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Gerade noch rechtzeitig kam ich am Anwesen an, um zu sehen, wie die Wachen ihre Plätze verließen. Das stählerne Tor war bereits verschlossen und gesichert. Ich konnte die Magie nicht nur riechen, sondern auch sehen. Oh man, vor lauter Eile fielen mir nicht mal die Namen der Wächter ein. Glücklicherweise war einem mein Motorrad aufgefallen. Denn er drehte sich zu meiner großen Erleichterung um. Zumindest musste ich mir nun nicht seinen Namen aus dem Gehirn saugen, auch wenn es mich wurmte, dass ich ihn vergessen hatte. Aber nicht ‚hey, du’ brüllen zu müssen, war schon mal eine gute Sache. Wie hieß der große, blonde Surferboy denn gleich nochmal. Gut, er war kein Surfer. Aber er könnte einer sein. Seinem Aussehen nach. Markus, Michael, Marek? Es ist etwas mit M… Verflixt, es fiel mir einfach nicht ein.

„Samantha, was tust du denn hier?“ Er schaute mich Stirn runzelnd an. Offensichtlich war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut. „Ich bin ein bisschen spät, ich weiß schon. Lass mich rein.“ Surferboy schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, dir ist das Betreten des Anwesens nicht mehr gestattet.“ Gut, dass ich schlucken musste, sonst wäre meine Kinnlade auf den Tank meines Motorrads gefallen. „Ähm, aber ich muss doch zum Ritual!“ Oder nicht? „Das Ritual ist ausschließlich für Rudelangehörige.“ Jepp, genau. Gerade eben wollte ich ihm verkünden, dass ich immer noch seine Alpha sei, als er mir den Witz des Jahrhunderts verkündete. „Gestern wurde mit einer knappen Mehrheit beschlossen, dass du ohne Frist aus dem Rudel ausgeschlossen wirst. Ich dachte, das wüsstest du bereits.“ Sein mir ausweichender Blick sagte mir erneut, dass er sich dabei sehr unwohl fühlte. Die Neuigkeit hätte ich wohl von einem anderen erfahren sollen.

Oder riechen.

Anscheinend wurde ich ein wenig blass um die Nase, denn Surferboys Frage, ob es mir gut ginge, folgte ein besorgter Gesichtsausdruck. „Ja, danke. Alles bestens.“, versicherte ich ihm, obwohl mein Herz wie verrückt in meinem Brustkorb herumtuckerte und ängstlich fiepend auf einen sofortigen Abmarsch plädierte.

Surferboy nickte, drehte sich um und rannte den anderen Wächtern hinterher. Ich hingegen zitterte inzwischen so sehr, dass man annehmen könnte, der Winter hätte doch noch seine eisigen Klauen ausgestreckt.

Hatte er nicht.

Alan hingegen schon.

Vor etwas mehr als einem Jahr, als er mich mehr oder weniger überrumpelt hatte einen Fetzen Papier zu unterschreiben und mich damit zur Alpha an seiner Seite machte, hatte er mir zu verstehen gegeben, dass ich als Alpha das Rudel nicht lebend verlassen konnte. Alan hatte mich zum Tode verurteilt. Ohne mir wenigstens die Möglichkeit zu geben, mich dazu zu äußern. Glaubte er, ich brächte sein hochgeschätztes Rudel in Gefahr? Solange er keine neue Alpha hatte, hätte er mir doch mein Leben gönnen können. War das zu viel verlangt? Ich hatte mich schließlich nicht freiwillig um diesen blöden Posten beworben.

Quatsch, ich hatte mich gar nicht darum beworben.

Er hatte mich überlistet und ich sollte dafür ins Gras beißen? Ohne mich!

Kein Wunder, dass mir niemand etwas mitgeteilt hatte. Andererseits, was stand ich hier dumm rum?

Eiligst sah ich zu, dass ich mich wieder notdürftig unter Kontrolle bekam, startete mein Motorrad und fuhr los. Wohin war egal. Zu viele Fragen geisterten durch meine Großhirnrinde: Warum hatte mich noch niemand seiner Leute umgebracht? Der Wächter hätte mir nichts sagen müssen. Wollten die erst mit mir spielen. Mich in Todesangst zittern lassen? Musste Alan das selbst erledigen? Durfte ich mich verteidigen? Nicht, dass ich um Erlaubnis betteln würde! Ich würde jeden flambieren, der mir nach dem Leben trachtete.

Heute bin ich doch noch in Sicherheit, oder?

Immerhin musste erst das Ritual vollzogen werden.

Ziellos fuhr ich drauflos und blieb etwa zehn Minuten später entsetzt, ratlos und den Tränen nahe am Straßenrand stehen. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass er mein Leben einfach wegwerfen konnte. Ich hatte ihm nichts getan. Er hatte mir die Suppe eingebrockt; er sollte sie gefälligst auch auslöffeln. Aber um ehrlich zu sein, war ich viel zu aufgewühlt und verängstigt, als dass ich hätte klar denken können. Zumindest für eine ganze Weile.

Eine verflixt lange Weile!

Wie lange ich an der Straße stand und blicklos in die Ferne starrte, wusste ich nicht. Aber irgendwann hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. Ich nahm mir vor, Alan am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Ich würde ganz sicher nicht freiwillig die Radieschen von unten ansehen. Das konnte er sich abschminken!

Inzwischen weit weniger verängstigt, dafür viel mehr wütend und aufgebracht, holte ich tief Luft und fuhr weiter.

Nicht nach Hause.

Ich brauchte erst noch ein wenig Ablenkung. Was konnte mich mehr ablenken als eine Fahrt über die schnurgerade Landstraße, die von kahlen Bäumen gesäumt wurde und den Blick auf dutzende verstreute, mit weihnachtlichen Lichtern geschmückte Häuschen preisgab? Ich fuhr einfach drauf los. Nur ich und mein Motorrad. Die Sterne über mir. Die Häuser weit genug weg, um sie noch als Zivilisation wahrzunehmen. Aber ohne selbst ein Teil davon zu sein.

Ich gab Gas, fühlte das Vibrieren der Maschine, das sich bis in meine Knochen fortsetzte. Mir das unendliche Gefühl von Freiheit vorgaukelte. Ich hätte Handschuhe anziehen sollen, denn der Fahrtwind war doch kühler als erwartet.

Ach was, so spüre ich wenigstens, dass ich noch am Leben bin!

Der Lichtkegel meines Scheinwerfers wurde plötzlich dunkler. Er verschwamm regelrecht vor meinen Augen. Dafür rauschte ein tiefes Grollen in meinen Ohren: Als würden sämtliche Äderchen in meinem Hirn platzen und eine Sturzflut von Geräuschen verursachen. Ich wollte die Kupplung ziehen und bremsen…

„Oh mein Gott!“

„Lebt sie noch?“

„Ruf den Notarzt!“

„Treten Sie doch bitte zur Seite…“

„…lassen Sie uns unsere Arb…“

multiple Traumata…“

bereiten Sie die Not-OP vor…“

Angehörige verständ…“

Ich spüre meine Beine nicht! Oh Scheiße, was ist denn hier los?

„Wir machen Ihnen keine großen Hoffnungen. Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber rechnen Sie mit dem schlimmsten…“

Mom? Paps?

Was zum Teufel ist denn hier los?

Verdammt, warum kann ich nicht sprechen?

Wo bin ich?

„… Schädelbasisbruch

Gehirnschädigung ist nicht auszuschließen…“

„… Hüft- und Oberschenkelfrakturen sind das kleinste Problem…“

….

„… Lungenquetschung…“

„… gebrochene Rippen…“

„… Nieren- und Milzruptur…“

„… Blutung gestoppt…“

„…ventrikuläre Tachykardie…Defi…. 360“

„… zurück…“

„… Oh man, was war das denn? Habt ihr das gesehen?“

„…Stromstöße… movere? …“

„… Geräte sind tot…“

„… sowas hab ich noch nicht gesehen…“

„… können wir es riskieren…“

Meine Mom ist hier.

Weint sie wegen mir?

Paps?

Verflucht nochmal, redet doch lauter!

Ich höre euch nicht!

„… wir können den Organzerfall nicht aufhalten…“

Geht es um mich?

Wieso spricht denn keiner mit mir?

Warum kann ich mich nicht bewegen?

„… ihre Tochter ist eine zähe Kämpferin…“

„… es ist ein Wunder, dass sie noch am Leben ist…“

„… Schätzchen, komm schon! Kämpfe! Hörst du mich? …“

„… Schwesterchen, komm zurück. Das kannst du nicht machen. Verdammt nochmal, du bist doch sonst so stur!“

„… Mach endlich die Augen wieder auf! Lebe!“

„… Ich kann Ihnen meine Hilfe anbieten. Mein Blut wird die Heilung einleiten und beschleunigen. Vorausgesetzt, dass Sie das möchten.“

Bingham?

„Ja, um Himmels Willen, ja. Tun Sie es. Egal, wie viel wir Ihnen dafür schuldig sein werden!“

Paps?

„Nein, mein Blut bin ich ihrer Tochter sowieso schuldig.“

„Dann, in Gottes Namen, tun Sie’s!“

Mom?

„… Liebes, kannst du mich hören? Wach auf, Schatz, bitte, komm zurück!“

Oh Gott, was ist das für grauenhafte Musik?

Mir ist kalt.

Macht ein wenig leiser…

Ich kann nicht schlafen…

„Schatz, komm schon, wach auf!“

Ich hatte keine Ahnung, warum meine Mutter derart eindringlich flehte. Ich war hundemüde. „Noch fünf Minuten.“, nuschelte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sie das auch verstand. Meine Zunge tat nicht, was sie sollte. Ebenso wenig mein Mund und meine Lippen. Ich kapierte nicht, warum meine Mutter plötzlich jubelte und laut kreischend nach jemandem rief. Außerdem schien sich etwas über meinem Mund und meiner Nase zu befinden, was sich seltsam anfühlte.

Herrje, auf meiner Zunge war ein Tier gestorben.

Es fühlte sich so an. Es schmeckte auch dementsprechend.

Meine Mund-Hand-Augen-Beinkoordination hatte sich verheddert und stimmte vorn und hinten nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Augen ein paar Millimeter weit geöffnet hatte.

Oder auch nicht.

Oh, Kacke! Bin ich blind?

Entsetzt riss ich sie weiter auf, nur um den schwachen Umriss meiner Mutter zu erkennen. Anscheinend verstand sie mein Gemurmel, strich mir beruhigend über die Stirn, während sie meine rechte Hand mit ihrer fast zerquetschte und mir das Ding von Mund und Nase nahm. Eine Atemmaske? Nebenbei erklärte sie mir, dass es im Zimmer dunkel sei. „Licht, mittel.“ Oh, ich wünschte, sie hätte es ausgelassen. Viel zu grell. Mit einer Verzögerung, die nichts mit einem Reflex zu tun hatte, schloss ich die Augen und stöhnte. „Licht, aus.“, sagte meine Mutter mit ruhiger Stimme, obwohl ich ihre Aufregung dennoch deutlich hörte.

Wenig später waren auch mein Vater sowie ein paar weitere Leute im Raum, die ich nicht kannte. Ich wünschte, sie würden leiser reden. Ihre Stimmen hallten durcheinander, die Worte ergaben in meinem Kopf, der sich wie ein riesiges, fluffiges Kissen anfühlte, überhaupt keinen Sinn.

Warum bin ich nicht zuhause?

Die Erkenntnis, dass ich einen Unfall gehabt haben musste, traf mich weniger unvorbereitet, als man meinen sollte. Zu blöd, dass ich mich an den Unfall selbst gar nicht erinnerte. Vielleicht war das besser. Meine Mutter, die ich nur kurz hatte sehen können, sah auf jeden Fall aus, als hätte sie ein paar schlaflose Nächte hinter sich. Das tat mir leid. Ließ meine Schuldgefühle anspringen. Trotzdem verstand ich nicht, warum mein Körper nicht richtig funktionierte.

Was zum Kuckuck haben die mir gegeben?

Irgendwelche Beruhigungsmittel? Schmerzmittel, ganz sicher. Mir tat nämlich überhaupt nichts weh.

Sehr schön.

Ich war nicht scharf auf Schmerzen.

Dann lieber wartete ich ab, bis ich meinen Körper wieder richtig spürte. Auch wenn ich nicht sonderlich geduldig war.

Wie viele Stunden könnte das schon anhalten?

Homo sapiens movere ~ gebrochen

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