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Dezember 2116 A.D.

Seit knapp drei Wochen lebte ich in der neuen Wohnung, die völlig anders war als mein Haus. Kleiner. Moderner. Hellhöriger. Fast mitten in der City. Doch vor allem war sie eins: nicht mein zuhause. Es fühlte sich nicht danach an. Möglicherweise würde die Zeit das Gefühl bringen.

Im Moment fühlte ich sowieso nichts.

Rein gar nichts.

Seit dem Tag, an dem Alan mir mitgeteilt hatte, ich solle gehen. Und dass er sich geirrt hätte.

Ich – Samantha Bricks – war, entgegen seiner anfänglichen Behauptung, doch nicht seine Gefährtin. Ein Scherz; hatte ich gedacht. Leider hatte ich sehr schnell erkennen müssen, dass er es ernst meinte. Spätestens als er mit einer anderen Frau aufgetaucht war.

Seit diesem Zeitpunkt dümpelte mein Herz wie ein zerknitterter Lumpensack in meinem Brustkorb herum.

Angefüllt mit jeder Menge Schmerz, der umso heftiger wurde, je kleiner und enger es sich zusammen schnürte. Ich verstand selbst nicht, wie das hatte passieren können. Aber ich hatte mich in Alan verliebt. Er hingegen liebte mich nicht. Er hatte mich begehrt, das schon. Zumindest so lange er glaubte, dass ich seine Gefährtin sei. Die Frau, die ihm genetisch perfekte Nachkommen gebären konnte. Und obwohl er des Öfteren auf meine Hand ejakuliert hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, beim Sex in mir zu kommen.

Ok, gekommen war er schon. Nur eben nicht so, wie er es erwartet hatte. Der Samenerguss blieb aus. Und der war ja wohl für eine Fortpflanzung notwendig.

Wenn ich mich recht entsann.

Wie das eine möglich war, das andere hingegen nicht, blieb mir ein Rätsel. Seit diesem Moment war ich nur eine von vielen Frauen. Eine, die nicht die Frau sein konnte. Damit wurde ich ersetzbar – wie hunderte Geschlechtsgenossinnen vor mir.

Die Konsequenz hatte er viel schneller gezogen, als mir lieb war. Eine Trennung. Seiner Ansicht nach kurz und schmerzlos.

Ha, für ihn!

Wie hatte ich dermaßen blind sein können? Er hegte keine Gefühle für mich. Zumindest keine, die von Herzen kamen. Hatte ich es nicht sehen wollen? War er zu charmant, wenn er ans Ziel kommen wollte? Dennoch, ich hätte es bemerken müssen! Hatte ich aber nicht.

TFVSDS – typischer Fall von selbst dran schuld.

Sollte ich mir auf die Stirn tätowieren. Sähe genau so bekloppt aus, wie ich war.

Eigentlich hatte ich vor, Alan so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Das Vorhaben gestaltete sich dezent ... schwierig. Er lief mir nicht persönlich über den Weg. Gott bewahre! Doch er lächelte mir aus Zeitungen entgegen, von Plakaten, von sämtlichen Werbeflächen, an denen ich in der Stadt vorbei lief – wenn ich denn mal in der Stadt unterwegs war – und schien plötzlich in jeder – wirklich jeder! – gottverfluchten Werbung aufzutauchen. Beinah, als wolle er meine Gefühle verspotten. Ich hätte kotzen können.

Gleichzeitig heulen.

Und fluchen.

Ich wollte nichts lieber als mich den ganzen Tag vor lauter Herzschmerz im Bett verkriechen. Selbst in meine Träume folgte er mir. Vor allem seine Worte. Ich durchlebte ein furchtbares Wechselbad der Gefühle, die mein inneres Chaos nur allzu deutlich offenbarten. Von Wut, über Schmerz, Trostlosigkeit, dem Wunsch mich von der nächstbesten Brücke zu werfen, ihm höhnisch in seine blöde Visage zu grinsen bis hin zu der Erkenntnis, dass es besser wäre, sich nie wieder zu verlieben. Hin und wieder gestattete ich mir den Gedanken, ob ich ihm nicht lieber zeigen sollte, dass ich auch andere Männer haben könnte.

Sofern ich das wollte.

Von Himmel hoch jauchzend bis zu Tode betrübt: Ich hatte wirklich alles in meinem gefühlsmäßigen Repertoire zu bieten. Eigentlich könnte ich damit handeln. Ich würde ganz sicher stinkreich damit werden. Obwohl ich mich definitiv nicht als arm bezeichnen konnte.

Immer wieder verwünschte ich mich. Ich hätte mich schon viel eher von ihm ins Bett zerren lassen sollen. Dann hätte ich ebenfalls tollen Sex gehabt, aber ohne mich vorher derart heftig in diesen arroganten Kotzbrocken zu verlieben. Ach man! Das Leben war scheiße. Das letzte anderthalbe Jahr glich einem Sturzbach an Gefühlen. Durchzogen von Verlusten.

Ich wollte endlich ein Happy End! War das zu viel verlangt oder vom Schicksal überhaupt für mich vorgesehen? War nicht auch Alan mein Schicksal? Laura hatte mir das gesagt. Tja, wenn ich mich jedoch genau erinnerte, hatte sie gemeint, im Moment wäre Alan mein Schicksal.

Verflixt!

Daran hätte ich auch eher denken können. Aber nö – pfft – ich musste mein Herz an diesen unverschämten Volltrottel verlieren. Schöner Mist.

Das hieß also, zurück auf Anfang.

Ich war Samantha Bricks, 30, movere mit ein paar klitzekleinen Extrafunktionen und professionelle Beschaffungskünstlerin von seltenen, teuren, teilweise fast unbezahlbaren Gütern jeder Art. Gegen entsprechende Bezahlung.

Ach; und Single.

Wieder mal.

Es war Zeit, von vorn zu beginnen.

Eine neue Wohnung hatte ich bereits. Fehlte noch eine neue beste Freundin, die leider sehr dünn gesät waren. Außerdem ein neuer Lover. Vielleicht auch ein oder zwei interessante, gut bezahlte Aufträge. Alles andere würde sich von selbst regeln. Hoffte ich. Wobei mir das gar nicht schnell genug gehen konnte.

Fang wieder an zu leben, Sam! Alan ist es nicht wert, dass du ihm hinterher trauerst. Es interessiert ihn nicht die Bohne, wie es dir geht. Also schwing deinen traurigen Hintern endlich wieder in ein paar knackige Hosen und mach die Stadt unsicher! Chris‘ Worte. Es hätten ebenso gut meine sein können. Wobei ich sie selbst erst in ein paar Wochen geäußert hätte. Oder noch später. Bis dahin machte ich vermutlich einer Mumie allergrößte Konkurrenz.

Jepp; eindeutig!

Das, was mich da aus meinem Spiegelbild anstarrte, konnte nämlich unmöglich ich sein: Meine Haare glichen einer Pudelmütze, meine Augen waren geschwollen und umrandet von wunderschönen, dunklen Ringen. Meine Lippen aufgerissen und spröde.

Reizend.

Ich sollte schleunigst wieder anfangen zu leben, bevor ich als lebende Leiche endete.

Dieses Vorhaben setzte ich in die Tat um. Wenn auch nur, um mir selbst zu beweisen, dass das Leben ohne diesen eitlen Deppen ebenso lebenswert war.

Einige Stunden später war ich eine völlig neue Person und betrachtete mich äußerst zufrieden im Spiegel. Nach einem ausgiebigen Schönheitstag – den ich nur dank ein paar Kontakte meiner Mutter hatte überhaupt so schnell ermöglichen können – fühlte ich mich beinah wieder wie ein Mensch. Zu verdanken hatte ich das einem Schönheitssalon. Der bot einen hervorragenden Service. Ich fühlte mich wunderbar entspannt, entschlackt, gepeelt, gecremt, massiert, gerupft, gezupft und wieder in Form gebracht. Obendrein war mein stark geknicktes Selbstvertrauen aufpoliert worden. Dafür bat man jedoch auch ordentlich zur Kasse. Nun ja, Qualität hatte nun mal ihren Preis.

Ich jedenfalls fühlte mich prächtig. Oberhammeraffengeilsauprächtig!

Und sah auch dementsprechend aus. Besonders, weil ich mir im Anschluss nicht nur einen Friseurbesuch, sondern auch schicke, neue Klamotten gegönnt hatte.

Oh ja!

Diese Lady im Spiegel gefiel mir. Nicht das Häufchen Elend, was mich heute Morgen daraus angestarrt hatte. Jetzt sah ich aus wie eine selbstsichere, sympathische, junge Frau mit einem neuen Lebensziel. Zugegeben, nicht neu, nur… ein wenig generalüberholt. Ausgestattet mit diesem neuen Elan überlegte ich mir, ob ich so kurz vor Weihnachten nun doch endlich beginnen sollte, meine Wohnung etwas weihnachtlicher zu gestalten. Aber angesichts der viel zu warmen Temperaturen entschied ich mich dagegen.

17 Grad Celsius.

Wie sollte denn bei diesen frühlingshaften Temperaturen ein Weihnachtsfeeling aufkommen? Schnee – und somit weiße Weihnachten – fielen dieses Jahr wohl aus. Ich seufzte und ohrfeigte mich dafür im Stillen. Schließlich hatte ich mir vorgenommen, nur noch positiv ans Leben heranzugehen. Seufzen gehörte nicht dazu.

Es sei denn, ich konnte dazu sehr elegant und genervt die Augen rollen.

Was im Moment nicht zutraf.

Alan hatte mir – mal wieder – das schönste Fest des Jahres versaut. Doch das sollte mich nicht mehr kümmern. Ein drittes Mal würde ihm das nämlich nicht gelingen. Ab sofort hatte ich nichts mehr mit ihm zu tun. Ich war frei. Ach was, es würde ihm noch nicht mal ein zweites Mal gelingen. Nur weil wir getrennt waren, hieß das nicht, dass mein Weihnachten ausfiel. Oder von Trübsal übersät blieb.

Summend hüpfte ich durch meine Wohnung. Entschied mich schließlich, wenigstens ein paar Weihnachtslieder anzuhören, die ich sofort lautstark mitträllerte. Nebenbei begann ich die Geschenke für meine Familie zu beschriften, denn eingepackt waren sie schon. Gott sei Dank hatte ich die bereits vor dem Desaster mit Alan besorgt. Sein Geschenk hingegen landete ohne weitere Überlegung in der Mülltonne. Die Uhr war graviert; vom Umtausch somit ausgeschlossen. Es sähe sicher dämlich aus, wenn ich sie einem meiner Brüder schenkte. Oder Chris. Oder meinem Vater. Notiz an mich selbst: Beim nächsten Mann auf Gravuren bei Geschenken verzichten. Sicher ist sicher!

Nachdem ich damit fertig war, loggte ich mich ins Internet ein und überprüfte meine Aufträge, die – wow – ziemlich zahlreich vorhanden waren. Allerdings dürfte bei einem Großteil von ihnen der Handlungszeitraum bereits abgelaufen sein. Also las ich sie gar nicht erst und löschte sie sofort. Übrig blieben vier Aufträge. Die lud ich mir auf meinen Datenchip herunter. Später konnte ich sie auf dem Dl lesen. Niemand würde das nachweisen können. Die Originale löschte ich spurensicher; ohne die Möglichkeit einer Wiederherstellung. Schlussendlich entschied ich mich dann sogar doch noch dafür, wenigstens ein bisschen Deko aufzustellen.

Nicht viel.

Nur das Nötigste.

Ein paar Pyramiden – ich hatte ja nur neun. Einen Nussknacker – na ja ... fünf. Ein paar Räuchermänner – etwa 15 oder 30. Ein bisschen Fensterschmuck – Beleuchtung… und ein wenig Klebzeug… und Schneespray. Weihnachtsdeckchen. Ein paar kleine Nippsachen: Engel, Kerzen und Schneekugeln – mit und ohne Musik – und natürlich den Baum. Ohne den war es nicht perfekt. Inklusive Kugeln, Lämpchen und für das glitzernde Bling-Bling ein wenig Lametta. Na bitte, schon viel besser. Das war das richtige, echte Adventfeeling.

Sofern ich die Außentemperaturen außer Acht ließ.

Heute Morgen hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mich am Abend von Chris überzeugen ließe, nach knapp drei Wochen wieder einmal die Wohnung zu verlassen. Um etwas zu unternehmen. Vor allem, daran Spaß zu haben.

Doch so war es.

Ich amüsierte mich köstlich!

Wir gingen essen, anschließend ins Kino und sogar tanzen. Fast hätte ich vergessen können, dass ich an Liebeskummer litt. Bis auf die vielen scheußlichen Plakate, von denen Alan mich lasziv angrinste und sich damit stetig die Gewissheit in mein Bewusstsein quetschte, dass ich nicht mehr die Frau an seiner Seite war. Vergiss ihn, Sam. Er hat dich doch gar nicht verdient.

Aber wie das nun mal in Herzensangelegenheiten ist: Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht akzeptieren will. Dennoch, mein Spaß war echt. Sogar mein Lachen. Jedoch nur, bis Chris mich wieder daheim – in der mir immer noch fremden Wohnung – absetzte. Mit einem Kloß in der Kehle, abgeschminkt und mich in meinen Schlafanzug schlängelnd, kam ich mir wieder genauso elend vor wie am Morgen. Doch ich bemühte mich stark zu sein. Jedenfalls eine Weile.

Als ich ins Bett ging, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Wie so oft weinte ich mich in den Schlaf.

Wenigstens sah mir mein Elend am nächsten Morgen nicht in Form einer verheulten, farblosen Vogelscheuche aus dem Spiegelbild entgegen. Meine von der Bettdecke verschluckten Schluchzer offenbarten lediglich mein gebrochenes Herz auf eindrucksvolle Weise. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis es vollständig geheilt war. Oder zumindest halbwegs repariert.

Ich hatte mich in den Schlaf geheult; na und?

Dafür sah mein Spiegelbild nur nach einer Frau aus, die lediglich ein bisschen zu lang gefeiert hatte.

Neuer Tag, neues Glück, hm?

Ohne lang zu überlegen, stieg ich in die Dusche, genoss das herrlich warme Wasser, wusch mich gründlich, spülte mich ab, stieg aus der Dusche, rubbelte mich trocken, schlüpfte in die bereit gelegten Klamotten, föhnte meine Haare und legte mir sogar ein wenig Make-up auf. Zugegeben, der Pullover war ein wenig kindisch. Welche Frau im zarten Alter von drei Jahrzehnten trug schon einen roten, wuscheligen Pullover, auf dem ein glupschäugiger Elch einem Schneemann die Nase wegfutterte? Tja, ich tat es.

Ich fand ihn süß.

Der Pulli war warm und flauschig und fühlte sich für die Jahreszeit richtig an. Kurz bevor ich mich jedoch an den Frühstückstisch setzte, entschied ich mich um. Nicht, weil mir plötzlich klar wurde, wie albern ich aussah. Es war schlichtweg zu warm.

Verdammt, wusste der Wettergott nicht, dass im Dezember keine zwanzig Grad zu herrschen hatten?

Schnaubend zog ich das kurzärmelige, rote Shirt an – wenigstens die Farbe erinnerte an die Adventszeit – und machte mich anschließend über mein Frühstück her. Sehr nahrhaft war es nicht. Das lag nicht nur an den Cornflakes, die ein wenig zu intensiv nach Pappe schmeckten. Es war auch mein momentanes Unvermögen genügend Nährstoffe zu mir zu nehmen. Mein Magen reagierte zurzeit ein bisschen aggressiv auf feste Nahrung. Sollte bei gebrochenem Herzen durchaus vorkommen; hatte ich mir sagen lassen.

Seufzend goss ich mir die dritte Tasse Kaffee ein. Wobei ich mir zum mindestens hundertsten Mal vornahm, nicht zu seufzen.

Mit der Tasse lief ich in die Wohnstube, in der ich gestern Nachmittag irgendwo meinen Datenleser gesehen hatte. Ich fand ihn nach wenigen Minuten unter dem zerknautschen Sofakissen.

Vermaledeite Klabasterkacke!

Vorhin hatte ich den Chip in die Minitasche der Jeans gesteckt. Die, die ursprünglich für Taschenuhren vorgesehen war – obwohl die seit Jahrhunderten keiner mehr benutzte. Jetzt brach ich mir fast die Finger bei dem Vorhaben, den Chip aus dieser wieder herauszufischen.

Es gelang mir.

Irgendwie.

Ohne den Verlust eines Fingers.

Den Chip legte ich ein. Während ich in aller Ruhe meinen Kaffee trank, sah ich die vier Aufträge an. Einen würde ich ablehnen, da ich nie und nimmer bei einem Vampir einsteigen würde. Nicht, weil ich noch Angst haben musste, dass sie mich mit ihrem Biss vergiften konnten. Aber Vampire waren in jeglicher Hinsicht schneller als ich. Für den Fall, dass ich dennoch angemessen reagierte, wollte ich jedoch nicht als Mörderin hingestellt werden.

Nur weil ich einen in Notwehr röstete. Hm, knuspriger Vampir…

Die anderen drei waren gewöhnliche Menschen. Zumindest was den Beschaffungsort betraf. Denn auch Gestaltwandler als Opfer lehnte ich kategorisch ab. Immerhin kannte ich die Rudel inzwischen persönlich und die konnten an einer Hand abzählen, wer ihnen quasi aufs Dach gestiegen war.

Oder in den Keller.

Beziehungsweise den eigentlich gut geschützten Tresorraum.

Da die drei Beungünstigten weder Vampire noch Werwesen waren, sagte ich diesen Aufträgen zu.

Somit war es den mir bis jetzt anonymen Auftraggebern überlassen, mich innerhalb der nächsten zwei Stunden zu kontaktieren. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich, seit Humphrey nicht mehr da war, lediglich Aufträge angenommen. Auf eigenen Antrieb beschaffte ich seit diesem Zeitpunkt keine Objekte, die ich meistbietend zum Verkauf anbot. Hieß das, ich war im Begriff mich zu ändern? Gesitteter zu werden? Weniger risikofreundlich? Möglich. Vielleicht war es auch nur eine unbewusste Entscheidung, die meine Faulheit bezüglich der Recherche unterstützte.

Binnen nicht mal fünf Minuten meldete sich mein Pager, den ich mir vorsorglich bereit gelegt hatte. Ohne zu zögern, griff ich zum Telefon, was ich ebenfalls schon vor mir liegen hatte und wählte die erste Nummer. Im Stillen dankte ich mir für die weise Voraussicht den Kaffee abgestellt zu haben. Denn die Stimme, die sich meldete und die offenbar durchaus wusste, dass ich mich am anderen Ende befand, gehörte keinem Geringeren als Bingham Senior, äh ... Steward. Natürlich war es kein Zufall, dass ausgerechnet ich seinen Auftrag annahm. Steward hatte einfach gewartet, bis ich ihn kontaktierte. „Schön, dass du wieder im Geschäft bist, Samantha.“ Auf meine Frage, wieso er mich denn nicht direkt darum gebeten hatte, hörte ich ihn nur leise lachen. Ja, ja, schon klar. Ich rollte mit den Augen. Die letzten Wochen war ich schließlich zu nichts zu gebrauchen gewesen. Das Chaos in meiner Wohnung, was ich erst gestern beseitigt hatte, war Zeuge meiner geistigen Abwesenheit gewesen. „Ich bin gleich bei dir, wenn es dir recht ist.“, bemerkte Steward.

Auf meine Zustimmung hin, legte er auf und tauchte nur ein Augenblinzeln später in meiner – inzwischen Gott sei Dank passablen – Wohnstube auf. Sofort klärte er mich über die erwartete Dienstleistung auf. Es wunderte mich nicht, dass er sich den begehrten Gegenstand nicht selbst besorgte. Vampire waren schnell und fähig, sich an jeden beliebigen Ort zu transportieren. Sobald jedoch irgendeine Form von Magie als Sicherheitsfaktor zu berücksichtigen war, waren auch deren Hände gebunden. Sofern es sich nicht um vampirische Magie handelte. Und das tat es in Stewards Fall nicht.

Drei Stunden später hatte ich mir auch die anderen zwei Aufträge unter den Nagel gerissen. Wenn alles gut lief und die Recherche keine Schwierigkeiten bereitete, würde ich die Aufträge innerhalb einer Woche ausführen können.

Mit etwas Glück wurde es so kurz vor Jahresende ein Kinderspiel.

Mein Tatendrang war geweckt.

Die nächsten Stunden ermittelte ich; machte mir dabei Notizen. Das erste Mal seit Wochen nahm ich eine recht anspruchsvolle, kalorienreiche Mahlzeit zu mir – ohne dass mein Magen der Ansicht war, diese gleich wieder von sich zu geben. Die ganze Zeit über lächelte ich und ... wow, ich bemerkte es sogar!

Endlich fertig und mit der Recherche zufrieden, streckte ich mich ausgiebig. Immer noch ein zufriedenes Grinsen im Gesicht. Was für ein Glück, dass Menschen nach wie vor die Angewohnheit hatten, Weihnachten im Kreis ihrer Familien zu verbringen und sich auf den Frieden zu besinnen. Etwas durchaus Schönes. Nur, dass ich das natürlich ausnutzen würde. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Oder der Besuch der Christmette, den der gute Mann, der Stewards Eigentum unberechtigterweise an sich hatte nehmen können, besuchen würde. Wer rechnete schon damit, am Heiligabend nicht vom Weihnachtsmann oder dem Christkind, sondern von einem gut informierten und mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestatteten Dieb besucht zu werden?

Aah, hoffentlich fand ich eine gute Ausrede für meine Mutter!

Sie ging zwar nicht in die Kirche – wie wir alle nicht – verlangte aber dennoch von uns Kindern, dass wir uns pünktlich 15 Uhr bei ihr zum Kaffee einfanden.

Nun, ich würde mir schon etwas einfallen lassen. Schließlich war ich nicht auf den Kopf gefallen. Und wenn ich diesen verfluchten, herzlosen, herum hurenden Alan vorschieben müsste.

Alan…

Ach du heiliger Strohsack!

Fluchend schob ich die mit den notwendigen Informationen beschriebenen Zettel ineinander und packte sie zusammen mit dem Pager und meinem Datenleser in das untere Schubfach meines Sideboards. Gleichzeitig versuchte ich, meine leicht hyperventilierende Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Heute war der 21.

Wintersonnenwende.

Und somit das Ritual, an dem ich dank dieser dämlichen Rudelintegrierung teilnehmen musste. Das Ritual zur Versiegelung der Seelen. Vor einem Jahr wäre beinah die Apokalypse über die Welt hereingebrochen. Aber mir und Ribberts Rudel war es gelungen, einen frei umherlaufenden Wandler aufzuhalten. Zugegeben, auch Alan und Roman Bingham hatten einen Teil dazu beigetragen. Würde ich also nicht hundertprozentig wissen, dass es unumgänglich war, würde ich den Termin absichtlich vergessen. Aber mein Gewissen machte mir das unmöglich.

Ich wollte nicht, dass die Seelen der Wandler freikamen. Zerhackt und verknittert aber auch!

Ich wollte Alan nicht sehen.

Ich wollte nicht in seiner Nähe sein.

Und vor allem wollte ich nicht so tun, als machte es mir nichts aus, dass er mich mir nichts dir nichts aus seinem Leben ausgeschlossen hatte. Aber ich hatte keine Wahl… scheiß schlechtes Gewissen!

Da es immer noch warm war – die Wetterstation bestätigte mir fluffige 12 Grad und das neun Uhr abends – verdammt, ich würde zu spät kommen! – entschied ich mich gegen die schwere Bikermontur, behielt meine Jeans und das Shirt an, schlüpfte in eine leichte Lederjacke, schnappte meine Schlüssel, überprüfte kurz mein Make-up und legte ein dezentes Parfum auf. Für einen Moment genoss ich das heimelige Licht der Weihnachtsbeleuchtung an den Fenstern. Verfluchter Scheißendreck!

Ich konnte es nicht aufschieben.

Zu trödeln machte es kaum leichter. Ich schnappte mir den Helm, verließ die Wohnung und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Dort stand nicht nur meine Lady, sondern auch Lauras Auto und warteten auf mich. Ich setzte den Helm auf, schwang mich auf mein heiß geliebtes Motorrad, startete den Motor und ließ ihn einmal laut aufbrüllen. Tief Luft holend legte ich den Gang ein.

Einatmen.

Ausatmen.

Dann machte mich auf den Weg zu Alans Anwesen. Würde schon schief gehen.

Homo sapiens movere ~ gebrochen

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