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Die Quintessenz spürte ich am nächsten Morgen. Die Nacht war reichlich kurz gewesen. Als ich aufwachte, war mein Kopf zwar nicht sonderlich schwer oder meine Erinnerungen lückenhaft, aber meine Augen konnte ich trotzdem nur mit Mühe öffnen. Am liebsten hätte ich den Wecker gegen die Wand geworfen und mich zurück in mein Bett gekuschelt. Sofern ich das erste Klingeln nicht überhört hatte, hatte ich etwa zwei Stunden geschlafen. Ob es meiner Mutter wohl auffiel, wenn ich mir Streichhölzer in die Augen steckte, um diese offen zu halten?

Schätzungsweise … ja.

Wie war ich nur auf die blöde Idee gekommen, mich bei meinen Eltern einzuladen, obwohl ich wusste, dass ein Frauenabend ganz schön lang dauern konnte?

Ich sollte absagen.

Müde schlurfte ich ins Bad, beäugte die Dusche, winkte ab, warf mir kaltes Wasser ins Gesicht, putzte meine Zähne, kämmte meine Haare und streckte meinem höllisch attraktiven Spiegelbild – sofern man auf Zombies stand – die Zunge heraus. Etwas munterer, aber bei weitem noch nicht munter genug, schlurfte ich zurück ins Schlafzimmer. Dort pellte ich mich antriebslos aus meinem Schlafshirt, schlüpfte mit halb geschlossenen Augen in meine Klamotten und wäre um ein Haar panisch kreischend unter mein Bett gekrochen.

Nicht nur wegen meiner Müdigkeit hielt sich meine Begeisterung, Roman mit verschränkten Armen vor mir stehen zu sehen, in Grenzen. „Mein Vater will mit uns beiden sprechen. Ich bin hier, um dich abzuholen.“, erläuterte er überaus erhaben. Dass ich beinah einen Herzinfarkt bekommen hätte, war ihm schnurzpiepegal.

Mir aber nicht, verdammt nochmal!

„Es hätte gereicht, wenn Steward mich anruft. Ich finde auch allein zu seinem Anwesen.“ Nachdem ich bei meiner Mutter abgesagt hätte. „Wie lange stehst du schon hier?“ Roman zeigte keine Regung. „Lang genug.“ Einfach fantastisch. Das hieß, ich hatte einen Strip vor ihm hingelegt.

Einen ziemlich bemitleidenswerten.

Eine Gänsehaut rieselte über meinen Rücken. Roman stand nur zwei Meter von mir entfernt. Unbeweglich wie eine Statue. Atmete er überhaupt? Schluckend wich ich ein Stück zurück. „Äh… danke fürs Bescheid geben. Ich beeile mich.“ Roman machte keinerlei Anstalten zu verschwinden. Zu gern hätte ich ihn mit einem husch, husch und wedelnden Händen dazu animiert. Aber meine Angst überwog. Konnte er mein Herz hämmern hören? „Können wir?“

Was?

„Ich… äh… brauche noch eine Weile. Ich fahre mit dem Auto. Es gibt also keinen Grund für dich, auf mich zu warten.“ Ich atmete erleichtert aus, als Roman sich in Luft auflöste und ging rasch in meine Küche. Nur, um dort ein fiependes Geräusch von mir zu geben.

Roman stand vor meinem Kühlschrank. Wenn ich mir einen Kaffee ansetzen wollte, müsste ich ihm den Rücken zukehren. Keine gute Idee. Warum verschwand er nicht? Dachte er, ich würde Steward versetzen? „Willst du nicht… verpuffen und deinem Vater Bescheid sagen, dass ich mich beeile?“

Abgesehen von einer dezent angehobenen Augenbraue und seinem Mund, der mir mitteilte, dass er warten würde, bewegte sich Roman keinen Millimeter. Na schön! Er sollte bloß nicht denken, dass ich Angst vor ihm hatte.

Pah!

Selbstsicher lief ich durch die Küche – mit ängstlichem Herzrasen, das in meinem Hals stattfand – füllte Wasser in die Kaffeemaschine, legte den Tab ein und schaltete die Maschine an. Anschließend angelte ich mir eine Schüssel aus dem Schrank. In die kippte ich Cornflakes, die ich sofort mit Milch ertränkte. Die Stille, die mich umgab, wurde nur unterbrochen vom Gluckern der Tassimo und dem knuspernden Geräusch der Cornflakes, die ich mir in den Mund schob. In Romans Gegenwart zu essen war, gelinde ausgedrückt, dem Gefühl einer Henkersmahlzeit gleichzusetzen. Kein Wunder, dass die Dinger in meinem Mund immer mehr wurden.

Noch während ich kaute, griff ich nach der inzwischen gefüllten Tasse. Leider, ohne zu bemerken, dass Roman näher kam. Absolut lautlos. Wie der Jäger, der er war.

Verdammt!

Ich hätte ihn im Auge behalten sollen. Ich konnte ein Zusammenzucken nicht vermeiden, als sich seine Hände neben mir abstützen, womit er mich zwischen sich und der Anrichte einkesselte. Mein Rücken wenige Zentimeter von seiner Brust entfernt. Ich getraute mich nicht, nach meiner Tasse zu greifen – meine Finger stoppten wenige Zentimeter davor – oder mir gar einen weiteren Löffel der Cornflakes in den Mund zu schieben. So sehr wie ich zitterte, würde ich die Hälfe verschütten. Er berührte mich nicht, aber seine tödliche Ausstrahlung fühlte ich trotz allem.

Sehr intensiv.

„Gestern Abend warst du mutiger. Kastrieren, Beißerchen ziehen und grillen, hm? Eine interessante Drohung.“ Hatte ich das wirklich gesagt?

Himmel!

Mir war übel.

„Das war eine Kurzschlussreaktion.“ Romans Finger fuhren ganz leicht über meinen rechten Arm nach oben, was mich in tausend Ängsten schaudern ließ. Seine Hand blieb nicht liegen. Elegant und fest genug, um meine Panik weiter zu schüren, schlang er sie um meinen Hals. Drückte mich an seine unnachgiebige Brust. „Ich lasse mir ungern drohen.“ Seiner Stimme fehlte jegliche Modulation. Eiskalt und bar jedes Gefühls.

Sollte ich jetzt versuchen meine Fähigkeiten zu aktivieren, wäre ich schneller tot, als ich Muh sagen könnte.

Also hielt ich still und betete, dass er sich rechtzeitig besann. Eben noch hing er mir an der Gurgel, im nächsten Moment stand er wieder mit einigem Abstand hinter mir. „Werde fertig. Ich habe noch andere Dinge zu tun.“ Ich tröstete mich damit, dass ich nach erfolgreichem Abschluss von Stewards Auftrag nie wieder mit einem Vampir zu tun haben würde. Ich schüttete meinen Kaffee hinunter, sagte meiner Mutter ab und ballte die Hände zu Fäusten, als Roman auf mich zukam, in seine Arme zog und zu seinem Vater teleportierte.

Möglicherweise hätte ich nicht davon ausgehen sollen, dass Bingham wegen des Auftrags mit mir sprechen wollte. Denn dazu war Romans Anwesenheit nicht notwendig. Allerdings legte Steward sehr großen Wert darauf, dass sein Sohn bei unserer kleinen Besprechung anwesend war. „Samantha, es ist schön, dich zu sehen. Was machen deine Fähigkeiten?“ Meine…, äh… ja, was sollte ich ihm sagen? „Ich fürchte, das wird noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen. Ich habe sie noch nicht unter Kontrolle.“ Eigentlich war das gelogen, denn ich hatte einfach nicht den Mut sie einzusetzen. Ebenso, wie mir bisher der Mut fehlte, mich erneut auf ein Motorrad zu setzen. Meine Lady hatte mittelschwere Schäden genommen und stand in einer Werkstatt. Darauf wartend, dass ich einen Auftrag erteilte. „Du solltest daran arbeiten, Samantha.“, tadelte mich Steward. Ich zuckte zusammen.

Hatte er meine Gedanken gelesen?

Sein Gesicht verriet mir nichts dergleichen. Dennoch lag es im Bereich des Möglichen. Obwohl ich sein Blut in mir hatte, hieß das lediglich, dass ich von keinem Vampir mehr manipuliert werden konnte. Das Ausspionieren meiner Gedanken schloss das eventuell nicht unmittelbar ein. „Ich möchte, dass du mit Roman trainierst. Wie dir bekannt ist, hat auch er einige neu erworbene Fähigkeiten. Es könnte durchaus von Vorteil sein, wenn ihr zwei das zu euren Gunsten ausnutzt.“ Mit Roman üben? Na aber sicher doch! Frei nach dem Motto: Tretet dem Menschlein ordentlich in den Hintern? Nee, oder? Wie stand denn Roman dazu? Aus den Augenwinkeln versuchte ich, etwas auf dessen Gesicht zu erkennen. Aber falls er eine Meinung dazu hatte, trug er sie nicht offen zur Schau. „Er ist, wie wir alle wissen, der Einzige, der von deinen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt wird. Du kannst ihm also auf keinen Fall schaden.“ Ja, ich ihm nicht.

Aber er mir durchaus!

Das Risiko wollte ich keineswegs eingehen.

Auf der anderen Seite hatte ich natürlich kaum eine andere Wahl. Wessen Chakren sollte ich lesen, wenn ich allein übte? Die meines Teppichbelags? Wohl kaum. Trotzdem; Roman als Sparringpartner? Da konnte ich mich auch gleich in ein Messer meiner Wahl stürzen.

Natürlich verstand ich Stewards Ambitionen. Er wollte sein Eigentum zurück und ich würde ihm das nur als movere besorgen können. Also erst dann, wenn ich meine Fähigkeiten wieder beherrschte.

Darum stimmte ich zu.

Nur darum.

Steward zuliebe.

Nicht, weil ich nach Romans Gegenwart lechzte. Genauso gut könnte ich mir eine Flasche Batteriesäure einverleiben. Mit einem Schmunzeln und der Bitte um Nachschlag.

„Gut. Wenn du soweit bist…“, Steward sah stirnrunzelnd auf meine guten Jeans und den dunkelroten Rollkragenpullover, „… wird Roman dich zum Übungsplatz bringen.“ Hmhm, ich werde mir, auf deutsch gesagt, den Arsch abfrieren. „Es wäre sicher besser, wenn ich mich vorher umziehe.“, gab ich zu bedenken, denn die Aussicht auf einen abgefrorenen Hintern war in etwa so unerwünscht, wie die Befürchtung meinen Pullover zu flambieren. Oder meine Jeans. Die waren zwar nicht auffallend teuer gewesen, aber ihre Passform war erstklassig. Roman nickte seinem Vater zu, der uns Hand wedelnd entließ, riss mich in seine Arme und ehe ich mich versah, stand ich in meiner Schlafstube. Roman vor mir; mich mit seinen silbrig-blauen Augen fixierend.

„Könntest du dich umdrehen? Bitte?“ Man, so viel Anstand könnte er doch von allein besitzen. In Windeseile wechselte ich meine Klamotten, zog mir ein paar alte Jeans an. Die konnte ruhig ein paar Brandflecke abbekommen. Außerdem ein Shirt und einen dickeren Pullover. Als ich meine Jacke holen wollte, lehnte Roman rigoros ab. „Brauchst du nicht. Wir benutzen den Übungsplatz der Pir.“ Das klang in meinen Ohren wenig überzeugend. Vor allem das Wort Pir hielt meinen Jubel in Grenzen. Doch bevor ich protestieren konnte, klebte ich erneut an Romans Brust.

Nur einen Moment später standen wir in einer riesigen, überdachten Halle, in der locker fünf Fußballfelder Platz fänden. Obendrein war sie bestimmt so hoch wie ein Zehngeschosser. Das Ding war mir von außen noch nie aufgefallen. Ein Gebäude mit diesen Ausmaßen müsste das. Es sei denn, die Vampire benutzen Magie zur Tarnung. Oder dieser Übungsplatz, der anheimelnd wohlig temperiert war, befand sich nicht in der Stadt. Hm… Magie. Eindeutig. Ich spürte sie. Wenn ich mir Mühe gäbe, könnte ich sie vermutlich auch sehen.

Mit offenem Mund sah ich mich um. Mehrere Minuten lang. Bis ich mich entsann, warum ich hier war. Und mit wem. Roman stand inzwischen bestimmt 50 Meter von mir entfernt. Dennoch konnte ich mich gegen meine aufkommende Furcht nicht wehren. Gegenüber Roman war ich schutzlos wie ein neugeborenes Baby. Ich traute ihm nicht weiter, als ich ihn werfen konnte – das dürfte nicht allzu weit sein.

Mein Herz klopfte unbarmherzig fest und schnell gegen meine Rippen.

Ich bin allein mit Roman!

Einem Vampir, der mir noch vor kurzem nach dem Leben getrachtet hatte. Die Magie der Ker-Lon mochte Großartiges bewerkstelligen können, aber wohl fühlte ich mich in seiner Gegenwart kein bisschen. Meine Angst überwältigte mich bei der Erkenntnis, dass es ihn keinerlei Anstrengung kosten dürfte, mein letztes Stündlein einzuleiten. Unbewusst ging ich rückwärts, weiter von ihm weg und – um präzise zu sein – genau dahin, wo ich den Ausgang vermutete. Doch unvermittelt stand Roman vor mir. Obwohl er bis eben so weit von mir weg gewesen war. Ich erschrak derart heftig, dass ich auf die Knie sank.

Was für eine absurde Reaktion!

Wegzurennen wäre allerdings ebenso absurd und obendrein dämlich gewesen. „Was willst du?“, spie ich ihm giftig entgegen, um meine eigene Angst zu überspielen. Ganz sicher wollte er nicht nur mit mir trainieren. Spielen käme seiner Auffassung des Ganzen bestimmt näher. Er kam noch dichter an mich heran und hockte sich vor mich. Seine Ellenbogen auf den Knien, die Hände ineinander verschränkt. „Dir helfen. Du bist wie eine kleine Schwester für mich, Sam. Ich mag es nicht, wenn du hilflos bist.“ Wirklich? Warum jagst du mir dann ständig Angst ein? „Tue ich das?“ Galant stand Roman auf, drehte sich um und lief ein Stück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mein Herz raste derart heftig, als würde es ein Wettrennen mit einem ICE veranstalten. Und gewinnen! Rückwärts krabbelte ich von ihm weg, bis ich mit der Schulter gegen die Wand stieß. Die war näher gewesen als vermutet.

Zu fliehen war keine Option. Das wusste ich aus Erfahrung. „Kannst du meine Gedanken lesen?“ Eine überflüssige Frage. Dennoch nickte Roman kaum sichtbar und drehte sich dann in Vampirmanier um. Erst neigte er den Kopf zur Seite, dann drehte er den Kopf so, dass er mich ansehen konnte. Erst danach folgte ihm sein restlicher Körper, wobei seine Augen strikt auf mich gerichtet waren. Ok, zumindest war ich mir darüber jetzt im Klaren: Er las mühelos meine Gedanken. Aber beeinflussen konnte er mich nicht.

Oder doch?

Ohne Eile kam er auf mich zu und streckte seine Hand nach mir aus, was mich zurückzucken ließ. „Ich tue dir nicht weh, Sam.“ Sagte das Raubwesen. Hielt er mich für blöd? Sein rechter Mundwinkel hob sich dezent. Seine Augen blieben unbewegt. Ehe ich mich entscheiden konnte, hatte er mein Handgelenk umfasst und zog mich auf die Beine. „Komm schon, Sam. Seit dem Unfall bist du nicht mehr du selbst. Hast du das nicht satt? Oh, warte… eigentlich bist du schon so, seitdem Alan dir den Laufpass gegeben hat.“

Du arrogantes… pah!

Ehe ich verstand, was Roman damit bezweckte, knisterte Energie auf meinen Händen und bildete kleine, weiße Lichtbögen, die sich wie Seile nach ihm ausstreckten. Noch nicht annähernd gefährlich genug, aber immerhin vorhanden. Oh Scheiße. Wenn mir das unbewusst passierte, nur weil ich aufgebracht war…

Mich beruhigend schloss ich die Augen. „Ein Anfang, Sam. Lass uns beginnen.“

„Du hast das absichtlich gemacht?“ Roman hob erneut dezent eine Augenbraue in die Höhe. „Natürlich. Ihr Menschen lasst euch viel zu sehr von euren Gefühlen leiten.“ Ach, durchgeknallte Briam-Vampire nicht? Ein leises Lachen hallte über den riesigen Platz, der mich an einen Turnierplatz des Mittelalters erinnerte. Es fehlten nur ein paar Pferde… und ein paar Sklaven… ein bisschen Blut. Vielleicht noch ein paar Löwen.

„Nun, in manchen Dingen schon. Aber im Allgemeinen nutzen wir die Gefühle anderer zu unserem Vorteil.“ Ich verstand durchaus, was er meinte. Lust zum Beispiel. Ein willkommenes Lockmittel, um geeignete Blutspender zu finden. „Sehr schön, du hast es begriffen. Und jetzt komm, greif mich an. Ich bin ein böser Vampir, der dich möglicherweise als Vorspeise betrachtet.“ Nur als Vorspeise? Hah, ich bin mindestens ein Hauptgang!

Sein leises Lachen frustrierte mich und erneut kroch die Energie über meine Haut. Leider zu schwach, als dass ich Roman damit auch nur hätte kitzeln können. „Konzentrier dich, Sam!“

Gut.

Konzentration.

Das konnte ich.

Tief einatmend schloss ich die Augen und öffnete mich für meine Fähigkeiten als movere. Doch als ich meine Augen aufmachte und versuchte Romans Energiepunkte zu benennen, fand ich nichts. Eine absolute, vollkommene Schwärze anstatt unzähliger, leuchtender, verstreuter Punkte. Keuchend zog ich die Möglichkeit in Betracht, dass mir meine Gabe abhandengekommen war, bis mir einfiel, dass ich seine Chakren – seit seinem Rachekreuzzug – nie hatte erkennen können. „Sam, Sam.“, tadelte mich Roman, „Du solltest zuerst deine Seite als Saphi aktivieren. Meine Chakren kannst du später immer noch studieren.“

Entmutigt schüttelte ich den Kopf. Wie hatte ich das nur vergessen können? „Aber du hast keine.“ Roman bewegte sich so schnell, dass ich ihm mit den Augen nicht folgen konnte. Plötzlich stand er hinter mir. Seine Arme fest um meine Schultern gelegt. „Ich habe sie versteckt. Du kannst später spielen. Jetzt zeig mir endlich, dass du dich gegen mich verteidigen kannst.“

Genau, gegen ihn!

Steward hatte mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass Roman das einzige Lebewesen war – zumindest kannte ich bis jetzt kein anderes – das meinen Fähigkeiten gegenüber immun war. Trotzdem hatte ich angenommen, dass ich meine movere-Gabe üben sollte. Die der Saphi brauchte ich nämlich im Allgemeinen nicht, wenn ich einen Auftrag erfüllte. Und das Training diente doch diesem Zwecke, oder? Hatte Steward Angst, dass ich den Auftrag vermasselte, wenn ich meine Fähigkeiten – die der Saphi und der movere – nicht beide unter Kontrolle hatte? Es wäre zumindest denkbar. Ich hatte kein Vertrauen in mich, was diese Angelegenheit betraf.

Wie sollte also Steward Vertrauen in mich haben?

Das Training dauerte Stunden. Gefühlte Wochen; wenn nicht sogar Monate. Hinterher war ich derartig ausgepowert, dass ich kaum noch allein stehen konnte. Dabei waren zwei Dinge ziemlich Besorgnis erregend. Erstens: Meine Treffsicherheit war gleich Null. Obwohl Roman sich keinen Millimeter bewegt hatte. Zweitens: Meine Energiereserven waren aufgebraucht. Komplett. Und was das bedeutete, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Ich würde der Stadt jeglichen Saft abzapfen, wenn ich mir nicht schleunigst ins Gedächtnis rief, was Humphrey mir beigebracht hatte. Nur zu gut erinnerte ich mich an die von mir erledigten Taschenlampen; kurz nachdem ich das erste Mal aus Spline zurückgekommen war. Und zu diesem Zeitpunkt war ich trunken von Magie. Jetzt jedoch war ich vollkommen leer. Auf Alan konnte ich mich auch nicht mehr verlassen.

Kein Humphrey.

Kein Alan.

Nur die Gewissheit, dass ich es allein durchstehen musste. Schon kurz nach dieser Feststellung fühlte ich, wie ich sämtliche in meiner Nähe befindliche Energie anzog. „Falls die Magie, die ich hier fühle, das Gebäude tarnt, solltest du mich sehr schnell woanders hinbringen. Am besten an einen Ort, an dem ich auftanken kann.“, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Der Drang, mich sofort und ohne Zurückhaltung zu nähren, war enorm. Roman reagierte sofort. Bevor ich nach Luft schnappen konnte, stand ich an der Grenze zu Spline. „Zehn Minuten. Wenn du länger brauchst, werde ich sehr ungemütlich. Und was das bedeutet, muss ich dir nicht erklären.“ Seine kurz aufblitzenden Fänge zeigten mir sehr, sehr, sehr deutlich, was er meinte.

Ich nickte, entledigte mich meines Pullovers – ich wollte mich in Spline nicht zu Tode schwitzen – und überquerte die Grenze nach Spline.

Ja.

Jaah.

Jaaah!

Das war es, was ich brauchte. Die Augen geschlossen, die Arme weit von mir gestreckt, suhlte ich mich in der sofort zugreifenden magischen Energie. Sie erschien mir wohltätiger als ein kühler Wasserfall im Hochsommer. Und das, obwohl in Spline geschätzt an die fünfzig Grad herrschten.

Natürlich ahnte ich, warum mir Roman nicht mehr als zehn Minuten zugestand. Er hatte keinen Bock, länger in der Botanik herum zu stehen und auf mich zu warten. Darauf, dass ich zitternd und lechzend wie ein Junkie um Energienachschub hechelnd auf ihn zu taumelte. Das wollte ich ehrlich gesagt auch nicht. Also verließ ich mich auf meinen Instinkt. Sobald ich mich einigermaßen befriedigt fühlte – ohne, dass die Stimmen in meinem Kopf mir sagten, dass mir die ganze, verdammte Welt gehörte – verließ ich Spline und stolperte Roman in die vorausschauend ausgesteckten Arme. „Neun Minuten. Wie geht’s dir?“ Mein schiefes Lächeln war sogar mir bewusst, aber ich fühlte mich blendend. „Prima. Noch unvollständig, doch immerhin zu gebrauchen.“ Roman nickte und teleportierte mich zurück auf den Übungsplatz. „Dann los, weiter geht’s!“ Ungläubig sah ich ihn an, während ich mir rasch den Pullover über den Kopf zog.

Es war Abend.

Ich hatte Hunger.

Durst.

Den Wunsch nach einem ausgiebigen Bad.

Und anschließend in mein Bett fallen.

„Äh…, was?“ Roman legte den Kopf schief und verschränkte die Arme. „Gibst du schon auf?“ Mein skeptisches Blinzeln ignorierte er. „Lass uns morgen weitermachen, hm? Ich habe Hunger. Und ich bin müde.“ Wäre mein Energielevel übersättigt, hätte ich kein Hungergefühl. Aber da ich meine Batterien gerade so weit aufgeladen hatte, dass ich mich nicht mehr vollkommen leer fühlte, musste ich dringend etwas essen. Wie zur Untermalung meiner Ausführung knurrte mein Magen. „Akzeptabler Vorschlag.“

Immerhin schien Roman nicht so stur wie Alan zu sein.

Alan.

Man! Gab es eigentlich irgendeinen Tag, an dem er nicht in meinem Kopf herumspukte? Wohl nicht.

Noch nicht.

Die nächsten drei Tage verliefen nicht viel anders. Roman holte mich am Morgen ab. Ich trainierte. Er brachte mich am Abend erst nach Spline, dann heim. Meine Fortschritte waren eher mäßig. Aber Roman zeigte keine der Gemütsregungen, die ein Mensch gezeigt hätte.

Oder ein Gestaltwandler.

Weder ein frustriertes Seufzen noch ein enttäuschter Aufschrei oder ein Lachen. Bis auf eine leicht angehobene Augenbraue oder ein kaum merkliches Lächeln zeigte er mir nur die Wesenszüge eines Vampirs. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich Roman seit seiner Befreiung aus den Händen des Wandlers noch nicht wieder in der Rolle eines Menschen erlebt.

Na ja… schließlich hatte er sich den Großteil dieser Zeit entweder nicht in meiner Nähe aufgehalten oder versucht mich umzubringen. Ob der Wandler ihm die Fähigkeit, sich an menschliche Eigenarten anzupassen, genommen hatte? Freilich konnte das auch an seiner Bindung an die Ker-Lon liegen; beziehungsweise der Verlust eben dieser Frau. Nun, zumindest verlor ich somit nicht aus den Augen, um was es sich bei ihm handelte.

Fast nicht!

Denn als er mir am vierten Tag schon zum Mittag erklärte, dass für heute Schluss sei, sah ich ihn an, als hätte er einen Witz gerissen. Roman und Witze passten übrigens so gut zusammen wie Leoparden und Schmusekätzchen. „Warum?“ Roman stand in einer lockeren Pose vor mir. In der er seit heute Morgen, als das Training begann, unbeweglich verharrt hatte. „Ich habe Hunger.“ Hey, das passte gut. „Hervorragend. Ich auch. Lass uns zusammen essen.“ Cool! Meine Angst – Respekt oder was auch immer es war – ihm gegenüber schien sich langsam in Wohlgefallen aufzulösen. Immerhin hatte ich ihm das erste Mal den Vorschlag gemacht, gemeinsam zu essen. „Ich bezweifle, dass dir bewusst ist, was du eben vorgeschlagen hast.“, quittierte Roman meine Einladung mit einem stählernen Blick, der mich die Stirn runzeln ließ. „Was? Wieso? Ich…“ Oh. Er wollte… Oh! „Äh, vergiss, was ich gesagt habe.“ Dass ich Rot anlief, spürte ich zwar, konnte ich aber nicht verhindern. Sofort stand er vor mir, mein Kinn umfasst und mir ins Ohr flüsternd, dass ihm meine Schamesröte mehr bedeute als die unüberlegte Äußerung.

Zu dumm, dass er schneller war als ich.

Ansonsten hätte mein Fuß sein Schienbein auch tatsächlich getroffen. Ohne meiner Frustration mit irgendeiner Miene oder einer Wortspielerei Genüge zu tun, zog er mich in seine Arme, teleportierte mich in meine Wohnung und verabschiedete sich bis zum nächsten Tag. Ah, ich hatte mich zum Deppen gemacht.

Wundertoll!

Und das, obwohl Roman absolut nichts Menschliches an den Tag legte.

Nicht mehr.

Wozu Vampire sehr wohl fähig waren. Sogar ziemlich überzeugend. Auch Roman. Ich erinnerte mich schwach daran. Wie konnte ich bloß vergessen, dass er Blut trank? Ok, es sei mir zugutegehalten, dass er sich auch von normalen Lebensmitteln ernährte und anscheinend nur aller paar Tage den roten Lebenssaft benötigte.

Vielleicht auch täglich.

Woher zum Kuckuck sollte ich das wissen? Schließlich fragte ich ihn kaum nach seinen Essgewohnheiten.

Nur gut, dass mein Telefon klingelte, ansonsten hätte ich depressiven Gedanken nachgehangen. „Man, also dich zu erreichen ist ja schwerer als im Lotto zu gewinnen.“, schimpfte Trudi am anderen Ende der Leitung. Schnell erklärte ich ihr, dass ich die letzten Tage ziemlich beschäftigt gewesen war und versuchte, es so klingen zu lassen, als wäre ich deswegen deprimiert. Gott sei Dank wollte sie nicht wissen, womit ich meine Zeit verbrachte. Stattdessen schlug sie mir ohne Luft zu holen vor, dass sie sich am Nachmittag gern mit mir in der Stadt treffen würde. „Da gibt es ein entzückendes kleines Café. Du wirst den Kaffee dort lieben!“ Ich wusste sehr genau, um welches Café es sich handelte, noch bevor sie dessen Namen aussprach. Trotz meiner sich sträubenden Nackenhaare sagte ich zu. Es war schließlich nicht so, dass ich das Etablissement für ein Date mit Alan gebucht hatte. Das Leben ging nämlich ohne ihn weiter. Bitte lieber Gott, lass ihn nicht dort sein. Bei meinem Glück würde er mir ausgerechnet da über den Weg laufen – obwohl er sich laut einem Zeitungsartikel momentan auf einem anderen Kontinent aufhielt.

Nur wusste ich leider zu gut, dass die Zeitungen nicht immer das schrieben, was der Wirklichkeit entsprach. Ich konnte also nur hoffen, dass sie diesmal richtig lagen und nicht nur bloßen Vermutungen aufgesessen waren.

Gott hatte meine Gebete erhört!

Weit und breit kein pelziger Hintern in Sichtweite. Nicht das Alans Hintern derart behaart wäre. Zu meiner Verwunderung waren kaum Gäste da. Tja, mehr Kaffee und Kuchen für mich. Ich grinste, was Trudi bemerkte. „Was ist denn so lustig?“ Ich schüttelte den Kopf und zähmte meine Gedanken. Am Ambiente hatte sich nach wie vor nichts geändert. Selbst die Kellnerin und deren freundliches Lächeln waren dieselben. Wir bestellten jede ein Kännchen Kaffee, Trudi ein Stück Quarkkuchen und ich mehrere Stück Torte, ein Stück Eierschecke und ein Stück Zupfkuchen.

Hey, ich hatte schließlich kein Mittag gehabt!

Davon abgesehen besaß ich als movere – ganz zu schweigen von meinem enormen Energieverbrauch als Saphi – ganz andere Essgewohnheiten als ein normaler Mensch. Selbst wenn ich als movere noch nicht wieder vollständig hergestellt war. Wenn auch so gut wie. „Meine Güte, ich würde auch gern essen wollen, was ich möchte. Aber ich fürchte, sobald ich deinen Teller auch nur anschaue, werde ich mindestens drei Kilo zunehmen.“, seufzte Trudi pathetisch und verzog ihr Gesicht.

Man konnte fast meinen, sie hätte in eine Zitrone gebissen.

„Vielleicht sollte ich meine Augen schließen bis du fertig bist.“, murmelte sie nachdenklich, was mir ein Grinsen ins Gesicht zauberte. „Ach komm schon, du hast doch eine wunderbare Figur.“ Trudi schnaubte empört. „Klar, das hat mich auch eine Menge Disziplin gefordert. Weißt du, wie schwer es ist ein paar Pfund zu verlieren? Wie hart ich dafür gearbeitet habe? Von dem mühsamen Abzählen der Kalorien ganz zu schweigen. Ich sehe es, als meine rein menschliche Gabe, durch bloßes Ansehen von Lebensmitteln Gewicht zuzulegen. Ich glaube, das schafft kein einziger movere.“ Sie lächelte kläglich.

Sie hatte Recht. Es gab keinen movere – oder jedenfalls kannte ich keinen – der an Übergewicht litt. Unser hoher Grundumsatz machte es schlichtweg unmöglich, Überschüssiges für schlechtere Zeiten anzulegen. Bei einer Hungersnot wären wir allerdings, wie auch die Gestaltwandler, die ersten, die eingingen.

Wie zu erwarten, wurde der Nachmittag recht kurzweilig. Wir plauderten und lachten. Genossen nebenbei nicht nur Kuchen und Kaffee, sondern aßen auch unser Abendbrot in dem gemütlichen Kneipchen und tranken das ein oder andere Weinglas. Mancher mit böser Zunge würde jetzt behaupten: Typisch Frau! Aber man sollte nie verallgemeinern, was mit logischen Argumenten widerlegt werden konnte. Männer hatten nämlich ebenso gutes Sitzfleisch. Besonders bei Themen wie Fußball, Autos oder spärlich bis gar nicht bekleideten Damen. Das Alter spielte dabei keine Rolle.

Es war demzufolge kein Wunder, dass wir erst kurz vor zehn Uhr abends das Café verließen. Trudi war reichlich angetrunken. Ich hingegen hatte dank meiner Gene noch nicht meine Grenze erreicht und wirkte nüchtern.

Ein Grund, warum ich Trudi ins Gewissen reden und sie in ein Taxi setzen konnte. Und das, obwohl sie stur und steif behauptete, auch zu Fuß heimgehen zu können. Natürlich konnte sie das.

Tagsüber.

Weniger volltrunken.

Aber nachts? Nein, das Taxi war die viel bessere Variante. Um jeglicher Diskussion vorzubeugen, hatte ich dem Fahrer einen Fünfziger in die Hand gedrückt und ihm erklärt, den Rest könne er behalten. Ich konnte mir also relativ sicher sein, dass Trudi wohlbehalten daheim ankam. Ich für meinen Teil machte mich zu Fuß auf nach Hause.

Welch köstliche Doppelmoral.

Doch ich war ein movere. Notfalls könnte ich mich verteidigen, wobei meine Gegenwehr mehr als einen hysterischen Schrei umfasste, den ich Trudi zugestand. Normalerweise wäre ich in einer halben Stunde daheim gewesen – gondelnd.

Ich brauchte dezent länger.

Aber nur, weil mich ein ziemlich seltsames Ereignis hatte stutzen lassen.

Nur wenige Meter vor mir waren zwei junge Frauen gelaufen. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl gehabt, dass uns jemand beobachtete, dann spürte ich das kurze Aufflackern von Magie und plötzlich waren die beiden Frauen wie vom Erdboden verschluckt. Wäre ich nicht gegen jegliche Magie – ausgenommen die der Ker-Lon – resistent, wäre ich sicher ebenfalls verschwunden.

Aber wer entführte Frauen mit Hilfe von Magie?

Und welche Art Magie sollte das gewesen sein?

War ich vielleicht doch nicht mehr so nüchtern, wie ich geglaubt hatte?

Zweifelnd und vorsichtshalber nochmal in alle Hauseingänge und Seitenstraßen blickend, die die beiden passiert haben könnten, kam ich schließlich zu dem Entschluss, dass ich mir das alles eingebildet haben musste. Schließlich lösten sich junge Frauen auch mit Hilfe von Magie nicht einfach in Luft auf! Irgendetwas hätte ich sehen müssen.

Unbewusst sog ich die Energie meiner unmittelbaren Umgebung zu mir. Eine instinktive Vorsichtsmaßnahme. Oder eine Nebenwirkung meiner seit Tagen immer wieder aufgebrauchten Energiereserven.

Das konnte ich beim besten Willen nicht sagen.

Homo sapiens movere ~ gebrochen

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