Читать книгу Eine Schlange in der Dunkelheit - R. B. Landolt - Страница 5

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Die Hellseherin

Serafina spürte eine ungewohnte Nervosität. Normalerweise blieb sie unberührt durch die Hektik hinter dem Vorhang und wartete gelassen auf ihren Auftritt. Doch an diesem Tag konnte sie nicht einmal ihr Papagei Napoleon besänftigen, der, auf ihrem Arm sitzend, das Gefieder plusterte und zärtlich an ihrem Ohr knabberte.

„Meine Dame, Sie sehen wieder mal großartig aus.“ Der Zwerg legte Trommel und Trompete weg und setzte sich auf eine Kiste.

„Warum klingt das immer so überrascht, Shi-Sha?“, fragte Serafina kühl, lächelte aber. Sie war in ein Kleid aus mattem weißem Stoff gekleidet, eine rosafarbene Schleife in das lange, feucht glänzende Haar gewunden.

„Du bist doch der einzige Lichtblick unter uns. Und wenn ich sagen darf, ein außerordentlich erfreulicher Lichtblick. Wäre ich ein paar Köpfe größer und zehn Jahre jünger, dann ...“

„… wärst du immer noch zehn Jahre zu alt“, beschied ihm Serafina, stupste ihn aber liebevoll in die Seite. „Was wäre dann? Würdest du um mich kämpfen?“

Er sprang auf den Boden und deutete eine Verbeugung an. „Aber sicher, mein huldvolles Fräulein, mit Pferd und Rüstung und Schwert! Und ich würde kämpfen um Sie, bis zum Tod, in Tapferkeit und Ruhm.“ Er wehrte mit einem imaginären Schwert einen ebenso imaginären Gegner ab, teilte kräftige Hiebe aus, duckte sich elegant und schlug schnelle Fußtritte gegen unsichtbare Schienbeine. „Ich bin stark, ich bin unschlagbar, ich bin der Größte! Soll jemand wagen, Sie zu bedrohen, ich haue ihn in Stücke!“

Sie lachten beide so sehr, dass keiner von ihnen die Frau bemerkte, die sich unbemerkt genähert hatte, eine Matrone mit ausladenden Hüften und derbem Gesicht. Ihre Haare, für Eingeweihte leicht erkennbar als kunstvoll geflochtene Perücke, glichen einem geschmückten Vogelnest. „Oh, da haben wir wohl ein neues Liebespaar“, gluckste sie. Serafina merkte, wie ihre Ohren rot wurden, und bedachte die Frau mit einem wütenden Blick.

„Verehrte Dame Agatha, seien Sie willkommen in unserem trauten Kreis.“ Shi-Sha machte einen formvollendeten Knicks, doch die Matrone, von den Galanterien des Zwerges wenig beeindruckt, winkte ab.

„Nun halt mal die Luft an, du Heuchler!“

Heuchler! echote der Papagei.

„Höchste Zeit, dass du dich bereitmachst, statt dumme Faxen zu machen.“

„Warum?“, sagte Serafina. „Stimmt was nicht?“

„Mir gefällt Olga heute nicht“, brummte Agatha. „Und ehrlich gesagt, ich habe diese Nummer noch nie gemocht.“

„Wie meinst du das?“, fragte Serafina, und auch Shi-Sha meldete sich mit einem interessierten Grunzen.

„Man weiß nie, was geschehen wird.“

Serafina musste zugeben, dass Agatha mit ihren Befürchtungen nicht ganz unrecht hatte. Während alles seinen gewohnten Gang lief und wochenlang nichts geschah, das Publikum über die unerhörten Fähigkeiten der kleinen Frau staunte, nahmen manchmal andere Mächte das Zepter in die Hand, so wie vor einigen Monaten, als ein betrunkener Zuschauer unbedingt den Zeitpunkt seines Todes erfahren wollte. Olga hatte sich, wie in solchen Fällen üblich, lange gesträubt, doch da er darauf bestand, hatte sie ihm schließlich die Antwort gegeben. Serafina glaubte heute noch, ihre leisen Worte zu hören: „Nächsten Monat, mein Herr, werden Sie sterben“. Einige Wochen danach hatten sie zufällig von einem Reisenden erfahren, dass der Zuschauer sich beim Sturz vom Pferd den Hals gebrochen hatte.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, brummte Shi-Sha. „Es scheint alles in Ordnung zu sein. Du bist ein Angsthase.“

Angsthase!

„Hör auf meine Worte!“, brummte Agatha, „ich spüre es in meinen Eingeweiden. Heute ist kein guter Tag.“

„In deinen Eingeweiden?“, fragte Shi-Sha und zwinkerte Serafina zu.

„Blödian!“, zischte Agatha.

Blödian!

„Kennt das Biest eigentlich nur Schimpfworte?“ Sie musterte den Vogel mit bösen Blicken. „Irgendwann drehe ich dir den Hals um. Und dann landest du in der Suppe, du Mistvieh!“

Mistvieh!

Serafina wandte sich wieder der Aufführung zu. Caligaris Nummer strebte eben ihrem Höhepunkt zu. „Sie sehen, meine Damen und Herren, für Madame Olga existieren keine zeitlichen oder örtlichen Grenzen. Alles ist eins. Dinge, die waren, Dinge, die sind, Dinge, die sein werden!“ Er hielt den rechten Arm in dramatischer Pose zum Himmel gereckt.

Serafina hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt der schlanken Gestalt, die mit verschränkten Armen in der vordersten Reihe stand und immer wieder nervös über die Schulter blickte. Er sah besser aus, als sie zuerst gedacht hatte. Seine Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen, umrahmten ein junges, ebenmäßiges Gesicht, die Augen, in denen eine sonderbare Mischung aus Sanftheit und Kraft lag, strahlten etwas aus, das ihn älter wirken ließ. Sie vermutete, dass er in ihrem Alter war, vielleicht ein bisschen älter, aber nicht mehr als sechzehn, siebzehn Jahre.

Der Zauberer fuhr fort. „Nun, meine Damen und Herren, die Vergangenheit ist eine Sache, die Gegenwart ebenso, aber möchten wir nicht alle wissen, was morgen ist, was uns die Zukunft bringt? Belohnt sie uns mit einem Vermögen, mit Gesundheit und nicht zu vergessen … mit der großen Liebe, nach der wir uns alle sehnen?“ Das Lachen im Publikum wurde lauter. „Wer, meine Damen und Herren, möchte sich zur Verfügung stellen? Wessen zukünftiges Schicksal sollen wir gemeinsam aufdecken?“

Die Leute warfen sich unruhige Blicke zu, doch niemand meldete sich. „Jaja, das kennen wir“, sagte Caligari. „Wir möchten zwar alles wissen über die Zukunft, aber nicht, wenn es jeder hören kann ... Vielleicht sollten wir die Sache anders angehen. Ich schlage vor, dass wir einen Zuschauer nehmen, der das Leben noch vor sich hat. Wenig Vergangenheit und viel Zukunft sozusagen“, witzelte er. „Sag mal“, sein ausgestreckter Arm wies nach vorne, „hättest du vielleicht Lust, ja?“

Serafina grinste, als sie Jacos erschrecktes Kopfschütteln sah.

„Na los!“, riefen ein die Zuschauer, die hinter ihm standen, und stießen ihn in den Rücken. „Vorwärts!“

Lautes rhythmisches Klatschen begleitete ihn, als er sich schließlich mit hochrotem Kopf neben Caligari stellte. Der Zauberer begrüßte ihn und flüsterte ihm ins Ohr. Dann klatschte er in die Hände. „Fangen wir also an. Zunächst sollten wir natürlich festhalten, dass wir uns vor dem heutigen Tag noch nie gesehen haben. Das ist doch so, nicht wahr?“

Jaco nickte langsam. Noch immer saß Glut in seinen Wangen. Serafina grinste schadenfreudig. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er sich fühlte. Von tausend Augenpaaren angestarrt zu werden, zerrte gewaltig an den Nerven. Wahrscheinlich wünschte er sich, weit weg zu sein.

„Wieso lachst du?“, fragte der Zwerg. „Kennst du ihn?“

„Wir sind uns über den Weg gelaufen.“

„Gut, dann möchten wir wissen, mit wem wir es zu tun haben“, sagte Caligari. „Olga, wie ist sein Name?“

„Er heißt ... Jaco“, sagte Olga.

„Und wo wohnt er?“

„Er lebt in einem ... alten Haus.“

„Sehr gut, und wie alt ist er?“

„Fünfzehn … nein, sechzehn.“

„Mein Gott, diese Bauerntrampel!“, brummte Agatha, die sich neben Serafina gedrängt hatte.

„Wie meinst du das?“

„Warum sucht er sich nicht jemanden aus, der mehr zu bieten hat? Der steckt doch noch fast in den Windeln. Ein richtiger Mann wäre viel interessanter, meinst du nicht?“

„Sei still!“

„Was ist los?“, flüsterte Shi-Sha. „Lass mich durch!“ Er zwängte sich an Agathas massiven Hüften vorbei, bis er freie Sicht hatte.

Caligari schaute abwesend in die Ferne, während er seine Fragen stellte. „Wo arbeitet er?“

„Ich sehe einen großen Raum mit vielen Leuten. Es ist heiß und rauchig. Ein ... Wirtshaus. Er arbeitet in einem Wirtshaus.“

„Gut, dann versuchen wir etwas anderes. Olga, was weißt du über seine Eltern?“

Die Hellseherin zögerte, als würde ihr die Antwort schwerfallen. „Ich weiß nicht … ich … ich ... Doch, jetzt sehe ich seine Mutter. Eine schöne Frau, mit schwarz glänzendem Haar ... helle Haut, ein Grübchen am Kinn …“

Jaco blinzelte. „Aber … das kann nicht sein, meine Mutter ist tot, sie …“

„Das tut mir leid“, sagte Caligari schnell. „Wenden wir uns doch lieber erfreulicheren Dingen zu ... Olga, kannst du uns sagen, was die Zukunft für diesen attraktiven Jüngling bereithält? Eine hübsche Freundin? Eine große Familie mit vielen Kindern? Oder hat er bereits eine heimliche Liebe?“

Serafina beugte sich vor. Der Papagei krallte sich schmerzhaft in ihre Schultern. „Psst, Napoleon“, flüsterte sie, „sei ruhig!“

„Nein“, sagte Olga zögernd, als ob sie nicht ganz bei der Sache wäre.

„Wie wäre es, wenn wir die Fragen ihm selbst überlassen? Du weißt am besten, was du von Olga erfahren möchtest? Vielleicht über die Liebe?“

„Liebe!“, knurrte Agatha. „Was weiß der Bengel über die Liebe! Er ist doch noch grün hinter den Ohren!“

„Sei endlich still!“, wiederholte Serafina ärgerlich.

„Ich ... ich weiß nicht“, stotterte Jaco.

„Nur keine Angst, wir werden es nicht weitererzählen. Also, was möchtest du wissen?“, sagte der Zauberer grinsend.

Jaco zögerte ein paar Sekunden. „Ich ... ich möchte wissen, wo mein Vater ist.“

Als im Publikum höhnische Zwischenrufe erklangen, merkte Serafina, dass sie sich verkrampft hatte. „Diese Idioten!“, schnaubte sie.

Agatha pflichtete ihr mit einem Kopfschütteln bei. „Scheint nicht sehr beliebt zu sein, der Kleine.“

Caligari hob die Hand und wartete, bis Ruhe einkehrte. „Meine Damen und Herren“, sagte er, „ich bitte Sie, die Regeln des Anstands nicht zu vergessen. Bedenken Sie, dass es viel Schneid braucht, um in aller Öffentlichkeit eine solche Frage vorzutragen. Ich bitte also um einen Applaus für diesen mutigen jungen Mann!“ Ein paar Hände klatschten zögerlich. „Nun denn, Olga, kannst du uns etwas sagen über den Vater dieses Jungen?“

Die verkrampfte Miene des Zauberers sagte Serafina, dass das lange Schweigen Olgas nicht geplant war. Sie zog den Vorhang noch weiter zur Seite. Shi-Sha kam wieder nach vorne. „Was sagt er? Ich habe nicht alles verstanden.“

„Er will wissen, wo sein Vater ist.“

„Vielleicht lebt er weit weg. Was meinst du? … Olga? … Was ist los?“, fragte Caligari und beugte sich über die Hellseherin. „Sollen wir aufhören? Ich kann dir – “ Er verstummte, als sie sich umdrehte und Jaco mit starrem Blick fixierte.

„Was geht da vor?“, grummelte Agatha. „So habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen.“

„Ich auch nicht“, flüsterte Serafina.

„Diese Sache kommt mir reichlich seltsam vor“, brummte Shi-Sha.

„Ich sagte doch, dass mir Olga nicht gefällt, das sagte ich doch, oder?“, zischte Agatha aufgebracht. „Warum hört man nie auf mich?“

„Olga?“ Caligari drückte sanft ihren Arm. „Stimmt was nicht? Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“ Während er noch beruhigend auf sie einredete, legte sie die Hände an die Schläfen, erstarrte und blickte ins Leere. Im gleichen Augenblick gingen ohne den geringsten Luftzug sämtliche Kerzen aus, die Vorhänge flatterten. Die Seidendecke fiel zu Boden. Sie sprang auf die Füße, trat zu Jaco und griff nach seinen Händen.

Dann glitt sie wie ein müder Schatten zu Boden.

Eine Schlange in der Dunkelheit

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