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Eine Schlange in der Dunkelheit

Caligari warf die Decke zur Seite. Etwas hatte ihn geweckt, ein unheimlicher Laut, den er nicht einordnen konnte. Nach einer Minute ließ er sich kopfschüttelnd in die Kissen zurücksinken. Er fühlte sich wie gerädert, denn er hatte lange nicht einschlafen können, und als er endlich in einen unruhigen Schlummer gefallen war, hatte ihn ein verwirrender Traum gequält. Eine Schlange – das Symbol für kommendes Unglück, aber auch für Verworfenheit und Betrug – hatte sich im Bücherschrank versteckt, und als er ihn geöffnet hatte, war sie herausgeglitten, hatte sich um seinen rechten Arm gewunden, bis er blau war und ein heftiger Schmerz durch seinen Körper brandete. Morgens um zwei hatte er in seinen Büchern nachgeforscht und zu seinem Schrecken eine ganz andere Auslegung gefunden.

Eine Schlange, die aus dem Dunkel auftaucht, bedeutet die Furcht, ein sorgsam gehütetes Geheimnis könnte uns entrissen werden.

Er griff nach der Kerze, da hörte er das Geräusch erneut. Einen heftigen Fluch unterdrückend, warf er sich den Mantel über und trat vor die Tür. Die Nacht war eiskalt und sternenklar und leise, doch es schien ihm, als hinge eine unsichtbare Drohung in der Stille.

Vor Moiras Wagen blieb er stehen. Er konnte sie vor sich sehen. Er sah ihr weißes, zerbrochenes Gesicht, ihre Augen, die wie schwarze Löcher brannten, sobald er den Blick auf sie richtete. Das Verlangen, das Geräusch als Phantasie seines übermüdeten Geistes abzutun und schleunigst ins warme Bett zurückzukehren, wurde immer stärker, doch ein komisches Prickeln im Nacken sagte ihm, dass er sich nicht getäuscht hatte. Seufzend stieg er die Stufen hinauf und öffnete die Tür. Im dünnen Licht der Kerze tauchte der Käfig auf, am Gitter die Gestalt seiner Frau in ihrem geblümten Kleid, das sie seit einer Ewigkeit trug. „Moira?“ Sie stand ganz vorne und blickte auf den schwachen Lichtstrahl, der von außen hereindrang. „Was ist los? Kannst du nicht schlafen?“

Ihr Blick blieb stumpf, doch in ihren Augen glaubte er einen Ausdruck zu erkennen, den er viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Es gab, obwohl kaum fassbar, immer einen Grund für ihr Verhalten, doch auch nach so vielen Jahren waren ihm die Gedankengänge seiner Frau ein vollkommenes Rätsel. Bei ihr wusste man nie, was als nächstes kommen würde.

„Was ist los? Hat dich was erschreckt?“ Er trat an das Gitter heran und berührte ihre Hand. Sie fühlte sich an wie gefrorenes Fleisch. „Es ist alles in Ordnung. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Leg dich hin und schlaf weiter! Hast du mich verstanden?“ Sie runzelte ein wenig die Stirn, bevor sie die Hände durch die Gitterstäbe schob und an seinem Mantel zog. Mit einem ärgerlichen Schnaufen befreite er sich von ihrem Griff und trat einen Schritt zurück. Wenn sie sich in einer dieser Stimmungen befand, war es ratsam, sie allein zu lassen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, begann sie glucksend zu lachen.

Nichts wie raus. Vor dem Wagen lehnte er sich an das Geländer, strich mit Daumen und Zeigefinger nachdenklich seinen Schnurrbart glatt. Im Nachhinein bedauerte er, seinen Schlaf für etwas geopfert zu haben, für das es keine Lösung gab. Und wie immer, wenn er Moira in diesem Zustand sah, diesem erbärmlichen Leben hinter Gitterstäben, aus dem es niemals eine Rettung geben würde, spürte er, wie sich sein Innerstes vor Abscheu und Mitleid verkrampfte. Er hatte im Lauf der Jahre gelernt, mit ihren wechselnden Launen umzugehen, den Ausbrüchen von Gewalt und Beschimpfungen, aber auch den Zeiten, da sie jegliche Nahrung verweigerte und mehrere Male am Rande des Verhungerns stand. Doch diesmal verhielt sie sich anders. Etwas Neues hatte sich eingeschlichen, etwas, was ihn – obwohl er den Grund nicht kannte – mehr ängstigte, als er sich eingestehen wollte.

Er war froh um den scharfen Nachtwind, der ihm half, die düstere Stimmung zu vergessen. Mit einem letzten Blick auf die im Mondlicht schwebenden, von Nebelschleiern behängten Berggipfel schlug er den Weg zu seinem Wagen ein.

Als das Lachen erneut erklang, lief ein eisiger Schauer über seinen Rücken.

Als er früh am Morgen erwachte, war es immer noch stockdunkel und eiskalt. Mit müdem Kopf zündete er eine Kerze an und stand auf. Im Spiegel zeigten sich die Spuren der vergangenen Nacht. Unter seinen Augen lagen dunkle violette Schatten, tiefe Falten erweckten den Eindruck, als wäre er um Jahre gealtert. Während er mit beiden Händen durch das Haar fuhr, wanderte sein Blick über den Rand des Spiegels hinaus und blieb auf einigen Karten und Briefumschlägen liegen, die mit Stecknadeln an der Wand befestigt waren. Meine Verehrung für den großen Meister, stand da in verblassenden Buchstaben geschrieben. Ein einmaliges Erlebnis. Ich gratuliere. Dürfen wir uns auf ein nächstes Mal freuen?

Grüße seiner Bewunderer, Lobhudeleien, Komplimente, die ihm nichts bedeuteten, auch wenn sie das notwendige Dekor seines Ruhmes darstellten, den Lorbeerkranz, der seinem Genie die angemessene Krone verlieh. Auf dem Tisch lag ein kleines vergilbtes Bild, mit ausgefransten Rändern, doch immer noch lächelte ihm Moira entgegen. Ihr pechschwarzes Haar war zu einem Knoten aufgesteckt, ein paar widerspenstige Strähnen hingen über ihre weiße Stirn. Er liebte diesen Ausdruck, diesen leicht spöttischen Zug, der seine Seele zum Schmelzen gebracht hatte. Seine Gedanken schweiften weg, zu den glücklichen Tagen, die er mit seiner Frau verbracht hatte. Sie lagen so weit zurück, und trotzdem kam es ihm vor wie gestern.

Kein Laut war zu hören, nur der zarte Klang einer Kirchenglocke in der Ferne, als er gähnend vor die Tür trat. Der Knecht Ezechiel, ein dicklicher Mann mit einem breiten, faltendurchzogenen Gesicht, in dem ein traurig herabhängender Seehundschnauz saß, stand gebückt beim Feuer und deutete fragend auf den Topf mit dem kochenden Wasser.

„Danke“, sagte Caligari und setzte sich.

„Siehst müde aus“, brummte Ezechiel, während er den Tee in die Tassen goss. „Schlecht geschlafen?“

„Moira hatte eine schlimme Nacht. Hast du was gehört, was sie geängstigt haben könnte? Dein Wagen steht ganz in der Nähe.“

„Moira? Aber die ist doch immer –“ Ezechiel brach ab. Wenn es um seine Frau ging, verstand der Zauberer keinen Spaß.

„Du hast doch einen leichten Schlaf."

„Ich habe keinen Laut gehört, außer –"

„Außer?"

Ezechiel griff in seinen Schnauz, bevor er antwortete. „Ich hatte Mühe beim Einschlafen. Und da hörte ich ein Rumoren in ihrem Wagen, als würde sie an die Wand schlagen, dann wieder ein Wimmern. Und ein komisches Lachen."

„Ich weiß, ich habe es auch gehört.“

„Es war sehr seltsam, nicht wie sonst“, sagte Ezechiel, nachdem er lange nachgedacht hatte. „Vielleicht der Mond, was weiß ich. Da rennt sie ja immer auf und ab. Dann schlief ich wieder ein.“

„Irgendwas muss geschehen sein. Und du hast tatsächlich nichts bemerkt, was der Grund für ihr Verhalten gewesen sein könnte?“

„Keinen Schimmer. Wir waren ja alle weg, in der Abendvorstellung. Sie war allein hier. Allerdings …“

„Allerdings?“

Der Knecht zögerte. „Na ja, ich kam ja früher von der Vorstellung zurück, und mir fiel auf, dass die Pferde unruhig waren, als ob … ach, ich weiß nicht ... als ob jemand da gewesen wäre.“

„Als ob jemand da gewesen wäre?“

„Ich kann‘s nicht genau sagen. Jemand, der nicht hierhergehört, verstehst du? Ein Fremder.“

„Das würde allerdings einiges erklären … Ein Fremder.“ Der Knecht zuckte die Schultern. „Ist was gestohlen worden?“

„Mein Mantel ist verschwunden.“

„Dein Mantel? Hast du ihn verlegt?“ Caligari fuhr sich nachdenklich über die grauen Schläfen. Dann gab er sich einen Ruck. „Na ja, wir werden sehen. Wahrscheinlich falscher Alarm. Ich werde –“ Ein lauter Ruf ließ beide herumfahren.

„Moira ist weg!“ Es war Agatha.

Serafina streckte den Kopf aus der Tür und gähnte. Auf ihrer Schulter saß, mit gesträubtem Gefieder und einem verschlafenen Ausdruck um seine runden Pupillen, Napoleon, der Papagei. Es war noch früh, der Himmel hing weit und weiß über den Bergen, und der Widerschein der Morgenröte verblasste eben am Horizont. Als sie sich der Feuerstelle näherte, merkte sie bestürzt, dass eine heftige Diskussion im Gange war. „Ist was passiert?“

„Moira ist weg“, antwortete Ezechiel.

Caligari war außer sich. „Himmelherrgottdonnernochmal!“, fluchte er.

„Donnernochmal“, echote der Papagei.

„Psst, sei still!“, zischte Serafina.

„Donnernochmal!“

Der Direktor trat aus seinem Wagen. „Was ist los?“ Agatha berichtete ihm mit wenigen Worten.

Serafina erinnerte sie auf sonderbar vertraute Weise an das letzte Jahr, als Moira in einem unbeobachteten Augenblick Ezechiel überrumpelt hatte. Sie war am nächsten Tag nicht zurückgekehrt und auch nicht am Tag darauf. Schließlich, entmutigt und besorgt, informierten sie die Behörden, und schon bald waren Suchtrupps, unterstützt durch eine johlende Meute ortsansässiger Jugendlicher, auf der Suche nach ihr, doch nach drei Tagen hatte sie, getrieben durch Hunger und Kälte, von selbst den Weg nach Hause gefunden. Man konnte nur hoffen, dass es auch diesmal so glimpflich ablaufen würde.

„Vielleicht hat man vergessen, die Tür abzuschließen?“, sagte der Direktor missmutig.

Caligari nickte grimmig. „Wo ist Shi-Sha?“

Serafina zupfte ihn am Ärmel. „Wir werden sie finden. Sie kann nicht weit sein. Ich bin sicher, dass wir sie –“

Sie wurde durch Shi-Sha unterbrochen, der zwischen den Wagen auftauchte. „Was gibt‘s denn so Wichtiges?“

„Moira ist weg!“, schimpfte Caligari.

„Weg“, krächzte der Papagei und zupfte an Serafinas Ohr.

„Weg? Schon wieder? Du machst Witze.“

„Witze. Witze.“

„Mir ist nicht nach Witzen zu Mute.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

„Du warst der letzte in ihrem Wagen … Hast du die Tür abgeschlossen?“

„Natürlich.“

Von Agatha kam ein höhnisches Kichern. „Wer’s glaubt.“

„Vielleicht –“, wollte Serafina besänftigende Worte einstreuen, doch Caligari winkte ab.

Der Direktor hatte sich bis jetzt zurückgehalten, doch nun wurde er unruhig. „Wo ist der Schlüssel?“

Seufzend steckte Shi-Sha die Hände in die Taschen und holte ihn hervor. Ein überraschtes Murmeln ging durch die Zuschauer. „Und der Käfig war verschlossen?“, fragte Caligari mit gefurchter Stirn. „Bist du sicher?“

„Auf jeden Fall!“

„Pfff!“, ließ sich Agatha vernehmen.

„Halt den Rand, Agatha!“

„Nun regt euch nicht gleich auf!“, befahl der Direktor. „Es gibt sicher eine vernünftige Erklärung.“

„Mir gefällt dein Ton nicht“, knurrte Ezechiel. Auch wenn er sich mit seiner Angetrauten tagein, tagaus in den Haaren lag, reagierte er heftig, wenn man sie beleidigte.

„Ach, dem Herrn gefällt mein Ton nicht?“, bellte Shi-Sha. „Das meint ausgerechnet Ezechiel, der Mann, der bei der Vergabe der Intelligenz krank im Bett lag! Sei gefälligst –“

„Ruhe jetzt!“, unterbrach der Direktor die Tirade, was erwartungsgemäß zu einer neuen führte.

„Himmelherrgott! Ich –“, rief Shi-Sha.

„Genug!“, warnte der Direktor erneut.

„Ist doch wahr! Immer bin ich der Schuldige … Habe ich je vergessen, die Tür anzuschließen? Kein einziges Mal, verdammt! Wenn du mir nicht vertraust, solltest du in Zukunft selbst für die Verpflegung deiner Angetrauten sorgen …“ Seine Augen blitzten böse. „Aber vielleicht hat ja unser verehrter Herr Zauberer selbst vergessen abzuschließen. Wo ist dein Schlüssel?“

Caligari griff in seine Manteltasche. Es entstand eine Pause, während die Leute gespannt zusahen, wie er in den Tiefen seines Wamses suchte, schließlich mit geröteten Wangen den Inhalt der Taschen auf den Boden kippte. „Er ist weg“, sagte er schließlich ungläubig. Mit dem Zeigfinger über die Nasenspitze streichend, dachte er angestrengt nach. „Moira!“, murmelte er halblaut. „Sie muss ihn mir in der Nacht aus der Tasche genommen haben.“

„In der Nacht?“, fragte der Direktor erstaunt.

„Sie benahm sich sehr eigenartig, also ging ich nachsehen. Ezechiel glaubt, dass jemand hier war. Ein Fremder. Vielleicht war das der Grund.“

Ein überraschtes Raunen ging durch die Leute. „Ein Fremder?“

„Du meinst während der Vorstellung?“

„Blödsinn!“, sagte Shi-Sha. „Das ist doch dummes Zeug! Wahrscheinlich spinnt sie mal wieder. Das geschieht doch andauernd. Ein Fremder, so ein Scheiß!“

„Also hör mal!“, rief Caligari aufgebracht. „Wie redest du über sie? Sie ist immer noch meine Frau, auch wenn sie –“

„Ist doch wahr!“, unterbrach Shi-Sha seine wütende Entgegnung. „Und überhaupt – ich kann sie verstehen. An ihrer Stelle wäre ich längst abgehauen. Ich hoffe, dass es ihr diesmal gelingt. Das ist doch kein Leben in diesem grässlichen Wagen. Hinter Gittern, verdammt nochmal!“

Caligari musste tief Luft holen, bevor er antworten konnte. „Sie ist nicht bei Verstand, das weiß doch jeder. Man muss sie zu ihrem eigenen Schutz einsperren. Wenn wir sie nicht finden, wird sie erfrieren oder verhungern.“

„Vielleicht ist es genau das, was sie will. Alles ist besser als dieser Wagen. Und überhaupt – man sollte es dir endlich sagen, dass wir es leid sind, zuzusehen, wie Moira vor die Hunde geht.“

„Was meinst du mit ‚wir‘?“, murrte Agatha. „Seit wann spielst du den Sprecher für uns alle?“

Serafina drückte Shi-Shas Arm, doch es war zu spät. „Das sagst ausgerechnet du, du falsche Schlange!“, schrie er. „Du hast doch behauptet, dass Caligari und seine Frau nicht zu uns gehören. Dass man Moira besser in eine Anstalt bringen sollte.“

„Was?“, rief Agatha entrüstet. „Sowas habe ich nie gesagt! Du bist ein Lügner!“

„Lügner!“

„Beruhigt euch endlich!“, befahl der Direktor.

„Elender Wicht!“, murmelte Agatha, doch gerade laut genug, dass es jeder hörte. Shi-Sha sauste so schnell auf sie los, dass sie unwillkürlich einen Schritt nach hinten machte und über eine Kiste stolperte. Mit einem dumpfen Laut krachten die geschätzten hundert Kilo auf den Boden, das Vogelnest flog in hohem Bogen durch die Luft und kullerte weg.

„Geschieht dir recht, dumme Kuh!“, rief Shi-Sha. Er zitterte am ganzen Körper. Jähe Stille trat ein. Das war zuviel für Ezechiel. Mit erstaunlicher Wendigkeit preschte er nach vorne. Bevor Shi-Sha reagieren konnte, war der Knecht über ihm.

„Ezechiel!“, schrie Agatha, als ihr Ehemann, getroffen von einem gemeinen Tritt zwischen die Beine, nach hinten stürzte.

Serafina stieß einen Schrei aus. „Gorgon!“

Gorgon, der ungeachtet der lautstarken Diskussion seelenruhig beim Feuer gesessen hatte, stand gemächlich auf, packte Shi-Sha um den Nacken und hob ihn hoch. „Das genügt!“, herrschte er ihn an.

„Was?“, schrie der Zwerg. „Ich bin nicht schuld! Warum gehst du auf mich los und nicht auf Ezechiel? Er hat angefangen, also lass mich los, verdammt!“ Gorgon schüttelte ihn noch etwas, dann ließ er ihn wie eine heiße Kartoffel zu Boden fallen.

„Gut“, sagte der Direktor aufatmend, „macht euch auf die Socken, wir müssen schnellstmöglich Moira finden! Es wird immer kälter, und wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie wie letztes Jahr von selbst zurückkommt.“

Während die Suche begann und sich die anderen in alle Himmelsrichtungen verteilten, saß Shi-Sha immer noch mit blassem Gesicht auf dem Boden. Niemand bemerkte den Blick, den er Gorgon hinterherwarf.

Es war mehr als Wut. Es war blanker Hass.

Serafina nickte Gorgon zu, der mit misslauniger Miene in Richtung des Waldes tappte. Shi-Sha ging in die andere Richtung, dorthin, wo die Straße zur Brücke hinaufführte, während Bruno und Matumbo in senkrechter Linie den Hang hinaufkletterten. Ihr Puls ging immer noch schnell. Mit einem letzten Blick zum Horizont, wo die ersten Sonnenstrahlen in einer Flut aus Licht die Bergspitzen zum Glänzen brachten, wollte sie sich selbst auf die Suche machen, da fiel unvermittelt ein langer Schatten über sie. „Guten Morgen, Jon“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, und lächelte.

„Was ist denn los? Ich habe laute Stimmen gehört.“ Sie musste sich zurücklehnen, um dem Mann ins Gesicht blicken zu können. Der Mann war Jon Arboghast, der Riese, der größte Mensch auf Erden, größer als jedes andere Lebewesen, abgesehen von einem Elefanten oder einer Giraffe. Ein Riese, dünn und bleich, mit endlos langen Armen und einem viel zu kleinen Kopf, auf dem, leicht schief, ein Zylinder saß. „Ezechiel sieht mitgenommen aus“, sagte er. „Was ist passiert?“

Serafina erzählte ihm, was geschehen war, und während er mit bekümmerter Miene zuhörte, pendelte sein langer Oberkörper hin und her. „Moira tut mir leid“, sagte er leise, als sie geendet hatte. „Kannst du dir ein Leben hinter Gittern vorstellen? Ich würde mich umbringen.“

„Shi-Sha hat recht“, sagte sie. „Es ist ein unwürdiges Leben. Aber ich verstehe auch Caligari. Er hat keine Wahl. Der Wagen oder eine geschlossene Anstalt. Ich weiß nicht, was ich machen würde.“

Nach einer Weile räusperte er sich. „Wir sind schon ein komischer Haufen, findest du nicht?“

„Komisch? Wie meinst du das? Nur, weil einige von uns von der Norm abweichen, sind wir doch nicht komisch. Wir sind doch eigentlich ganz normal.“

„Normal?“, seufzte Jon, „ganz sicher nicht.“ Er lächelte Serafina über den Rand seiner runden Nickelbrille an. „Wir sind ein Panoptikum. Ein Kuriositätenkabinett ...“ Seine Worte wirkten heiter, doch Serafina spürte die Traurigkeit dahinter.

„Ich weiß, was du meinst“, sagte sie leise.

„Du kannst von Glück reden, dass du nicht so bist wie wir. Du bist normal, jung und hübsch, du hast weder einen Buckel noch bist du ganzkörperbehaart oder zwergwüchsig wie Shi-Sha oder ein Riese wie ich ...“

Und hier kommt der Riese aus dem Norden, pflegte ihn der Direktor anzukünden. Der größte Mensch auf Erden. Ein Wunder der Natur. Der einmalige Jon Arboghast.

Ein Wunder der Natur.

Serafina wusste, dass es nichts gab, was ihn mehr ärgerte.

Während sie den Schal um ihren Hals legte und ihn auf der Brust verknotete, überlegte sie, wohin sich Moira gewandt haben könnte. Was hätte sie an ihrer Stelle gemacht? Oberhalb des Lagers erblickte sie einen Pfad, der den Hang hinaufführte, im Zickzack der steiler werdenden Anhöhe folgte und schließlich hinter einer Kuppe verschwand.

Eine halbe Stunde später erreichte sie keuchend die Anhöhe. Ein kleines Haus, kaum erkennbar durch den plötzlich aufgezogenen dichten Nebel, duckte sich an den Abhang, umgeben von einer Hecke aus Feldsteinen und Weißdornsträuchern. Über dem Kamin, der notdürftig mit einer Drahtschlinge befestigt war, hing eine dünne Rauchfahne. Trotz Anzeichen des Verfalls strahlte das Haus eine gelassene Anmut aus, die Fenster blickten freundlich, und die Holzbank bei der Tür lud zum Verweilen ein. Serafina gab sich einen Ruck.

Wer weiß, vielleicht hatten die Bewohner etwas gehört oder gesehen.

Eine Schlange in der Dunkelheit

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