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Acht weitere Tage hielt Roman mich stundenlang auf Trab, bis er mir endlich einen Tag Pause gönnte.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich mein Frühstück derart ausschweifend hatte genießen können. Ich gönnte mir sogar frische Brötchen sowie frische Wurst und kochte mir Eier.

Während ich genüsslich und mit allen Sinnen genießend frühstückte, griff ich zum Telefon, rief erst meinen Bruder und Veronika an, anschließend Trudi und schließlich sogar meine Mutter. Hinterher räumte ich das Geschirr in die Spüle, hüpfte summend durch meine Wohnung, sorgte für Ordnung und entschied mich groß einkaufen zu gehen.

Sogar diesen lapidaren Einkauf genoss ich mit jedem Atemzug.

Ich setzte sogar noch eins obendrauf, indem ich Blumen kaufte.

Ich.

Kaufte.

Blumen!

Und einen Baum. Einen kleinen. Einen Ficus. Hoffentlich überlebte der meinen hellblauen Daumen.

Als ich nach etwa zwei Stunden wieder daheim war, fing es, wie auf Bestellung, an zu schneien. Konnte mir egal sein. Ich saß im Warmen. Nachdem ich alle Einkäufe verstaut, den Blumentopf mit den blühenden gelben Blüten an das Küchenfenster gestellt, das Bäumchen ins Wohnzimmer und die Kartoffeln für das Mittag geschält hatte, setzte ich mich an den Küchentisch und begann, die Zeitung zu lesen.

Klatsch und Tratsch. Politik. Den Sportteil ließ ich aus. Mein Horoskop… oh hey, ich hatte Glück in meiner Partnerschaft. Mein Liebesleben könnte besser gar nicht sein.

Interessant. Dafür, dass ich keines hatte.

Gartentipps… Jepp, im Februar… sobald man sich durch den Schnee gebuddelt hatte. Wohnungstipps. Aktuelle Schnäppchen. Regionales. Sowie ich auf dieser Seite angelangte, schnappte ich unwillkürlich nach Luft und runzelte die Stirn. Es wurden Personen vermisst. Nicht nur eine oder zwei, sondern knapp über hundert. Allein in unserer Stadt. Und jeden Tag gab es neue Vermisstenanzeigen. Hunderte kleiner Fotos zeigten Gesichter von Personen, die sich anscheinend in Luft aufgelöst hatte.

Ach du heiliger Bimmelbammel!

War es das, was ich nach dem Abend mit Trudi gesehen hatte? Falls ja, wer steckte dahinter? Die brennendste Frage lautete jedoch, lebten diese Menschen überhaupt noch? Nein, ich sollte mich korrigieren. Es handelte sich bei den verschwundenen Personen nicht nur um Menschen. Das war überraschend. Mehr noch, es war gruselig.

Schluckend legte ich die Zeitung beiseite.

Hatte meine Mutter das gemeint, als sie sagte, die momentanen Zustände der Stadt seien desolat und ich sollte bloß auf mich aufpassen?

Benommen und leicht abgelenkt stand ich auf, schlurfte zu meinem Herd, pikte in die Kartoffeln, setzte das Gemüse auf, panierte das Fleisch und legte die Schnitzel in den Tiegel. Die nächste halbe Stunde funktionierte ich eher wie ein Roboter. In Gedanken war ich viel zu sehr mit den aktuellen Ereignissen beschäftigt. Wussten die Binghams davon? Hatten sie mir das bewusst verschwiegen? Wie konnte man etwas aufhalten, was man nicht sah? Sofern das, was ich gesehen hatte – und mir nicht nur eingebildet – etwas mit den aktuellen Geschehnissen zu tun hatte.

Trotz meiner geistigen Ablenkung schaffte ich es, mein Essen nicht anbrennen zu lassen.

Verflixt! Ich sollte meinen Ruhetag doch nutzen, um mich zu verwöhnen und zu entspannen. Nicht, um zu grübeln. Deshalb verbot ich mir bis zum nächsten Morgen, an den Verbleib der vermissten Leute zu denken.

Ich hatte es übrigens inzwischen im Griff, mich nicht mehr heftig prustend an meinem Kaffee zu verschlucken, sobald Roman plötzlich vor mir stand und murmelte ihm ein wenig fröhliches ‚guten Morgen’ entgegen. Ich hatte mich gestern Abend förmlich an einem Buch – einem echten aus Papier! – aus dem späten 21. Jahrhundert festgesaugt und war erst gegen drei ins Bett getorkelt.

Kein Wunder, dass ich nicht sonderlich entgegenkommend oder euphorisch war, als der Vampir mich abholen wollte. „Schlechte Laune, Sam?“

„Müde.“ Er verharrte absolut regungslos, während ich den Rest meines Kaffees hinunterkippte, meine Turnschuhe anzog und mich zu ihm stellte. „Na los, auf nach Transsilvanien.“ Ganz so humorlos, wie uns die vampirische Gemeinde es vorspielte, waren wohl doch nicht alle Blutsauger. Denn das vibrierende Lachen fühlte ich sehr deutlich an Romans Brust. „Du hast gelacht.“, warf ich ihm vor, als er mich auf dem Übungsplatz aus seinen Armen entließ. „Das ist wahr. Ich verstehe nicht, wie die Menschen je auf die Idee gekommen sind, dass wir uns nur auf einem Teil der Welt beschränkt haben sollten.“ Ich knuffte ihm in die Seite und sah ihn gespielt böse an. „Hey, ruiniere nicht meine Illusionen! In Transsilvanien sind Vampire nämlich ganz anders.“ Roman zog seine Augenbraue in die Höhe und taxierte mich mit seinen unglaublich silbrig-blauen Augen. Seltsam, dass sie ab und an die Farbe wechselten. Manchmal hatten sie nämlich nicht den Hauch von Blau in sich.

Ach was, wahrscheinlich lag das nur am Licht.

„Anders?“ Ich nickte triumphierend. „Jawohl, anders. Sie sind romantisch, heldenhaft und sehr sexy. Und selbstaufopfernd.“ Romans Mundwinkel kräuselten sich unter einem zurückgehaltenen Lachen. „Du hast bis jetzt nur nicht die richtigen Bücher gelesen. In manchen werden sie nämlich durchaus als bestialische Mörder beschrieben.“ Ich stieß ihn in gespielter Empörung von mir. „Pah, du willst mir die Transsilvanier nur madig machen.“ Ich streckte ihm die Zunge heraus und ging in meine bevorzugte Ausgangsposition. „Na los, Vampir, verteidige dich.“, gab ich ihm mit zu mir winkenden Händen zu verstehen, räusperte mich aber schnell. „Nein, ich hab es mir anders überlegt. Bleib einfach regungslos stehen und lass dich von mir attackieren.“ Roman verneigte kaum merklich seinen Kopf, wobei er den Blickkontakt nicht abreißen ließ. „Wie du willst. Ich überlege mir inzwischen, womit ich dir deine vorwitzige Überheblichkeit austreiben kann.“ Pah, ich und überheblich!

Man wird doch wohl noch träumen dürfen!

Nach wenigen Stunden lief mir der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. Ich keuchte vor Anstrengung. Roman hatte die Spielregeln ein klein wenig geändert, so dass er nicht mehr reglos verharrte, sondern sich entgegen jeglicher Abmachung bewegte. Auch wenn sein Tempo an das eines Menschen angepasst war, war diese Herausforderung zuviel für mich. Ich verfehlte ihn immer wieder um mindestens eine Million Kilometer. Seine Anweisung, vorausschauend zu denken, half mir nicht weiter.

Ich war kein Hellseher!

Wenn ich dachte, er bewegte sich nach links, ging er nach rechts. Vermutete ich die andere Richtung, wich er wiederum in die entgegengesetzte aus. Es war zum Verzweifeln! „Sam, du solltest dich wirklich ein wenig mehr anstrengen. Noch bewege ich mich nicht annähernd schnell genug, als dass du schon aufgeben solltest. Gib dir mehr Mühe.“ Meine gedanklichen Verwünschungen hatte er, so wie er mich ansah, ganz sicher gehört. „Wenn du noch einmal in meiner Gegenwart fluchst, zeige ich dir, wozu ich fähig bin. Überlege dir das lieber zweimal, kleine Sam.“ Unbewusst zuckte ich zusammen. Kleine Sam. So hatte er mich genannt, als er… na ja, als er mich hatte tot sehen wollen. Er drohte mir also.

Dadurch fühlte ich mich auch nicht motivierter.

Eher verängstigt. Wieder mal. Denn ich wusste bereits, wozu er fähig war. Als ob ich das je vergessen könnte! Zwar hatten die Ker-Lon irgendetwas mit uns angestellt, so dass ich Roman nicht nachtrug, dass er in – sagen wir – einem Anfall von geistiger Umnachtung gehandelt und unzählige Leute auf dem Gewissen hatte, dennoch konnte ich es nicht vergessen. „Dann hör auf meine Gedanken zu lesen.“ Verflucht nochmal! „Das ist nicht möglich. Deine Gedanken sind viel zu laut und viel zu zielgerichtet, als dass ich sie ignorieren könnte.“, erwiderte er derart eisig, dass es mir kalt den Rücken hinunter lief. Vermutlich konnte ich auch deshalb nicht vorausschauend agieren, weil er genau wusste, was ich dachte und sich dann prompt für die entgegengesetzte Richtung entschied. Auf Deutsch: Er schummelte.

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, meinen bissigen, gedachten Kommentaren durch geballte Energie Ausdruck zu verleihen. Aber ich schaffte es kein einziges Mal, Roman auch nur ein Haar zu versengen. Meine Energie kam nicht einmal in seine Nähe. Noch nicht mal die Vorstellung, dass ich auf Alan zielte, half mir bei meinen kläglichen Versuchen.

Am Abend fühlte ich mich wie ein jämmerliches, klägliches Häufchen Elend.

Auch wenn ich das Roman gegenüber nicht erwähnte, war ich mir sicher, dass er sich meiner Frustration bewusst war. Nach meinem Aufenthalt in Spline nahm er mich wortlos in die Arme und teleportierte mich heim, wo er mich mit den Worten ‚Versuche deine Konzentration in den Griff zu bekommen‘ verließ. Die Frage war: Hatten meine gescheiterten Versuche wirklich etwas mit meiner Konzentration zu tun oder hatte ich es einfach nicht mehr im Griff, wohin sich meine Energie ausbreitete? Wie sollte ich mich auf ein Ziel konzentrieren, welches sich bewegte? Es wäre einfacher, würde meine Energie sich bewusst dahin bewegen, wo sie gebraucht wurde.

Blöderweise tat sie das nicht.

Fluchend schälte ich mich aus meinen Klamotten, stieg in eine heiße Wanne, weichte mich solange ein, bis meine Finger und Fußzehen komplett verschrumpelt waren, trocknete mich vor mich hin murmelnd ab, aß rasch etwas zum Abendbrot, sah ein wenig fern und fiel schließlich todmüde und desillusioniert ins Bett. Ich war nicht mehr annähernd so gut in Form wie vor meinem Unfall. Das war eine Tatsache, der ich ins Auge sehen musste. Aber war es auch eine Tatsache, die sich durch Übung wieder wettmachen ließ?

Ich vertraute darauf, dass Steward mit seiner Strategie richtig lag. Vielleicht sollte ich anfangen die ganze Sache nicht nur als hartes Training anzusehen, sondern das Unvermeidliche als Ansporn nehmen. Irgendwann würde Alans Rudel nämlich wieder Maßnahmen ergreifen, um mein Ableben zu beschleunigen. Auch wenn die sich vorübergehend zurückhielten. Hätte ich bis dahin meine Kräfte nicht im Griff, konnte das verflucht brenzlig werden. Und das war keine Anspielung auf meine zurzeit eher verkümmerten Fähigkeiten!

Die nächsten Tage ließ Roman mich lediglich an meiner Verteidigung arbeiten. Dass er dabei nicht anwesend sein musste, hatte einen großen Vorteil für mich. Ich konnte nämlich immer wieder mal probieren, ob ich nicht doch an meiner Treffsicherheit feilen könnte, ohne dass ich dabei einen Zuschauer hatte. Doch egal welchen Punkt ich in der Halle auch anvisierte, ich zielte meilenweit daneben.

Vielleicht war mein innerer Kompass im Eimer?

Ein Ziel derart weitläufig zu verfehlen, war nämlich für meine Begriffe schlichtweg unmöglich. Es war fast so, als ob man nach links abbiegen wollte, einen die Beine aber nach rechts trugen. Warum klappte dann aber meine Hand-Fuß-Koordination? Ich verstand es nicht.

Während ich trainierte und wegen meines Versagens kurz vor der Kapitulation stand, schweiften meine Gedanken zu den verschwundenen Personen ab, deren Anzahl von Tag zu Tag stieg. Ob ich Roman oder Steward darauf ansprechen sollte? Schließlich war ich mir sicher, eine dieser Entführungen beobachtet zu haben. Nun ... sonderlich viel hatte ich nicht gesehen. Aber genau das konnte schließlich ein Hinweis sein.

Oder nicht?

Eine kurze Pause einlegend, leerte ich meine Flasche und verschlang drei mitgebrachte Brötchen, die meinen Hunger nur wenig entgegenzusetzen hatten. Die nächsten Tage sollte ich Roman vielleicht einfach bitten meinen Kühlschrank herzubringen. Mein Magen knurrte immer noch das Klagelied der Heiligen Johanna, als ich schon längst wieder trainierte und Roman sich zu mir gesellte.

Eine weitere Woche verging, und ich näherte mich meinem absoluten Tiefpunkt, obwohl ich wenigstens hin und wieder einen Treffer verzeichnete. Dass ich nicht in Topform war, konnte ich nicht leugnen. Es von Roman jeden Tag auf die Nase gebunden zu bekommen, machte die Situation für mich nicht einfacher. Sein letzter Kommentar brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Wütend schleuderte ich ihm nicht nur einen oder zwei Sätze entgegen, die wenig schmeichelhaft waren, sondern auch einen derart von Wut und Rage beeinflussten Energieblitz, dass Roman mehrere Meter durch die Luft flog und benommen auf seinem Allerwertesten landete. Mir war klar, dass ich ihn nicht außer Gefecht gesetzt hatte.

Aber mir ging es verdammt nochmal besser.

Schnurstracks ging ich auf den Ausgang zu, stemmte mich gegen dessen Eisentür und trat ins Freie. Nur um mit ungläubigem Erstaunen festzustellen, dass sich der riesige Übungsplatz der Pir als Schuppen tarnte, der höchsten vier Quadratmeter groß war und sich in unmittelbarer Nähe von Alans Anwesen befand.

Fast hätte ich hysterisch gelacht.

Ob der allmächtige, allwissende und von sich überzeugte Alan wusste, dass die Pir seine Nachbarn waren? Vermutlich nicht.

Vor mich hin schimpfend stapfte ich drauf los Richtung Stadt. Immer am äußersten Rand der Straße, damit möglicherweise vorbeifahrende Autos mich nicht umfuhren. Sofern sie das Navigationsleitsystem der Straße nutzten. Was die meisten taten. Allmählich lief ich schneller, bis ich schlussendlich rannte. Weil ich auf keinem Fall einem aus Alans Rudel begegnen wollte. Außerdem trug ich wie immer keine Jacke und es war doch ziemlich kalt.

Äh…, eigentlich sogar saukalt.

Besonders in Anbetracht des Umstandes, dass ich während des Trainings wie immer geschwitzt hatte. Wenigstens waren die Straßen schnee- und eisfrei, auch wenn der Rest der Landschaft noch immer in pudriges Weiß gehüllt war. Es hätte wahrscheinlich prima zu meiner miesen Stimmung gepasst, wenn es mich der Länge nach hingeschmissen hätte.

Gott, war ich sauer!

Nur langsam drosselte ich mein Tempo, als ich endlich in der Stadt ankam. Zu blöd, dass ich kein Geld dabei hatte. Und auch keine EC- oder Kreditkarte. Mir war nach einem Frusteinkauf. Außerdem einem riesigen Eisbecher oder gleich mehreren.

Und neuen Klamotten.

Und Alkohol.

Dass es bereits dunkel war, störte mich nicht. Solange mir nicht irgendwelche unsichtbaren Monster auflauerten, die arglose Leute entführten, konnte mich bei meiner jetzigen Laune noch nicht mal ein Bulldozer aufhalten. Auf meinem Weg in die Stadt hatte ich eine ordentliche Menge Energie aus den umliegenden Leitungen gezogen. Für diejenigen, die daher ihren Strom bezogen, bedeutete das aber nicht mehr als ein kurzes Flackern des Lichtes.

Inzwischen lief ich nicht mehr sehr schnell. Viel eher konnte man mein Laufen als harmloses Dahinschwandronieren bezeichnen. Ich hoffte, dass mich die kalte, klare Luft, die meinen Atem in Form von kleinen, weißen Wölkchen abzeichnete, etwas beruhigte.

Tief ein- und ausatmend, meine Hände in den Hosentaschen vergraben, schlenderte ich durch die Innenstadt, in der auffallend wenige Leute unterwegs waren. Entweder, weil die sich nicht den Arsch abfrieren wollten oder weil sie Angst hatten. Meinen Kopf in der eiskalten Februarluft auskühlend und in Selbstmitleid schwelgend, war ich derart überrascht, plötzlich an der Hauswand zu kleben, dass mein Herz vor Schreck aussetzte. Zähne schabten über meinen Hals und ein tiefes Knurren ließ vermuten, dass der Vampir, der hinter mir stand, alles andere als gut gelaunt war.

Ganz im Gegenteil.

Vermutlich hatte ihn mein unerwarteter Angriff ziemlich gereizt. Verfluchter Kackmist, ich konnte Roman nicht einordnen! „Verlass. Nie wieder. Das Training.“ War er wirklich wütend oder wollte er mir nur aus Spaß ein wenig Angst einjagen?

Denn die hatte ich!

Ich war wie gelähmt, als er mich noch stärker gegen die Wand presste. „Ich weiß, dass du die Energie benutzen kannst. Warum tust du es nicht? Wehr dich.“ Nur ein Flüstern. Kälter als die Luft um mich herum. Ganz im Gegensatz zu Romans Körper, der an meinem Rücken brannte. Seine Hände griffen so fest zu, dass ich dachte, meine Handgelenke würden jeden Moment brechen. Aber ich war wie erstarrt; unfähig etwas zu tun. Meine Angst blockierte alles, was ich in den letzten Tagen so hart erarbeitet hatte.

Selbst meine Stimme verweigerte mir den Dienst.

„War das schon alles? Mehr hast du mir nicht entgegenzusetzen?“ Seine eisige Stimme vibrierte in jeder meiner Nervenbahnen und machte mich unfähig, etwas anderes zu empfinden als pure Panik. Nur leider blieben das Adrenalin und der Wille zu Überleben aus. Als hätte Roman einen Schalter umgelegt, der aus mir ein bibberndes Häufchen Armseligkeit machte. Noch nicht mal Wut konnte ich empfinden. „Hey Roman, seit wann arbeitest du deine Mädchen selbst ein? Kleiner Tipp, sie mag es von hinten.“

Diese Stimme würde ich unter tausenden erkennen!

Ein wütender Funke fauchte flackernd in mir auf, erstarb aber sofort, als Roman leise lachte. „Das hier ist privat, Alan. Verzieh dich!“ Ich hörte, wie das Oberarschloch der Gestaltwandler, der sich wirklich keinen besseren Moment zum Auftauchen hätte aussuchen können, hämisch schnaubend weiterging. Dabei begegnete ich diesem Kotzbrocken sonst nie persönlich in der Stadt.

Super Timing, echt!

Das hielt Roman jedoch nicht davon ab, mich immer noch gegen die Wand zu quetschen. „So, du magst es also von hinten, hm? Ich dachte, du seist mehr der Typ, der die Missionarsstellung bevorzugt.“ Okaaay, allmählich regte sich doch etwas in mir, dass einer Wut ziemlich nahe kam. Und was meinte Alan mit: Mädchen einarbeiten? Ich ruckelte an meinen Handgelenken, die unter Romans festem Griff langsam zermalmt wurden. „Lass mich los!“ Wow, was war denn mit meiner Stimme passiert? Ein Mäuschen konnte lauter piepsen. Kein Wunder, dass Roman nur lachte. „Komm schon, streng dich an. Ich weiß, dass du mehr drauf hast.“ Ein Schauer durchfuhr mich, als ich Romans Zunge an meinem Hals spürte. Gefolgt von seinen Zähnen. Mein Herz raste schneller als der E-Transit – die angeblich schnellste Bahn der Welt – was Roman sicher hörte. Gleichzeitig fühlte sich das, was er mit seinen Fängen anstellte, erstaunlich gut an.

Oh je, ich war krank, wenn mich sowas antörnte.

„Hm, jetzt riechst du genauso, wie ich mir mein Abendessen vorstelle.“ Sein was?

Oh bitte, ohne mich!

Endlich schaffte ich es auf, meine Reserven zuzugreifen und sah, wie sich weiße Energiefäden um meine Arme schlängelten. Augenblicklich ließ Roman los. „Interessant. Die Aussicht, von mir genommen zu werden ist für dich also weniger abstoßend als die Möglichkeit als Appetithäppchen zu enden. Beim nächsten Mal musst du dich allerdings mehr anstrengen. Das bisschen Energie hält mich nicht auf. Das müsste selbst dir klar sein.“ Ich wollte etwas erwidern, aber Roman war schon verschwunden. Dass ich immer noch wie Espenlaub zitterte, machte mir bewusst, wie wenig ich ihm entgegenzusetzen hatte. Solange ich mich von ihm einschüchtern ließ.

Roman war gefährlich.

Dass er sich bereit erklärt hatte mit mir zu trainieren – aus welchen Gründen auch immer – tat dabei nichts zur Sache. Und dass ausgerechnet Alan unser kleines Intermezzo beobachtet hatte… nun, es gab Schlimmeres.

Zum Beispiel den Gedanken zu verfolgen, dass ich, wenn ich ehrlich zu mir war, unbegreiflicherweise wirklich nichts gegen ein wenig schweißtreibende Akrobatik mit Roman einzuwenden gehabt hätte. Aber war das nicht genau das, was Vampire derart gefährlich machte? Und Alans Anspielung? Was bedeutete die? War Roman ein Zuhälter? Irgendwie konnte ich ihn mir nicht in dieser Profession vorstellen. Außerdem hätte ich schon mal was davon gehört. Steward hätte es mir gesagt. Oder Vine. Wenn ich je danach gefragt hätte!

Stirnrunzelnd erinnerte ich mich, dass einiges über Bingham Junior gemunkelt wurde, doch keiner traute sich, offen darüber zu reden. Von Mafia über Kredithai über gefährliche, sexuelle Vorlieben bis Zuhälter waren einige Andeutungen gefallen. Aber konnten die tatsächlich stimmen? Schwer vorstellbar – wenn man lediglich Romans Äußeres betrachtete. Doch als Vampir? Mit mir selbst hadernd sah ich zu, dass ich schleunigst heim und in meine Wohnung kam. Mir war nämlich kalt.

Saukalt.

Könnte an der fehlenden Jacke liegen.

Bloß gut, dass ich mir als movere keine Sorgen um eine Erkältung machen musste. An der Tür stellte ich erstaunt fest, dass mein Schlüssel nicht mehr zu gebrauchen war. Er war geschmolzen, wohingegen meine Jeans intakt war und nicht mal einen winzigen Rußfleck aufwies. Wann zum Geier war das denn passiert? Stöhnend öffnete ich die Tür mit Hilfe meiner movere-Gabe.

Unbewusst.

Und ohne, dass ich geübt hatte. Umso erfreuter war ich, als mir das bewusst wurde. Denn das hieß, dass zumindest diese Fähigkeiten nach dem Unfall nicht gelitten hatten. Wenn ich sie intuitiv einsetzen konnte, schaffte ich es auch, sie bewusst zu aktivieren. Während ich mich nur wenig später in herrlich warmem Badewasser aalte, probierte ich das immer wieder. Ich konzentrierte mich auf sämtliche Türen und Schlösser und scannte meine Wohnung nach imaginären Eindringlingen. Ich fand lediglich zwei Fliegen. Sogar das Licht, was eigentlich auf akustische Geräusche reagierte, konnte ich manipulieren. Wow, also das war es doch beinah wert von Roman angegriffen worden zu sein.

Auch wenn ich nach wie vor nicht wusste, ob er Ernst gemacht hätte.

Vermutlich nicht.

Denn wir beide wussten, dass ich ihm – egal, welche Fähigkeit ich auch anwandte – nicht gewachsen war. Trotzdem, der Zweifel nagte an mir und ließ sich auch nicht durch logische Argumente dezimieren. Besonders in Anbetracht meiner Panik, die leider viel zu echt gewesen war.

Es wunderte mich, dass Roman am nächsten Morgen nicht auftauchte. Es passte nicht zu seiner gestrigen Andeutung. Vielleicht war ihm auch klar geworden, dass ich es ernst gemeint hatte.

Jawohl und jeden Moment würden Kühe vom Himmel fallen und mir ein Ständchen bringen.

Schnaubend leerte ich meinen Kaffee, räumte rasch etwas auf und griff zum Telefon, um meine Mutter anzurufen. Wir plauderten eine Weile. Sie machte mir den spontanen Vorschlag, dass ich zum Mittag vorbei kommen könnte. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, stimmte ich begeistert zu. Ihre Ermahnung vorsichtig zu sein, überhörte ich bewusst. Wahrscheinlich, um mir meine Sorge nicht anmerken zu lassen. Nicht, weil ich selbst verschwinden könnte. Aber was war mit meiner Familie? Im Gegensatz zu mir waren sie gegen Magie nicht gefeit.

Ach was, beruhigte ich mich, warum soll es ausgerechnet meine Familie betreffen? Hat mir das Schicksal nicht schon genug mitgespielt? Zu gern würde ich glauben, dass es nicht abermals schlimmer werden konnte. Doch ich wusste es besser. Hoffentlich hatte wenigstens dieses Mal das Schicksal ein Einsehen und verschonte alle, die mir nahe standen.

Pünktlich zum Mittag traf ich bei meinen Eltern ein. Meine bodenständige Mutter verhätschelte und bemutterte mich. Ich kam mir wie ein unreifes Kleinkind vor. Es machte mir einmal mehr bewusst, wie sehr sowohl sie als auch mein Vater durch meinen Unfall gelitten hatten. Demzufolge schluckte ich meine mir auf der Zunge liegenden Bemerkungen hinunter. Ließ sie gewähren. Auch wenn ich es übertrieben fand, dass meine Mutter mir das Fleisch klein schnitt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mir angeboten hätte mich zu füttern. Was sie Gott sei Dank versäumte.

In der gesamten Zeit, seitdem ich aus dem Koma aufgewacht war, hatten sie das Thema, wie es überhaupt zu dem Unfall gekommen war, gemieden. Allmählich kam ich zu der Vermutung, dass sie davon ausgingen, ich hätte versucht mir das Leben zu nehmen. Wegen Alan. Nun, irgendwie hing dieser seltsame Unfall schon mit ihm zusammen. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich das meinen Eltern gegenüber erwähnen sollte.

Hatte das Rudel eigentlich immer noch die Absicht, mich von der Erde zu tilgen?

Gestern Abend schien Alan jedenfalls nicht erpicht darauf gewesen zu sein.

Ob das an Romans Anwesenheit gelegen hatte? Gleichwohl schien ihm die Aussicht, dass ich mich mit einem anderen Mann amüsieren könnte – Betonung auf könnte – keinen Stich ins Herz zu versetzen. Selbst wenn es sich bei meinem vermeintlichen Techtelmechtel mit Roman ganz sicher nicht um irgendeine Art von Vergnügen handelte.

„Schatz, hörst du uns überhaupt zu?“ Fragend schaute mein Vater mich an. Meine Mutter seufzte hörbar; und ich kniff beschämt meine Lippen zusammen. „Zu Ostern sind wir bei Ronny eingeladen. Dorothy wird 2. Du denkst doch daran?“ Ich nickte schnell. Um meinem Vater zu zeigen, dass ich zuhörte. Mein Gott, Dorothy wird schon zwei? Ich hatte so vieles verpasst, dass es mir manchmal schwer ums Herz wurde. Leider interpretierte meine Mutter mein tiefes Einatmen anderweitig. „Nun hör endlich auf, diesem elenden Herzensbrecher hinterher zu trauern, und fang wieder an zu leben!“ Oha, meine Mutter war wütend. „Mamilein, ich seufze nicht wegen wem auch immer. Ich habe nur gedacht, dass ich ganz schön viel verpasst habe. Und um euch irgendwelche Verdachtsmomente aus dem Kopf zu schlagen, ich habe nicht versucht, mich umzubringen. Ich weiß nach wie vor nicht, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Aber ganz sicher nicht, weil ich ohne diesen Blödmann nicht mehr leben kann oder will.“ Mein Vater nickte und schaute bestätigend zu meiner Mutter. Ob das eine Geste war, die mir sagte, dass er das ebenfalls nicht geglaubt hatte oder ob beide es nicht geglaubt hatten oder ob es heißen sollte, ‚sie versucht, es zu ignorieren’, konnte und wollte ich nicht herausfinden.

Ich hatte gesagt, was meiner Meinung nach schon zu lang zwischen uns stand.

„Ich weiß gar nicht, was ich der kleinen Maus schenken soll.“, brachte ich das Gespräch wieder auf das Wesentliche. Beide machten mir brauchbare Vorschläge, wovon ich mir zwei herauspickte. Und was wäre ich für eine Tante, wenn ich nicht auch für Bethany und meine anderen zwei Nichten etwas kaufen würde?

Genau: eine furchtbare Tante.

Aber bis Ostern waren es noch gut sieben Wochen. Ob die großen Mädchen von Henrik, meinem älteren Bruder, auch noch etwas suchen wollten? Oder war es denen lieber, wenn ich ihnen einen Geldschein in die Hand drückte? Große Güte, wie alt waren die denn jetzt? Bei meiner plötzlichen Erkenntnis, dass Henriks älteste fast 18 war, wurde mir schlecht. Die Zeit raste dahin; rieselte mir durch die Finger wie feiner Sand. Ok, Geldscheine wären bei denen wirklich angebrachter. „Ihr habt nur Enkelinnen.“, stellte ich fest, was mir ein Schmunzeln seitens meiner Mutter einbrachte. „Naja, den Enkel wirst du uns schenken müssen.“ Hmhm… wenn sie das glaubt ...

Ich lächelte lediglich, was mir ein Augenzwinkern meines Vaters einbrachte. Wir wussten beide, dass meine Mutter Widerworte nur selten duldete. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, schon gar nicht. Als ob ich ihr ohne weiteres einen Enkel schenken könnte. Oder eine Enkelin. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich überhaupt Kinder wollte. Das allerdings zog meine Mutter als Überlegung überhaupt nicht in Betracht.

Nun, früher oder später würde sie das schon herausfinden.

Homo sapiens movere ~ gebrochen

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