleute sind auf der Suche nach ihr.“
„Und warum weißt du, wie sie aussieht?“
„Ich wollte es dir erzählen, Tiburon, aber … Gestern Abend, auf dem Heimweg, hörte ich in der Nähe des Zirkuslagers einen Laut. Ich dachte zuerst an ein Kind oder ein eingesperrtes Tier. Ich wollte eigentlich weitergehen, schließlich geht es mich ja nichts an, aber irgendwie …“
„Neugier!“, lachte Tiburon. „Du warst schon immer ein vorwitziger Vogel. Das wird dir noch einmal leidtun.“
Jaco atmete tief durch und erzählte.
„Man kann diesen Bengel keine Minute allein lassen, ohne dass er was Dummes anstellt. Vielleicht hast du sie erschreckt. Manchmal siehst du ein bisschen sonderbar aus.“
„Vielleicht war es der plötzliche Lichtschein“, warf der Pfarrer nachdenklich ein.
„Aber sie hat erst zu schreien begonnen, nachdem sie mein Gesicht sah ... Lach nicht so blöd, Tiburon, ich möchte dich sehen, wenn jemand bei deinem Anblick zu schreien anfängt.“
„Das möchte ich wieder mal erleben!“, rief Tiburon. „Dass eine Frau bei meinem Anblick den Verstand verliert.“
„Und diese Frau verschwand letzte Nacht aus ihrem Wagen. Ein paar Stunden, nachdem sie mich gesehen hatte.“
„Wahrscheinlich hat sie dich verwechselt“, sagte der Pfarrer. „Das kommt vor. Mach dir keine Gedanken!“
„Aber das Beste kommt noch“, sagte Jaco. „Sie lief mir heute Morgen über den Weg. Bevor sie wegrannte, rief sie mir ein Wort entgegen, einen Namen, mit dem ich nichts anfangen kann.“
„Welcher Name?“
„Carlucci. Oder so ähnlich.“
„Carlucci?“ Tiburon wandte sich an den Pfarrer. „Kennen Sie jemanden, der so heißt?“
„N…nein“, sagte der Pfarrer nach langem Überlegen. „Allerdings … mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste. Es scheint mir, dass ich den Namen irgendwo mal gesehen oder gehört habe.“
„Sonst noch was?“, fragte Tiburon.
„Ich weiß nicht recht, ob es wichtig ist …“
„Herrgott, sag schon …!“
„Na ja, als sie den Namen Carlucci sagte, zeigte sie auf mich. Und dabei machte sie den Eindruck, als sähe sie einen Geist vor sich.“