Читать книгу Homo sapiens movere ~ gebrochen - R. R. Alval - Страница 6
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ОглавлениеIch hatte Tränen in den Augen. Dabei hatte ich keine Schmerzen. Weiß Gott nicht. Ich fühlte nämlich so gut wie gar nichts!
Ich heulte, weil ich in einem Körper gefangen war, der nicht das machte, was ich wollte. Zumindest nicht in den Wochen, seitdem ich in diesem blöden Zimmer aufgewacht war. Inzwischen war ich in ein anderes verlegt worden. Hatte zig Therapien zu bewältigen, die meine Wut nur umso mehr anfachten. Meine Unfähigkeit, mich zu bewegen wie ich es gewöhnt war, machte mich wahnsinnig. Hinzu kamen die quietschvergnügt in meinem Hirn herum hüpfenden Gedanken, dass Alan und sein beschissenes Rudel versucht hatten mich umzubringen.
Anders konnte ich mir den Unfall auf einer schnurgeraden Straße nicht erklären.
Besonders, weil ich mich nicht erinnerte.
Wie hatten die mich bloß dort finden können? Dumm nur, dass sie geglaubt hatten, ich wäre tot. War ich nicht.
Ätsch-bätsch.
Auch wenn ich mich ab und fragte, ob totsein wirklich das schlimmere Übel wäre. Tja, Herr Kotzbrocken Garu, es hat nicht funktioniert. Ich lebe noch!
Irgendwie.
Verdammt, hatte ich ihm wirklich derartig wenig bedeutet, dass er nicht nur unsere Beziehung, sondern auch gleich noch mein Leben beenden konnte? War in seinem Herzen nicht das kleinste Plätzchen Platz für mich? Er mochte mich nicht lieben, aber…
Egal, es war passiert. Alan hatte mich auf die Abschussliste gesetzt.
Wortwörtlich.
Trotzdem gestattete ich es mir nicht, ängstlich zu sein. Angst würde meine momentane Hilflosigkeit schüren. Was unweigerlich darauf hinaus liefe, dass ich mich nicht nur von ihr und meiner Wut, sondern auch noch einer nahenden Depression beherrschen ließe. Darauf konnte ich gut und gerne verzichten. Dennoch war es beunruhigend, dass bisher niemand versucht hatte, mir erneut nach dem Leben zu trachten. Entweder war ich durch meine Nahtoderfahrung bereits vollkommen aus dem Rudel entfernt oder die Gestaltwandler fanden es witzig, mich im Unwissenden zu lassen.
So durfte ich wild spekulieren, wann und ob ein weiterer Anschlag geplant war.
Ich schob diese Überlegungen in die dunkelste Ecke meines Kopfes und konzentrierte mich wieder auf Dominiks Anweisungen. Ich war nicht gelähmt, aber meine Muskeln waren derart verkümmert, dass ich erst wieder lernen musste sie zu gebrauchen. Kein Wunder. Nach dem ersten Schock, wie lange ich im Koma gelegen hatte, fand ich mich allmählich damit ab, dass mir mehr als sieben Monate fehlten.
32 Wochen!
Und jetzt musste ich die Quintessenz dieser anhaltenden Bewegungslosigkeit ausbaden. Schöne Scheiße!
Ich hatte nicht nur mehr als ein halbes Jahr meines Lebens, sondern sogar meinen Geburtstag verpasst! Heiliger Bimbam, ich bin 31!
„Weinen Sie, Samantha?“ Mürrisch schüttelte ich den Kopf und biss die Zähne zusammen. Meine Hände hatten sich um die Stange des starren Laufbandes verkrampft, auf dem ich mich bemühte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Gut, dann machen Sie weiter. Konzentrieren Sie sich. Erinnern Sie sich, wie es funktioniert.“ Wäre Dominik kein Sklaventreiber, der sich als Therapeut verkleidet hatte, hätte ich ihn möglicherweise als gut aussehend bezeichnet. Ich schätzte ihn etwas jünger als mich, vielleicht Mitte zwanzig. Sein Haar lag in kleinen, braunen Wellen um sein schmales Gesicht, das dennoch sehr maskulin wirkte. Sein kantiges Kinn war angespannt, seine vollen Lippen zusammengepresst und seine Mundwinkel kräuselten sich in gezierter Zurückhaltung. Fast, als hielte er mit aller Macht einen entnervten Schrei zurück. Dominik war ein wenig größer als ich und recht muskulös.
Nicht wie ein Gestaltwandler. Seine Figur erinnerte mehr an einen Vampir. Aber ihm fehlte das gewisse Etwas. Die legere Gleichgültigkeit vielleicht. Daraus schloss ich, dass er ein Mensch sein musste. Freilich hätte ich seine Energiepunkte checken können. Doch solange ich meinen Körper nicht vollständig beherrschte, hatte ich Angst davor.
Ganz ehrlich.
Wer sagte mir denn, dass ich nicht aus Versehen meine Eigenschaften als Saphi freisetzte? Mich wunderte eh, dass das während meines Komas nichts passiert war. Hatten auch diese Fähigkeiten geschlummert?
„Wo sind Sie nur mit ihren Gedanken?“ Dominiks Stimme war so dicht neben meinem Ohr, dass ich beinah einen Sprung nach hinten gemacht hätte. Allerdings wäre es nur der Versuch gewesen. In Wahrheit wäre ich umgefallen. Ziemlich elegant … jaaha … wie ein Mehlsack. Ein großer. Von daher konnte ich wirklich von Glück reden, dass ich nicht mehr allzu schreckhaft war.
Oder meine Reaktionen selbst von einer Schnecke im Winterschlaf noch überholt werden konnte.
Mein Herz allerdings trommelte heftig gegen meinen Brustkorb. „Jetzt geben Sie sich ein bisschen mehr Mühe. Sie schaffen das, Samantha. Sie müssen es nur wollen!“
Geee-nau. Und wenn ich dich lang genug anstiere, siehst du aus wie meine Mutter.
Zischend atmete ich die Luft zwischen den Zähnen aus. Gleichzeitig brüllte ich mein Bein gedanklich an sich endlich von dem scheiß verfickten, blöden Boden zu lösen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es, mein Knie zu beugen und meinen Fuß einen – oder vielleicht auch zwei – Zentimeter anzuheben. So konnte ich mein Bein, ähnlich einem Schlurfen, nach vorn schieben. Von Gehen konnte keine Rede sein.
Aber hey!
Noch vor drei Tagen hatte ich nicht mal stehen können.
Danach war ich unendlich froh, als ich wieder im Bett lag. Noch besser, es war Essenszeit. Schöner wäre es natürlich gewesen, wenn mich jemand gefüttert hätte. Aber ich musste allein dafür sorgen, dass sich meine Hand mit der Gabel an meinen Mund bewegte. Ohne die Gabel fallen zu lassen. Oder das Essen, was sich darauf befand.
Und ohne meinen Mund zu verfehlen!
Pah, wie war Dominik nur auf diese Idee gekommen? Sollte er mich nicht unterstützen? Es kam mir eher so vor, als würde er mich absichtlich quälen. Natürlich wusste ich, dass es nur zu meinem Besten war. Trotzdem – verdammter Bockmist – es war furchtbar. Verdammt schwer.
Einfach zum Kotzen!
Nie im Leben hätte ich mir ausgemalt, alles von vorn lernen zu müssen. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, aus meiner Haut fahren zu können. Hätten die scheiß Gestaltwandler das auch richtig machen können? Dann wäre ich jetzt zwar tot, würde aber auch nicht in diesem unnützen Gestell aus Haut, Knochen und unbrauchbaren Muskeln feststecken. Abermals füllten sich meine Augen mit Tränen, die ich schnell fort blinzelte. Alan würde es nicht schaffen, mich zu brechen. Selbst wenn das bedeutete, dass ich dafür mit Dominik, dem Sklaventreiber, jeden Tag eine mehrstündige Verabredung hatte.
Alan würde ich es zeigen!
Ich, Samantha Bricks, war nicht totzukriegen. Ich wollte verflucht nochmal leben.
Richtig leben.
Ohne Einschränkungen.
Mein Herz war nach wie vor nicht geheilt. Doch mit genügend Abstand – hey, ich hatte immerhin schon ein paar Monate ohne ihn ausgestanden – käme ich über diesen eingebildeten Lackaffen hinweg. Von jetzt an musste ich nicht mehr fürchten, dass ich halbjährlich mit ihm konfrontiert wäre. Wegen des Rituals. Abgesehen von der immer noch bestehenden Möglichkeit, dass das Rudel erst aufgab, wenn ich tatsächlich zwei Meter tief unter der Erde lag. Oder waren es drei Meter? Egal. Ich musste schnellstmöglich wieder auf die Beine kommen. Dann konnte ich mir immer noch Gedanken darüber machen, wie ich den Gestaltwandlern entkäme. Notfalls mussten eben sie dran glauben.
Eine zweite Chance bekamen sie nicht.
Ich war vorgewarnt.
Die nächsten Wochen kämpfte ich.
Jeden Tag gab ich mein Bestes. Versuchte, so schnell wie möglich meine alte Form zurückzuerlangen. Fehlschläge einzustecken und mir diese auch einzugestehen, gehörte ebenso dazu wie die winzig kleinen Fortschritte. Dominik holte mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Glücklicherweise ließ er auch ein Lob niemals aus. Verwirrend waren jedoch die Momente, in denen ich Besuch bekam. Von meiner Familie fast täglich. Doch immer öfter kam auch Steward Bingham in mein Zimmer, fragte mir Löcher in den Bauch und informierte sich über meine Fortschritte.
Nickend nahm er sie hin.
Ob das gut oder schlecht war? Keine Ahnung.
Nebenher erfuhr ich etwas Wichtiges: Ich hatte es ihm zu verdanken, dass ich überhaupt noch unter den Lebenden weilte. Ohne sein Blut wäre ich meinen Verletzungen erlegen. Allerdings schaffte es kein noch so starkes Vampirblut oder irgendwelche Magie, egal welcher Spezies, eine Heilung vollkommen zu machen. Steward hatte mir quasi die Möglichkeit gegeben. Einen Strohhalm. Aber nutzen musste ich ihn selbst. Nun, das war besser als in einem Sarg zu liegen. Die Tatsache, dass Vampirblut sich mit jedem Blut vermischen ließ, war interessant. Menschen konnten untereinander nicht wahllos Blut spenden. Vampire schon. Zugegeben, rein menschlich war ich nicht. Abgesehen von meinen movere-Genen wohnte in mir schließlich auch ein winziges Teilchen eines Ker-Lon. Mächtige Dämonen, deren Blut giftig für Vampire war. Ein Grund, weshalb ich mich nicht mehr vor einem Biss fürchtete.
Denn nur die Beimischung der Enzyme während eines Bisses waren für movere gefährlich. Das Blut eines Vampirs an sich nicht. Allerdings war das mit dem Ker-Lon-Anteil in mir eine Sache, die ich liebend gern vor meiner Familie und der normalen Welt verheimlicht hätte. Mir blieb jedoch nicht erspart, dass ich unzähligen Tests unterzogen wurde. Ich hatte jedoch so eine Ahnung, dass Steward die ein wenig… nun ja… frisierte. Nebenbei erfuhr ich auch, dass ich während meines Komas einige Technik zerstört und mich mit Hilfe meiner eigenen Energie hatte reanimieren können.
Wow.
Ich war sozusagen mein eigener Defibrillator!
Ein Glück, dass ich die medizinischen Geräte nicht zu erstatten hatte. Ich litt zwar nicht an akutem Geldmangel, aber das Krankenhaus war gegen jedwede Eventualitäten abgesichert. Der Tatsache, dass mein Konto stets gedeckt war – ähm, ich hatte eigentlich mehr als eins – war es auch zu verdanken, dass ich nach wie vor eine Wohnung besaß.
Oh, mir fiel ein, dass ich drei Aufträge in den Sand gesetzt hatte. Nicht wortwörtlich. Aber sie nicht auszuführen, kam dem ziemlich nah. Bingham war nur einer meiner Kunden, dem meine Dienstleistung nicht zur Verfügung gestanden hatte. Ich war dementsprechend ziemlich froh zu hören, dass sein Auftrag immer noch existierte. Er wollte niemand anderen. Nur mich.
Ha, ich fühlte mich gleich viel besser.
Ehrlich!
Ob ich Steward sagen sollte, dass ich auf der Abschussliste der Gestaltwandler stand? Ich entschied mich, dieses unwichtige Detail für mich zu behalten. Wenn es so weit war – und ich würde mich weiß Gott nicht auf einen Präsentierteller vor Alans Rudel legen – würde Bingham das schon bemerken.
Weitere Wochen vergingen, bis ich in der Lage war, kurze Spaziergänge zu machen. Selbst wenn die auf mich die Wirkung eines Marschs quer durch Europa hatten; ich mich mit dem atemberaubenden Tempo eines Faultiers und der Grazie eines Nilpferds bewegte. Dennoch genoss ich es, mich an der frischen Luft zu verausgaben. Solange es nicht regnete. Das tat es ziemlich oft Ende September. Wenn Dominik mich nicht begleitete, tat es meine Mutter. Oder Steward Bingham. In seiner Gegenwart kam ich mir allerdings vor wie ein schwaches Kind.
War ich in seinen Augen bestimmt auch.
Sogar Chris und zwei Freundinnen besuchten mich regelmäßig, obwohl ich die beiden in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt hatte. Meine unbeholfenen, uneleganten Bewegungen ließen mich neben ihnen – oder eigentlich neben jedem – aussehen wie eine altersschwache, gebrechliche Frau.
Ich hasste es, nicht richtig zu funktionieren.
Hinzu kam die Sorge, dass Alans Rudel nur darauf wartete, erneut zuzuschlagen. Obendrein die Befürchtung, dass ich meine Fähigkeiten als Saphi nicht unter Kontrolle haben könnte. Deswegen kam ich gar nicht erst in Versuchung diese zu testen.
Natürlich spürte ich den Energieabfall in meinem Körper. Aber da die Energie auf diesem niedrigen Level im Moment konstant blieb, hatte ich zumindest das Bedürfnis, mich zu nähren, im Griff. Sogar bei Gewitter. Bloß gut, dass ich herausgefunden hatte, dass es mir leichter fiel dessen Elektrizität zu ignorieren, sobald sich jemand in meiner unmittelbaren Nähe befand. Egal wer. Nun ja, sagen wir so: Steward war zufällig da gewesen. Während meines Komas war ebenfalls ständig jemand an meiner Seite gewesen, so dass niemandem etwas aufgefallen sein dürfte. Falls es in der Zeit ein Gewitter gegeben hatte. Ansonsten hätte man mich sicher schon längst in einen faradayschen Käfig gesperrt und mich darin – zu Untersuchungszwecken – verrotten lassen.
Wochen vergingen.
In denen lernte ich meinen Körper neu kennen. Ich war zwar noch immer nicht die Alte, aber ich konnte mich zumindest wieder wie ein Mensch bewegen.
Ein normaler Mensch – kein movere.
Meine Fähigkeiten waren nach wie vor vorhanden. Doch ich hatte Angst, mich diesen gegenüber zu öffnen. Auch nicht nach der anschließenden Reha. Solange dieses Problem bestand, würde ich allerdings arbeitslos sein.
Auch für Bingham.
Doch der schien außerordentlich geduldig zu sein – was den Gegenstand betraf, den ich für ihn zurückholen sollte. „Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Überstürze nichts.“ Nein, das hatte ich auch nicht vor. Ganz bestimmt nicht!
In all der Zeit hatte ich Unterstützung von meiner Familie, von Steward und von Freunden, die ich geglaubt hatte, seit langer Zeit aus den Augen verloren zu haben.
Doch zu keinem Zeitpunkt von einem aus Alans Rudel. Das erhärtete meine Theorie, dass sie hinter dem Unfall steckten und machte es zur gnadenlosen Gewissheit. Sie warteten ab, bis ich wieder hergestellt war. Das ergab in meinen Augen keinen Sinn. Ich wollte ihnen jedoch auf keinen Fall unterstellen, plötzlich fair spielen zu wollen.
Ende Januar 2118 war ich endlich wieder daheim – obwohl man mich noch eine Weile hatte beobachten wollen. Denn aus ungeklärter Ursache trat ich hin und wieder weg. Licht aus; Augen zu; aus die Maus. Fiel einfach um. Mein Blutdruck war normal. Auch alle anderen Körperfunktionen zeigten keinerlei Abweichungen. Selbst meine Gehirnaktivitäten wichen nicht von der Norm ab. Doch da ich das letzte Mal kurz vor Weihnachten umgekippt war, sah man keine Notwendigkeit, mich weiterhin beobachten zu müssen. Mein Arzt meinte, damit müsse ich wohl leben. Vielleicht sei es einfach nur der Stress. Oder die Vorfreude, endlich wieder heimzukommen.
Tja, drei Weihnachten hintereinander in den Sand gesetzt… schlimmer konnte es kaum kommen, oder?