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Ich hatte Claudia und Trudi, die eigentlich Tamara hieß, schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wenn ich es mir recht überlegte, waren es locker zwei Jahre, bevor sie mich im Krankenhaus besucht hatten. Irgendwie hatte mir nicht der Sinn danach gestanden, mich mit ihnen zu treffen. Wieso, wusste ich auch nicht genau.

Vielleicht, weil das Jahr vor meinem Unfall recht turbulent gewesen war.

Vielleicht, weil ich viel zu viel mit Alan herum gehangen hatte.

Außerdem hatten Freunde in meiner Gegenwart in letzter Zeit die Tendenz zu sterben. Und um die ganze Sache noch ein wenig zu toppen, war ich die vergangenen Monate nicht … äh … abkömmlich gewesen.

Und jetzt ein gemeinsamer Frauenabend.

Im Cluchant.

Ein Club, in dem man viel nackte Haut zu sehen bekam. Sowohl von Männern als auch von Frauen. Wow! So aufgeregt war ich wahrscheinlich das letzte Mal bei meiner allerersten Verabredung gewesen. Nein, halt: Bei meiner Entjungferung. Mein Herz flatterte unruhig und mein Magen veranstaltete eigenartige Kapriolen. Meine Hände waren feucht. Egal wie oft ich sie auch an meinen Jeans abwischte. Noch ein wenig mehr von dieser hibbeligen Nervosität und ich würde den ganzen Abend auf der Toilette verbringen. Während ich die Tür hypnotisierte und auf das erlösende Klingeln wartete, rasten mir unzählige Gedanken durch den Kopf. Die lösten sich alle in Luft auf, als endlich die Türglocke schellte. Über die Gegensprechanlage vergewisserte ich mich, dass es die beiden waren, überprüfte ein letztes Mal mein Aussehen im Spiegel, schnappte mir Schlüssel und Bargeld, schloss hinter mir die Tür, stopfte alles in meine Jeans und stieg in den Aufzug.

Die Begrüßung der beiden war herzlich. Beinah so, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren. Dass Claudia sich angeboten hatte zu fahren, obwohl wir uns auch ein Taxi hätten bestellen können, zeigte mir, dass sie nach wie vor kein Anhänger des Alkohols war. Gut, dann blieb mehr für mich und Trudi.

Keine halbe Stunde später saßen wir im Cluchant. Relaxt. Angeregt plaudernd. Mit frischen, farblich sehr interessanten, leckeren Getränken vor uns und einem Dauergrinsen im Gesicht. Einem echten. Keinem erzwungenen. Sich Geschichten von früher zu erzählen war durchaus amüsant. Meine Mutter hatte mal behauptet, sobald man anfing, von früher zu reden, würde man alt.

Na ja, jeder wurde das irgendwann.

Claudia hatte sich in der Zeit, in der ich sie nicht gesehen hatte, kaum verändert. Sie war ein wenig fülliger geworden, aber es stand ihr hervorragend. Trudi hingegen hätte ich auf der Straße vermutlich nicht erkannt. Sie hatte mehr als 20 Kilo abgenommen. Ihre einst kurzen schwarzen Haare reichten ihr inzwischen bis zu den Schultern und waren nun blond. Genau wie ich trugen die beiden Jeans und Top; jeweils in einer anderen Farbe. Meins war pink, das von Claudia blau und Trudis knallrot. Claudia war seit Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder. Trudi war Single.

Wie ich…

Beide übten einen normalen Beruf aus. Ich glaubte nicht, dass sie ahnten, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente. Früher hatten wir zusammen die Schule unsicher gemacht. Jetzt waren wir alle drei in dem Alter, in dem wir über unsere Eskapaden von früher entweder lachten oder dunkelrot vor Scham anliefen. Dass sowohl Trudi als auch Claudia keine movere waren, hatte mich nie gestört. Umgekehrt war es dasselbe. Natürlich fragte Trudi mich über Alan aus und ob die Möglichkeit bestünde, trotzdem noch ein Autogramm von ihm zu bekommen. Ich versuchte wirklich, wirklich nett zu sein. Nur das Beste von ihm zu erzählen, aber das erwies sich als schwierig.

Nach einer Weile stellte ich allerdings fest, dass ich auch erzählen könnte, dass Alan schnarchte, seine Unterhosen nur einmal im Monat wechselte und keinerlei Tischmanieren besäße. Trudi würde trotzdem niemals, nie, nicht aufhören ihn als Gott anzuhimmeln. Meinetwegen. Ich konnte es ihr schlecht verübeln. Als sie jedoch fragte, wie er im Bett sei, hätte ich mich fast an meinem exotischen Mixgetränk verschluckt.

„Man Trudi, nun lass Sam doch mal in Ruhe. Immerhin hat er sich von ihr getrennt. Wir fragen dich auch nicht danach aus, wie dein Ex im Bett war. Obwohl ich mir das lebhaft vorstellen kann.“, kicherte Claudia und rettete mich damit vor einer Offenbarung Alans gottähnlicher Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Trudi würde sonst tatsächlich anfangen einen Altar für ihn einzurichten, für ihn zu beten und Opfergaben zu entrichten.

Falls sie das nicht ohnehin schon machte.

Sie entschuldigte sich leicht errötend, und ich war froh, dass Claudia das Gesprächsthema auf etwas anderes richtete. Natürlich auf einen Mann. Aber auf einen, der eben halbnackt vor unserem Tisch tanzte. Ein leckerer Kerl, aber nicht meine Kragenweite. Claudias schon. „Ähm, Süße? Du bist glücklich verheiratet!“, wurde sie von Trudi erinnert, was der einen bösen Blick einbrachte. „Und? Schauen wird ja wohl erlaubt sein.“

„So wie du guckst, willst du nicht nur schauen. Ich kann ganz deutlich sehen, wie du dich aus deinen Jeans pellst, ihm das Stückchen Stoff vom Leib reißt, deinen Slip auf den Boden wirfst und ihn anspringst.“ Claudia seufzte ausatmend. „Ja, da könnte was dran sein. Zu schade, dass ich viel zu feige bin. Aber du hast Recht, ich bin glücklich verheiratet. Das wird mein neuer Slogan. Ich sollte mir die Augen verbinden, wenn solche Sahnestückchen vor meinen Augen mit dem Hintern wackeln. Und ich sollte meinem Mann dazu animieren, für mich genauso aufreizend zu tanzen.“ Claudia seufzte. „Nein, eher nicht. Zumindest nicht so! Jean hat absolut kein Rhythmusgefühl. Beim Tanzen.“ Trudi zwinkerte mir amüsiert zu, als wir sahen, wie Claudia dezent errötete. „Uh…, na das ist aber auch eine Sahneschnitte!“, schnalzte Trudi eben neben mir, als ich just in dem Moment Roman unter den Anwesenden erblickte.

Ernüchtert sackte ich tiefer in meinen Sitz; in der Hoffnung, dass er mich übersah.

Dumm, dass Trudi ausgerechnet ihn ins Auge fasste und wie eine Geisteskranke auf sich aufmerksam machte. „Geht es noch auffälliger?“, zischte ich erschüttert, als sie wie eine professionelle Verführerin ihre Oberweite umfasste und quer durch den Club brüllte, ob er die nicht mal auf ihre Echtheit testen wolle. Ich erwartete schon, dass sie sich das Top vom Leib riss.

Das blieb Gott sei Dank aus.

„Trudi live. In Farbe. Und Ton.“, erläuterte Claudia die Szene, die ich ehrlich gesagt von Trudi nie und nimmer erwartet hatte. „Wann ist das denn passiert?“ Trudi war doch immer die Zurückhaltende von uns gewesen. „Nach Mark. Der hat ihr wegen eines zwanzigjährigen Betthäschens den Laufpass gegeben und ihr erklärt, sie sei zu verklemmt. Tja, irgendwie hat das wohl … na, du siehst ja, was es angestellt hat.“ Ja, das sah ich. Gerade eben hatte sich Trudi aufgemacht, um sich Roman an den Hals zu werfen. „Weiß sie, was er ist?“ Claudia zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise. Aber er heißt nicht Alan. Willst du sie aufklären?“ Ich war mir nicht sicher, ob ich mich einmischen sollte. Aber verdammt, der Typ war Roman! Nur zu deutlich konnte ich mich an Alans Worte erinnern, dass der ein ziemlicher Sadist war, was sexuelle Begierde anging und manchmal auch über sein Ziel hinausschoss.

Leider endete das unweigerlich mit dem Tod seiner Bettgefährtin.

Sofern er dafür überhaupt ein Bett brauchte. Die meisten Vampire trennten Blut und Sex gern voneinander. Aber ich war mir nicht sicher, ob Roman zu dieser Sorte gehörte.

Das war nicht der einzige Grund, aus dem mein Herz aufgeregt wummerte. Schließlich hatte er einmal Jagd auf mich gemacht. Darum wollte ich ihn auch ungern auf mich aufmerksam machen. Ich fluchte stöhnend, was Claudia argwöhnisch kommentierte, indem sie mich darauf hinwies, dass er auch nur ein Mann sei. „Er ist verdammt nochmal ein Vampir! Weiß Trudi wenigstens, worauf sie sich einlässt?“ Claudia rollte mit den Augen und erklärte mir, dass Trudi alt genug sei allein ihre Entscheidungen zu treffen. „Ja, das ist sie. Es ist nur so, ich kenne diesen Typen, und er ist alles andere als ein sanfter Liebhaber.“ Das musste anders rüber gekommen sein, als ich es meinte.

Prompt verschluckte sie sich an ihrem Eistee.

„Du hattest mit ihm Sex?“ Oh Gott, ging es noch lauter? „Nein, um Himmels Willen! Aber er ist Alans Kumpel und na ja… ich habe das ein oder andere über ihn gehört. Das ist nicht sonderlich Vertrauen erweckend.“ Sie hustete noch ein paar Mal, nahm ihr Glas erneut in die Hand und trank einen winzigen Schluck. „Du meinst, er beißt?“

Nein.

Vampire sangen Chansons, während sie einem die Kopfhaut massierten.

Natürlich biss er! Was für eine bekloppte Frage.

Aber das wäre das kleinste Übel, was ich ihr auch erklärte. „Ach du Scheiße. Wir sollten ihr das sagen. Was ist denn, wenn sie mit ihm…“ Claudia sah aus, als hätte sie ein Kaninchen überfahren, während sie mir ins Gewissen redete, dass ich Trudi informieren sollte. „Wieso ich? Geh du doch!“ Schnell schüttelte sie den Kopf. „Du kennst ihn, ich nicht. Tu es für Trudi, bitte!“

Oh man, warum nur ließ mich ihr Dackelblick kapitulieren? „Ok.“, stimmte ich zu, „Aber erst, wenn es kritisch wird und sie den Club verlassen.“ Das besänftigte sowohl sie, als auch mich. Solange die beiden hierblieben, musste ich mich nicht auf Konfrontationskurs mit Roman begeben. Nach wie vor jagte der mir nämlich höllische Angst ein. Nun ja, es war weniger Angst als vielmehr… hm… Respekt? Immerhin war er ein Vampir. Kein geistesgestörter Wahnsinniger mehr, aber nichtsdestotrotz harmlos.

Leider schienen meine Gebete beim lieben Gott kein Gehör zu finden. Denn nur eine halbe Stunde steuerten die beiden eng umschlungen eine Tür an, die – wenn ich es mir recht bedachte – nicht zu den Toiletten führte.

Oder zum Notausgang.

Im Cluchant, so wusste ich, gab es privatere Räume, in die man sich bei Bedarf zurückziehen konnte. Super. Ich sollte diese zwei willigen Turteltauben aufhalten? Was hatte ich mir da nur eingebrockt?

Achtung, Vampir, der Sammynator rupft dir deine Beißerchen.

Yea-ha!

Gedanklich schwang ich eine große Keule, aber mein viel zu schnelles Herzklopfen und meine zitternden Hände zeugten von meiner Angst. Wie reagierten Vampire, denen man die willige Beute abschwatzen wollte? Was, wenn er mich angriff? Ich hatte nicht das Verlangen und auch nicht das Vertrauen meine Fähigkeiten einzusetzen. Zu groß war die Möglichkeit, dass deren Einsatz nach hinten losging. Ich könnte aus Versehen die ganze Bude abfackeln.

Roman könnte durch das Nennen seiner Chakren auch tot umfallen. Sofern sie überhaupt sichtbar wären.

Eine weitere Version von Gerichtsbarkeit à la Pir konnte ich echt nicht gebrauchen. „Vielleicht ist er gar nicht so schlimm, wie du denkst. Gott, wäre ich nicht verheiratet, würde ich sogar behaupten, er ist wahnsinnig attraktiv. Und sexy!“, seufzte Claudia. Wenn Blicke einem den Mund verbieten könnten, wäre meiner wie geschaffen dafür. Nicht, dass er meine Freundin beeindruckte. Denn außer einer hochgezogenen Augenbraue hatte sie nur ein spitzes ‚Was denn?‘ für mich übrig. „Verdammt, Claudia, er ist ein Vampir! Ein Raubtier. Natürlich sehen die toll aus. Wäre auch noch schöner, wenn man vor ihnen wegrennt. Stell dir nur all den Aufwand vor, wenn sie ihren Opfern erst jedes Mal hinterher rasen müssten.“ Zugegeben, es wäre für sie kein allzu großer Aufwand. Vampire waren in der Hinsicht tatsächlich perfekt ausgestattet. Prädestiniert für die Jagd, die allzu oft gar keine war. Vielmehr warf sich die Beute freiwillig an deren Hals.

Auch an Romans.

„Dann beeil dich. Ich passe derweil auf unseren Tisch auf.“ Als ob der wegrennt… Meine Bitte, sie möge mich begleiten, lehnte sie lächelnd ab. Ihre Begründung, dass ich eine movere sei, war für sie ausreichend. Ich hielt ihr allerdings zugute, dass sie nicht wusste, wie gefährlich – im Normalfall – ein Vampir für einen Menschen wie mich sein konnte. Verflucht, er war auch so immer noch gefährlich! Als ob mich nur sein Gift töten könnte: Ein gebrochener Hals oder eine aufgerissene Kehle hatten denselben Effekt. Außerdem fühlte ich mich noch lange nicht wieder wie ein movere. Dafür brauchte ich sicher noch ein paar Monate. Bitte, gebt mir eine Urkunde. Einen hübschen Preis, eine Auszeichnung. Idiotin des Jahres war noch eine untertriebene Bezeichnung für mein Vorhaben. Dafür hatte ich doch irgendeine Art der Anerkennung verdient. Wenn möglich etwas mehr als eine kreisförmige Bewegung mit dem Zeigefinger neben dem Kopf, obwohl die sehr passend erschien.

Tief einatmend stand ich auf, zupfte mein Shirt zurecht und schlängelte mich an den vielen Clubbesuchern vorbei zu der Tür, die die beiden benutzt hatten. Die war schwerer, als sie aussah. Aber indem ich mich dagegen lehnte, bekam ich sie mit einem Ächzen auf. Jetzt wäre es wirklich gigantisch gewesen, wenn mir eine Spur aus Krümeln oder ein blinkender Pfeil gezeigt hätten, welchen Weg die beiden eingeschlagen hatten.

Links oder rechts. Das war hier die Frage aller Fragen.

So wie die Tür hinter mir mit einem lauten Scheppern zufiel, war die Musik nur noch gedämpft zu hören. Ich spitzte die Ohren, ob ich irgendwelche Schreie – vorzugsweise die von Trudi – vernahm. Leider Fehlanzeige. Auf der einen Seite war es gut, dass ich nichts hörte. Auf der anderen fachte das meine Fantasie nur umso mehr an. Meine Sinne zu nutzen wäre eine gute Idee gewesen. Auch entgegen meiner Skepsis. Wäre Roman der einzige Mann, der sich zu seinem Amüsement oder seiner Nahrungsaufnahme in diesen Bereich verzog.

War er aber nicht.

Selbst wenn der Flur, auf dem ich gerade stand, gähnend leer war. Verflixt, ich hätte ihnen schneller folgen sollen. An jeder Tür lauschend lief ich über den Gang, dessen weiße Wände mit den Neonröhren und dessen Boden mit den hellen Fliesen ebenso steril wirkten wie ein Krankenhaus. Nur dass es hier angenehmer roch.

Verfluchter Bockmist!

Wie sollte ich die zwei denn hier finden?

Die Türen sahen alle gleich aus und schienen hermetisch abgeriegelt zu sein. Kein einziger Laut drang nach draußen. Mich in einem Labyrinth zu verirren, war mit Sicherheit angenehmer. Dort lief ich nicht Gefahr, einem Monster über den Weg zu laufen. Mein Herz wummerte im Rhythmus eines Rock ’n’ Roll, während ich unbewusst zitterte. Meine Hände nahmen die Temperatur eines Eisblocks an. Ich konnte unmöglich alle Türen öffnen und irgendwelche Fremden in flagranti erwischen.

Auch nicht für Trudi?

Oh man, was für eine Zwickmühle! Natürlich war meine Freundin erwachsen. Doch Roman war und blieb trotzdem ein sadistischer Mistkerl, der mir eine Heidenangst einjagte. Trotz allem hielt mich das nicht davon ab, lauthals nach meiner Freundin zu rufen. „Trudi, du blöde Kuh! Heute war verdammt nochmal ein Frauenabend geplant und kein Buffet für einen Vampir. Schwing deinen Hintern wieder nach vorn und zwar pronto, bevor ich über meinen eigenen Schatten springe und jede dieser verfluchten Türen aufreiße!“ Ich holte tief Luft und setzte noch eins obendrauf. „Und Roman, wenn du meiner Freundin auch nur ein Härchen krümmst, werde ich dich eigenhändig kastrieren, dir jedes Beißerchen einzeln ziehen und dich scheibchenweise grillen.“ So wie ich durch den Flur gebrüllt hatte, hätte ich mich für meine eigene Dummheit ohrfeigen können.

Spätestens jetzt wusste Roman, dass ich hier war.

Zu blöd aber auch. Was tut man nicht alles für seine Freunde?

Augen rollend schüttelte ich den Kopf und begann, langsam bis zehn zu zählen. Ich lauschte, ob sich eine Tür öffnete. Doch abgesehen davon, dass sich ein weiteres Pärchen nach hinten verirrte, passierte nichts.

Absolut gar nichts.

Keine Trudi.

Kein Roman.

Ganz ruhig, ermahnte ich mich. Ich holte tief Luft und zählte abermals bis zehn. Vermutlich hätte ich bis eintausendneunhundertdreiundzwanzig zählen können. Nichts passierte. Tief ein- und ausatmend lief ich mutig zur ersten Tür, legte meine Hand auf den Knauf und drehte diesen vorsichtig um. Theoretisch hatte ich vorgehabt, jede Tür einzeln, sehr leise und nur minimal zu öffnen. Praktisch war es aber so, dass jede dieser beschissenen Türen von innen abgeschlossen werden konnte. Diejenigen, die sich öffnen ließen, gaben nichts weiter preis als einen leeren Raum.

Aha, darum also rote beziehungsweise grüne Lämpchen oberhalb der Türen. Gut zu wissen.

Weniger gut zu wissen, dass einige Räume diversen Vorlieben angepasst waren. Und das bedeutete auch, dass es nicht in jedem Zimmer ein Bett gab. Handschellen an den Wänden und Ketten, die von den Decken hingen, waren noch das Vertretbarste, was ich vorfand. Bei einigen anderen Dingen fragte ich mich, ob ich aus Versehen in die Folterkammer eines mittelalterlichen Triumvirats gelangt war. Himmel, sowas machte manche an? Gut, jedem das seine. Aber das war definitiv nichts für mich und mein zartes Gemüt.

Ja, ich besaß eine zarte Seite.

Meistens.

Egal, was manch anderer gern behaupten würde.

Schnell wand ich den Blick ab und versuchte, mein aufgewühltes Inneres unter Kontrolle zu bringen. Wenigstens konnte ich nirgendwo Blut oder verstümmelte Leichen entdecken. Wenig beruhigend für meine momentan schwachen Nerven. Wahrscheinlich verfügte dieser Laden über fantastisch geschultes Reinigungspersonal. Mit Verschwiegenheitsklausel und der Androhung plötzlicher Unfälle.

Ich war nicht frustriert.

Und ich war auch nicht sarkastisch!

Fest presste ich meine Lippen zusammen und ging unverrichteter Dinge Richtung Ausgang. Dass die Tür eine Tonne wog, hatte ich schon erwähnt, oder? Dementsprechend hing ich an deren Klinke wie ein Schluck Wasser. Sehr schön. Ich kam mir überhaupt nicht dämlich vor. Wie schafften es normale Menschen, diese Tür zu öffnen? Gar nicht, wurde mir klar. Denn im Moment besaß ich die Kraft eines normalen Menschen; keinesfalls die einer movere.

„Brauchst du Hilfe?“ Wozu hatte ich meine Haare in Form geföhnt, wenn sie mir von allein zu Berge standen? „Äh, ja.“ Galant griff der Vampir, der hinter mir stand, an mir vorbei. Er zog die Tür auf, als wäre sie nichts weiter als ein dünnes Papierschnipselchen. Mit rasendem Herzen stotterte ich ein verlegenes Danke und wollte mich schleunigst aus dem Staub machen – wozu ich nicht kam. Schneller als ich A sagen konnte, hatte er meine Taille umfasst. „Warst du diejenige, die vorhin hier rumgebrüllt hat?“ Ich? Wie kam er denn darauf? „Nein, ich wollte eigentlich auf Toilette. Muss mich wohl verlaufen haben.“ Sein leises Lachen kitzelte an meinem Ohr.

Er beließ es dabei und zeigte gönnerhaft auf eine weitere Tür – direkt gegenüber der mir geöffneten – über der eindeutige Schilder prangten. Schulterzuckend entfernte ich mich aus seiner Reichweite und ging demonstrativ zur Toilette. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb verweilte ich zehn Minuten in dem hellblau gekachelten Raum, wusch mir die Hände und prüfte, ob es möglich war, mein aufgewühltes Inneres zu beruhigen. Klappte nicht. Unverrichteter Dinge begab ich mich im Anschluss geradewegs zu Claudia.

Zu meiner Überraschung saß auch Trudi bereits wieder am Platz, was mich meinen Mund in schönster Karpfenoptik aufsperren ließ. Claudia schüttelte fast unbemerkt den Kopf, was wohl heißen sollte: Sage bloß nichts!

Ok.

Hauptsache, Trudi war wohlbehalten an den Tisch zurückgekehrt.

Tja, ich hatte mich in dem hinteren Bereich für nichts und wieder nichts zum Vollhorst gemacht und nebenbei fast vor Angst in die Hosen. Ganz zu schweigen von meinem medizinisch bedenklichen Herzrasen, was sich nur allmählich normalisierte. Kein Roman in unmittelbarer Sichtweite. Jetzt konnte ich mich wieder entspannen. Jedoch nicht, ohne Trudi vorher eine Predigt zu halten. Zu schade, dass die sich an rein gar nichts erinnerte und mich ansah, als wäre ich geistesgestört.

Claudias Erinnerung war jedoch intakt.

Nicht umsonst hatte sie mich mit stummem Blick gebeten, den Mund zu halten. Ich für meinen Teil war unendlich froh, dass Claudia vom Thema ablenkte und auf ihre Kinder zu sprechen kam. „Merkt ihr was?“ Trudi und ich sahen unsere Freundin fragend an. „Es kommt mir vor, als wären wir gestern noch zur Schule gegangen und jetzt rede ich von meinen Kindern und deren Schulproblemen. Wir werden alt. So sieht’s aus!“ Theatralisch sackte sie in sich zusammen und seufzte, als würde sie dafür eine Millionengage beziehen. Sehr effektvoll. Ich verkniff mir ein Lachen. Trudi schüttelte den Kopf. „Solange wir nicht so alt aussehen, wie wir uns manchmal fühlen, ist noch alles im Lot.“ Da war was dran. „Ach papperlapapp. Wir sind nicht mehr die knackfrischen, jungen Dinger, bei denen die Männer Schlange stehen.“ Trudi und ich erinnerten sie unisono daran, dass sie glücklich verheiratet war. „Oder hat sich daran etwas geändert?“, hakte ich nach, ignorierend, dass Claudia die Augen verdrehte. „Um Himmels Willen, nein! Aber es steigert das Selbstwertgefühl doch erheblich, wenn einem ein adretter, junger Mann hinterherpfeift.“ Mein Vorschlag, ihrem Sohn eine Trillerpfeife zu schenken, ließ sie empört schnauben. „Warte nur ab! Wenn du erst 10 Jahre verheiratet bist, wirst du ähnlich denken.“ Mein Grinsen konnte ich nicht mehr zurückhalten. „Dafür bräuchte ich zuallererst einen heiratswilligen Kandidaten.“ Die Blicke meiner Freundinnen gefielen mir nicht. Die planten etwas.

Ich konnte es förmlich riechen.

„Hey, stopp. Denkt nicht mal dran! Trudi zuerst.“ Die schüttelte langsam den Kopf, zog eine Augenbraue in die Höhe und schnalzte mit der Zunge. „Nichts da. Du bist die ältere von uns beiden.“ Die zwei Monate! Vehement wehrte ich ihre Vorschläge ab, dass sie mir einen Mann besorgen wollten. Ganz besonders, weil sie dies über Binghams Agentur, deren Geschäftsstellen im ganzen Land verteilt waren, durchzuziehen gedachten. „Untersteht euch! Ich bin weder scharf auf eine feste Beziehung noch auf eine Heirat.“ Vielleicht, sobald ich einigermaßen über Alan hinweg wäre. Sogar dann wäre es noch zu früh eine Ehe zu planen. Wenigstens hatte ich sie nach einer halben Stunde so weit, dass sie ihr Vorhaben ad acta legten.

Hoffte ich.

Aber so wie ich Claudia kannte… nein, ich sollte nicht darüber nachdenken. Davon bekäme ich nur graue Haare. Gerade, als ich mich wieder ein bisschen entspannte, entdeckte ich einige von Alans Leuten.

Schlagartig war meine gute Laune verflogen. An ihre Stelle trat eine düstere Zukunftsangst. Würden die es wagen, mich hier im Club anzugreifen?

Nach einer halben Stunde erkannte ich allerdings, dass sie sich nicht die Bohne für mich interessierten. Entweder das oder sie wollten mich in Sicherheit wiegen.

Eine weitere halbe Stunde später gestand ich mir zu, dass sie mich überhaupt nicht wahrnahmen. Vielleicht hatten die mich nicht erkannt?

Egal, ich hatte vor, mich mit meinen Freundinnen zu amüsieren, und genau das tat ich auch.

Homo sapiens movere ~ gebrochen

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