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ZWEI

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»Ich darf nicht sehr oft aus dem Haus gehen«, flüsterte ich schüchtern und kauerte mich im Bürostuhl zusammen. »Und es ist beängstigend für mich, in der Öffentlichkeit zu sein.«

»Wag. Es. Nicht!«, drohte meine Mutter, während sie sich offensichtlich bemühte, nicht laut loszulachen.

Wir saßen im Sprechzimmer des Lungenfacharztes. Ich war etwa zwölf Jahre alt und litt an schwerem, hartnäckigem Asthma. Die Klinik schrieb eine jährliche Untersuchung vor, bei der nicht nur mein Arzt, sondern auch ein Sozialarbeiter und ein Kinderpsychologe anwesend waren. Da das Krankenhaus einer Hochschule angehörte, begleiteten den Arzt manchmal ein oder zwei Studenten.

Das Homeschooling-Konzept war in den Neunzigerjahren noch nicht besonders weit verbreitet. Wenn die für mich zuständigen Ärzte erfuhren, dass ich zu Hause unterrichtet wurde, stellten sie mir für gewöhnlich viele Fragen. Deshalb hatte ich das etwas gemeine Verlangen, alle Klischees in Bezug auf den Hausunterricht auszupacken, nur um zu sehen, wie sie reagieren würden.

»Du schaffst es noch, dass wir beide gemeldet werden!«, sagte meine Mutter mit einem Grinsen. Wir lachten immer noch, als der Psychologe und ein Student das Behandlungszimmer betraten und fragten, was denn so lustig sei. Ich erzählte es nicht, obwohl ich wusste, dass sie leider oft gute Gründe hatten, Fragen zu stellen.

Eigentlich liebte ich diese Klinik. Mein Lungenarzt war großartig, und seine Krankenschwester Margaret mochte ich schon, seit ich ganz klein war. Kurz nach diesem Besuch wechselte Margaret in eine Forschungsabteilung, aber sie kam auch später noch jedes Mal vorbei, um mich zu sehen, wenn ich einen Termin hatte.

Ich liebte es auch, zu Hause unterrichtet zu werden, und das nicht nur wegen des vielen Materials, das es für Insider-Witze bot. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, waren unbezahlbar. Meine Eltern glaubten an den Wert von Fleiß und einer positiven Arbeitshaltung, deshalb hatte ich neben der Schularbeit auch mehrere Jobs, für die ich verantwortlich war. Mit elf Jahren ging ich babysitten, und bevor ich Teenager wurde, hatte ich schon einen Teilzeitjob als Kindermädchen. Das bedeutete manchmal, dass der Unterricht abends, am Wochenende oder früh am Morgen stattfinden musste, damit ich meine Aufgaben erledigen konnte, bevor ich fürs Babysitten abgeholt wurde. Doch es bedeutete auch, frühzeitig mit Zeit und Geld umgehen zu lernen.

Meine Mutter las uns jeden Tag laut vor, und auch mein Vater kam oft dazu. Er konnte uns Ausschnitte aus Der Hobbit und Herr der Ringe mit einer Gollum-Stimme vorführen, dass wir Gänsehaut bekamen. Als ich auf der Mittelstufe war, meldete ich mich über eine lokale Homeschool-Vereinigung für einen Rhetorik- und Debattierkurs an, mit dem ich eine weitere Liebe entdeckte. Ich hielt nicht besonders gerne informative Vorträge, aber überzeugende Rhetorik und Debattieren waren eine ganz andere Sache. Ich lernte, wie man Fragen anhört und beantwortet, wie man ein Gegenüber ins Kreuzverhör nimmt, wie man Beweise sammelt und einsetzt und wie man Informationen nutzt, um einen Fall aufzubauen. Ich liebte die intellektuelle Herausforderung, die dafür notwendig war.

Meine Eltern versuchten bewusst, mich und meine Geschwister in die Gesellschaft zu integrieren und uns zu dienstbereiten Menschen zu erziehen. Praktischerweise ermöglichte uns unser flexibler Stundenplan, an einer Vielzahl von freiwilligen Tätigkeiten teilzunehmen. Wir sollten lernen, Menschen jeden Alters und jeder Herkunft mit Offenheit und Liebe zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen – nicht als besonderes Projekt, sondern als Bestandteil des täglichen Lebens.

Mit etwa zehn Jahren organisierten meine Freundinnen und ich einmal ein Familienfest, um Geld für eine gemeinnützige Organisation zu sammeln, die sich um Frauen in Krisensituationen kümmerte. Wir Mädchen hatten Stunden damit verbracht, Schmuck zu basteln, um ihn zu verkaufen – je knalliger und greller, desto besser. Es gab Spiele, eine Verlosung und unseren Stand voll ziemlich nutzloser, selbst gemachter Handarbeiten, die die Leute aus reiner Gutherzigkeit kauften, um den Dienst zu unterstützen.

Michelle und ich kannten uns schon seit jenem schicksalhaften Tag in unserem Garten, als wir uns feierlich die wichtigste Frage stellten, die sich zwei Fünfjährige stellen können: »Willst du meine Freundin sein?« Wir stimmten beide zu. Ihre ältere Schwester Sarah wurde automatisch Teil unserer Clique, kurz darauf schlossen sich Katie und Jessie unserem Trio an. Über die Jahre hinweg fanden wir viele Möglichkeiten, uns gegenseitig herauszufordern und zu amüsieren. Zum Beispiel die Übernachtungen, bei denen wir an mehreren aufeinanderfolgenden Nächten von Haus zu Haus zogen. Das hatte alle möglichen Abenteuer zur Folge – Sackhüpfen in einem halben Meter Neuschnee in der Winterlandschaft von Michigan, spätabendliche Schnitzeljagden im Supermarkt und mitternächtliche Gespräche im Überfluss.

Meine Eltern versuchten uns Kindern beizubringen, in einer Art und Weise zu lieben, die ich zu der Zeit noch nicht ganz verstand. Sie lehrten uns, dass wir im Leben mit so ziemlich jedem auskommen würden, wenn wir auch in Konflikten und schwierigen Lebenssituationen lernten, anderen mit Liebe und Hilfsbereitschaft zu begegnen. Und sie hatten recht. Wir kannten all die normalen Zankereien unter Geschwistern, aber wir lernten auch früh, Kompromisse zu schließen, uns zu entschuldigen und in guter Weise miteinander umzugehen. Unsere Eltern lebten uns vor, dass die Liebe die Grundlage für alles war und nicht die Autorität. Liebe unterdrückt nicht, Liebe strebt danach, zu kommunizieren und zu verstehen. Liebe ist demütig und gibt Fehler zu, sie versucht, den Schaden zu beheben. Liebe beschützt.

Hinter alldem stand die Liebe zu Jesus Christus. Meine Eltern hatten die verblüffende Fähigkeit, Wahrheiten aus der Bibel in fast jede Situation einzuflechten. So wurde mir die Tatsache, dass ich eine Sünderin war und Vergebung brauchte, durch ein äußerst ungewöhnliches Mittel bewusst: Toilettenpapier.

Ich war im stattlichen Alter von drei Jahren und fasziniert von den Kartonrollen, auf die das Toilettenpapier gewickelt war. Man hatte so viele fantasievolle Möglichkeiten, wenn man ein paar dieser Mehrzweck-Papprollen besaß. Eines schicksalhaften Tages war plötzlich keine leere Toilettenpapierrolle mehr zu finden, und ich brauchte für das aktuelle Abenteuer, das ich mir in meinem störrischen kleinen Kopf ausgedacht hatte, unbedingt eine. Also schlich ich ins Badezimmer – ganz leise, da ich wusste, dass mein Vorhaben streng verboten war – und lief auf Zehenspitzen zu der vollen Toilettenpapierrolle. Hinter der geschlossenen Tür begann ich nun verstohlen, das Papier abzuwickeln, um an die ersehnte Papprolle darunter zu gelangen – bis ich nach einiger Zeit bemerkte, dass meine illegale Aktion eine ziemlich offensichtliche Spur hinterlassen hatte, die sich quer über den Fliesenboden zog. Unbeirrt legte ich eine Pause ein und begann stattdessen, meine Arbeit zu vertuschen, indem ich all das abgewickelte Papier einfach direkt in die Toilette stopfte. In dem Moment, als ich mich kurz fragte, ob sich wohl alles hinunterspülen lassen würde, fand mich meine Mutter – noch immer eifrig die Toilette vollstopfend.

Mama, die sehr gut darin war, Parallelen zu ziehen, fragte mich ganz ruhig, was ich denn tun würde. Ich kannte das Wort dafür: Sünde. Ich hatte mich entschieden, gegen das zu rebellieren, was mir gesagt worden war.

Während wir auf unserer karierten Couch saßen und die Morgensonne durchs Fenster hereinschien, stellte meine Mutter den Zusammenhang für mich her. Ich war nicht die Einzige, die ungehorsam gewesen war, auch Adam und Eva waren es gewesen. So wie sie ohne Erfolg versucht hatten, ihre Sünde zu verbergen, waren auch meine Bemühungen, meine »Sünde« zu vertuschen, erfolglos gewesen. Und auch wenn ich noch so viel Gutes tat, würde das die begangene Schuld nicht rückgängig machen. Ich verstand. Ich setzte die Puzzleteile zusammen und erkannte in meinem kleinen Kinderherzen, wie sehr ich einen Retter brauchte. Auf der Stelle tat ich Buße für meine Sünde, bat Jesus, mir zu vergeben – und wurde so zum schlimmsten Albtraum unseres Pastors: eine sture Dreijährige, die darauf bestand, getauft zu werden.

Meine Sünden waren mir vergeben worden und ich wusste genau, was nun zu folgen hatte. Ich sollte es öffentlich verkünden, dass ich nun zu Jesus gehörte, und allen weitererzählen, was er getan hatte. Also eilte ich am nächsten Sonntag eifrig zu unserem Pastor und erklärte ihm, was geschehen war und was ich nun tun wollte. Für ihn jedoch schien die Angelegenheit weniger eindeutig zu sein. Er druckste herum und erklärte meinen Eltern schlussendlich, dass er Kinder erst mit mindestens acht Jahren taufte. Ich war frustriert und am Boden zerstört.

»Er hindert mich daran, Jesus zu gehorchen!«, protestierte ich. »Glaubt er denn nicht, dass ich wirklich gerettet bin?«

Am darauffolgenden Sonntag redete ich erneut auf ihn ein. Ebenso am nächsten und am übernächsten. Doch er blieb standhaft, und mein verzweifelter Wunsch, gehorsam zu sein, wurde nur noch größer. Irgendwann erkannte mein Vater, dass ich keine Ruhe darüber finden würde, bis ich getan hatte, was ich für das Richtige hielt. Also stellte er an einem heißen Sommertag unser kleines blaues Planschbecken im Garten auf, hängte den Gartenschlauch hinein und füllte es. Er wusste, dass ich Jesus gehorchen wollte, also sagte er mir, dass er mich an Ort und Stelle taufen würde, damit ich öffentlich meinen Glauben bekennen konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ins kalte Wasser kletterte und mich hinkniete. Ich gab mein Zeugnis und sagte meinen Lieblingsvers auf. Dann hielt ich mir die Hände vors Gesicht und mein Vater taufte mich. Auch an die Erleichterung kann ich mich erinnern und an die Freude, die meine Seele so spürbar überkam wie das kalte Wasser, das an mir herabtriefte. Ich war gehorsam gewesen.

Als ich dann endlich das magische Alter erreichte, das mein Pastor für die »echte« Taufe vorgesehen hatte, nahm ich freudig daran teil. Doch ich wusste genau, dass es nur eine Fortsetzung dessen war, was ich bereits vor Jahren ausgedrückt und begonnen hatte.

Das Vorbild der sich aufopfernden Liebe, das Christus am Kreuz vorlebte, war die Richtschnur für das Leben, das meine Eltern führten. Ihre Liebe zu uns war nicht von der Art Autorität geprägt, in der es darum ging, wer das Sagen hatte. Es war vielmehr eine Liebe, die sich ganz für uns einsetzte. Auch in alltäglichen Dingen, indem sie sich zum Beispiel die Zeit nahmen, die Sorgen eines Kleinkindes oder die eines gereizten Teenagers anzuhören. Sie brachten uns bei, dass ihre Autorität nur begrenzt notwendig war, was bedeutete, dass sie ihre Entscheidungen mit uns besprachen, unsere Meinungen anhörten und respektierten, und sich mit uns zusammensetzten, um gemeinsam Lösungen zu finden. Das hieß nicht, dass kein Gehorsam nötig war oder dass wir sie dazu überreden durften, ihre Meinung zu ändern. Aber wir konnten jederzeit und mit allen Belangen zu ihnen kommen und wurden ernst genommen. Gleichzeitig konnten wir ihren Entscheidungen vertrauen – auch denen, die uns nicht gefielen –, weil wir ihnen vertrauten.

Doch ich lernte nicht nur, dass Liebe zuhört und hört, sondern auch, dass Liebe handelt und beschützt.

Als ich etwa sieben Jahre alt war, hatten meine Geschwister und ich uns den ganzen Tag über gezankt, über jede Kleinigkeit gejammert und uns schlichtweg geweigert, Mama zu gehorchen, wenn sie uns etwas auftrug. Gegen Ende des Tages hatte sie genug und flüchtete an den einzigen Ort, an dem eine Mutter gelegentlich die Tür abschließen und sie auch geschlossen lassen kann – das Badezimmer. Als meine Geschwister und ich erkannten, dass wir uns selbst überlassen waren, hörten wir sofort auf zu streiten und wurden zu Komplizen, die ihre Unabhängigkeit in vollen Zügen genossen. In trotziger, ausgelassener Freude hüpften wir so hoch und so wild wir konnten auf den Betten unseres Zimmers herum und katapultierten mit jedem Sprung Stofftiere und Babypuppen durch die Gegend. Wir wussten ganz genau, dass Mama schon lange über den Punkt hinaus war, an dem sie uns hätte aufhalten können. Natürlich hegten wir alle den leisen Verdacht, dass sich unsere wilde Party am Ende nicht lohnen würde. Doch da wir die Grenze, von der an es kein Zurück mehr gab, bereits überschritten hatten, wollten wir es in vollen Zügen genießen. Bis Papa nach Hause kam.

Schon kurze Zeit später hörten wir ihn im Flur nach unserer Mutter rufen, die sich noch immer im Badezimmer aufhielt. Wir wurden sofort still. Die Puppen hörten auf, durchs Zimmer zu fliegen, und wir rutschten ernüchtert, und mit dem unangenehmen Gefühl, dass uns Ärger drohte, von den Betten. Einige Augenblicke später kam unser Vater aus dem Badezimmer und rief nach mir. Sein ernster, tiefer Tonfall war ein Vorbote dafür, dass der Spaß nun definitiv vorbei war und die Abrechnung bevorstand. Ich ging in der Erwartung zu ihm, zu hören zu bekommen, wie ungezogen wir gestritten hatten oder auf den Betten herumgesprungen waren und dass wir für unser Verhalten bestraft werden würden. Stattdessen verlagerte er den Fokus.

»Hast du gewusst, dass deine Mutter im Badezimmer sitzt und weint?«, wollte er wissen.

Ich hatte nicht geahnt, dass es so schlimm war, obwohl das ihre Abwesenheit in den letzten dreißig Minuten erklärte. Schweigend schüttelte ich den Kopf.

»Das ist meine Frau.« Seine Stimme drückte unmissverständliche Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit aus. Ich spürte, wie sich eine Last auf meine Schultern legte.

»Das ist meine Frau«, wiederholte er. »Dein Verhalten heute hat meiner Frau wehgetan, und du musst eines wissen: Ich liebe sie und ich werde sie beschützen.«

Ich weiß heute nicht mehr, welche Konsequenzen es gegeben hatte, gegen die Regeln zu verstoßen. Aber an eines erinnere ich mich ganz genau: Meine Mutter wurde beschützt. Und sie wurde beschützt, weil mein Vater sie liebte.

Was ich ebenfalls lernte war, dass Liebe danach strebt, aufeinander zuzugehen und den anderen zu verstehen. Auch das war Bestandteil der Liebe, die mir vorgelebt wurde.

An einem warmen Sommertag schaute meine Mutter gerade noch rechtzeitig aus ihrem Schlafzimmerfenster, um zu sehen, wie ich mich mit einem gewaltigen Satz auf meinen kleineren, fünfjährigen Bruder stürzte. Ich war kein aggressives Kind, aber in jenem Sommer war ich ständig wütend. Ich hatte starke Allergien und bekam wöchentlich Spritzen, zudem lief meine Behandlung nicht besonders gut. Mein Arzt war ein düsterer, ernster Mann. Er war groß, dünn und kahl und sah auf unheimliche Weise wie Captain Jean-Luc Picard von Star Trek aus – nur ohne das entwaffnende Lächeln und die freundliche Stimme.

Er kümmerte sich gewissenhaft um seine Patienten, aber seine Fürsorge äußerte sich in unverblümten, schroffen und sachlichen Eigenarten, die wenig dazu beitrugen, dass ich mich umsorgt fühlte oder offener für die wöchentlichen Injektionen wurde. Es half auch nicht, dass er das Serum selbst mischte, um die richtige Dosierung zu erhalten, was zu einem grauenvollen Kreislauf aus Versuch und Irrtum führte, der sehr schwere und oft schmerzhafte Reaktionen auslöste.

Damals merkte ich selbst nicht, wie wütend ich war. Ich wusste nur, dass ich keine Wahl, keine Stimme und keine Möglichkeit hatte, die Behandlung zu beenden. Aber meine Mutter verstand mich. Zuerst rettete sie meinen Bruder und stellte sicher, dass es ihm gut ging, dann holte sie mich nach drinnen. Ich wusste, dass ich jetzt fällig war. Doch statt mich sofort zu bestrafen oder wütend zu sein, beugte sich meine Mutter zu mir herunter und umarmte mich.

»Ich weiß, dass du gerade wütend bist«, sagte sie. »Das ist keine einfache Zeit für dich und du hast keine andere Wahl, als das zu ertragen, was dir wehtut. Ich weiß, dass es wirklich schwer für dich ist.«

Sie sprach mit mir über alles – wie krank ich war und wie frustriert und wütend ich mich fühlen musste, weil ich gezwungen war, etwas so Schmerzhaftes zu erdulden.

»Ich kann nicht zulassen, dass du anderen wehtust«, sagte sie mir. »Aber ich will dir helfen, das hier durchzustehen und Wege zu finden, deine Gefühle auszudrücken, ohne andere zu verletzen.« Und dann weinte sie mit mir.

Liebe versucht zu verstehen und zu kommunizieren. Statt frustriert und wütend darüber zu sein, was ich getan hatte, versuchte mich meine Mutter mit Liebe zu erreichen, ohne dabei die Wahrheit zu beschönigen oder andere ungeschützt zu lassen.

Auch meine Eltern baten um Entschuldigung, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Die Verantwortung für getroffene Entscheidungen zu übernehmen, war in unserer Familie genauso wenig verhandelbar wie demütig genug zu sein, falsche Entscheidungen zuzugeben und um Vergebung zu bitten. Es war einer der Aspekte unseres Familienlebens, die ich am meisten schätzte, weil ich gesehen hatte, was geschehen konnte, wenn dies nicht der Fall war.

In meiner frühen Kindheit erlebte ich, wie eine uns nahestehende Familie infolge von Missbrauch auseinanderbrach. Der Vater hatte ein massives Wutproblem. Wenn irgendetwas nicht nach seinem Willen lief, ließ er es an seiner sanften Frau und seinen kleinen Kindern aus. Nicht körperlich, doch sein verbaler, emotionaler und psychischer Missbrauch hinterließ Wunden auf ihren Seelen, die nicht weniger schmerzhaft waren als Faustschläge. Er hatte immer Gründe und verteidigte sich damit, sie hätten etwas getan, um seine Wut zu verursachen. Hin und wieder gab er zwar zu, dass er anders hätte reagieren sollen, doch auf seine Entschuldigungen folgte immer ein »Aber ihr …!«.

Der Tag, an dem sich alles zuspitzte, war meine erste Erfahrung mit einem Missbrauchsopfer.

Die Frau war in ihren Dreißigern. Ich war neun und werde nie vergessen, wie ich auf Zehenspitzen stand und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, während ich die weinende Frau umarmt hielt. Mir war ganz schlecht vor Kummer über das, was man ihr angetan hatte. Meine Eltern sprachen in der Zeit oft mit uns Kindern über die unschönen Situationen, die wir zwangsläufig miterlebten. Sie hatten uns beigebracht, das Licht zu lieben und zu schätzen – nun war es ihnen wichtig, dass wir auch die dunklen Seiten des Lebens kennenlernten.

»So verhalten sich Menschen, die andere missbrauchen«, erklärten sie uns. »Alles dreht sich nur um sie. Sogar wenn sie sich entschuldigen, konzentrieren sie sich auf sich selbst – wie ihnen Unrecht getan wurde oder was sie ihrer Meinung nach alles richtig gemacht haben –, um so den Fokus vom Leid abzulenken, das sie verursacht haben. Sie übernehmen nie wirklich die Verantwortung für irgendetwas.« Solche Menschen schieben die Schuld immer auf andere, sagten sie. Aber die Liebe tut das nicht. Die Liebe kümmert sich zuerst um den Schaden, der der anderen Person zugefügt wurde. Und im Gegensatz zu Missbrauch entschuldigt oder verharmlost die Liebe kein Fehlverhalten.

»Wenn du jemandem wehgetan hast und dich entschuldigen musst, sagst du: ›Das und das tut mir leid‹, und fertig. Du machst einen Punkt. Du sagst nichts, um das, was du getan hast, zu rechtfertigen, zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Du bist immer für deine Entscheidungen verantwortlich, unabhängig davon, was jemand anderes getan hat.« Diese Art von Liebe lebten mir meine Eltern jeden Tag vor.

Mit neun Jahren lernte ich so die Kennzeichen von Missbrauchstätern zu erkennen. Und noch etwas lernte ich aufgrund meines schweren Asthmas und meiner Allergien schon früh: dass selbst die gutmütigsten Ärzte Behandlungspläne verfolgten, die unangenehm sein konnten. Doch es sollte noch Jahre dauern, bis ich erkannte, wie geschickt sich die verschiedensten Muster von Missbrauch als Aufrichtigkeit tarnen und wie schön sie verpackt sein können.

Wie ich das Schweigen brach

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