Читать книгу Wie ich das Schweigen brach - Rachael Denhollander - Страница 8

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Prolog

4. August 2016, 10:32 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren …

An diesem Morgen hatte ich nicht vorgehabt, eine E-Mail zu schreiben. Mit drei Kindern unter fünf Jahren musste und wollte ich meine Zeit tagsüber damit verbringen, die schlichten, aber reichen Freuden mit den Kleinen zu genießen – und nur wenn es möglich war ein paar Stunden meiner eigenen Arbeit dazwischenzuschieben. Mein Mann Jacob war Vollzeitstudent, der nebenbei jobbte und selten vor dem Abendessen zu Hause war. An diesem Morgen hatte ich mich auf meinem Laptop angemeldet, um die Einkaufsliste zu suchen, die ich am Vorabend getippt hatte. Zufällig war Facebook noch geöffnet, sodass mir die Schlagzeile sofort ins Auge fiel – ein häufig angesehener Nachrichtenartikel, der nur wenige Stunden zuvor gepostet worden war: »Augen vor sexuellem Missbrauch verschlossen: Wie USA Gymnastics es unterließ, Fälle zur Anzeige zu bringen.«

Was für ein Schock. Mein Mann und ich hatten die Leiter unserer Kirchengemeinde gerade erst auf ein ähnliches Problem angesprochen, das eine Gemeinde betraf, die sie unterstützten; die Wunde fühlte sich noch sehr frisch an. Ich sah mich um, um sicherzugehen, dass mein fünfjähriger Sohn, der bereits fließend lesen konnte, nicht in der Nähe war. Dann klickte ich auf den Link.

Was ich las, erfüllte mich mit einer Trauer, die ich nicht ausdrücken kann. USA Gymnastics hatte systematisch Berichte über sexuelles Fehlverhalten in einem Aktenschrank vergraben – Beschwerden von über vierundfünfzig Teamtrainern, in einem Zeitraum von zehn Jahren –, und einige dieser Trainer hatten danach noch jahrelang kleine Mädchen missbraucht. 1 Ich hätte am liebsten geweint. Nur zu gut wusste ich, was diese armen Kinder durchgemacht hatten.

Am Ende des Artikels stand folgender Hinweis: »Der IndyStar wird weiterhin in dieser Sache ermitteln.« Die Redaktion hatte eine E-Mail-Adresse angegeben, an welche die Leser Hinweise senden konnten. Mein Magen drehte sich um. In diesem Moment war ich mir in zwei Punkten ganz sicher.

Erstens hatte ich recht. Der Dachverband United States of America Gymnastics (USAG) hatte Fälle sexuellen Missbrauchs verheimlicht, um das Gesicht zu wahren. Wenn sie ihre Trainer beschützt haben, vermutete ich, hätten sie ihn erst recht beschützt. Sie hätten nie auf mich gehört.

Zweitens war das der Moment, auf den ich fast sechzehn Jahre lang gewartet und gehofft hatte. Jemand hatte aufgedeckt, wie USAG mit sexuellem Missbrauch umging. Das bedeutete, jemand hatte den Mund aufgemacht, und mehr noch, dieser Person war geglaubt worden. Der Artikel verbreitete sich schnell, was wiederum bedeutete, dass die Öffentlichkeit ihm Aufmerksamkeit schenkte.

Gleich dort, mit meinem zahnenden Baby auf dem Rücken, brach ich meine unumstößliche Regel über das Schreiben von E-Mails während des Tages. Vor- und zurückwippend, um die kleine Ellianna ruhig zu halten, tippte ich:

Ich schreibe diese E-Mail, um einen Vorfall zu melden … Nicht von meinem Trainer wurde ich belästigt, sondern von Dr. Larry Nassar, dem Mannschaftsarzt von USAG.

Ich war fünfzehn Jahre alt.

Einen Moment hielt ich inne. Ich wusste genau, was es für mich und meine Familie bedeuten würde, wenn das Team vom IndyStar beschließen sollte, die Geschichte aufzugreifen. Ich wusste schon seit Jahren, was der Preis dafür sein würde. Doch es musste sein, und wenn ich es jetzt nicht tat, würde es vielleicht nie passieren.

Die Patientenakten, in denen meine Behandlung aufgezeichnet ist, befinden sich in meinem Besitz, sie liegen in einem Aktenschrank bei meinen Eltern, ein paar Stunden von hier entfernt.

Ich wusste, dass meine Beweise spärlich waren. Aber an der Art und Weise der Untersuchung des IndyStar erkannte ich, dass die Journalisten etwas von den Auswirkungen sexueller Gewalt verstanden, davon, wie Beweise aussahen und welche Muster man häufig erkennen konnte. Sie hatten die Schattenseite von USAG gesehen, weil sie den Missbrauchsopfern geglaubt hatten. Trotzdem, … ich wusste, wie es sich anfühlte, den Mund aufzumachen und abgewiesen zu werden.

Ich habe Nassar nie irgendwem gemeldet, außer meiner Trainerin, ein paar Jahre später … Mir wurde gesagt, dass ich es bloß niemandem sagen solle, … es würde auf mich zurückfallen. So entschied ich mich dagegen, zur Polizei zu gehen, … mein Wort stand gegen seines … Ich war mir sicher, dass man mir nicht glauben würde.

Unruhig sah ich mich in meiner Küche um.

Wir waren gerade mit dem Frühstück fertig und ich schrieb eine E-Mail, die – wenn sie ihren Zweck erfüllte – unser Leben völlig auf den Kopf stellen würde. Ich schüttelte mich innerlich, unterdrückte entschlossen die in mir aufsteigende Übelkeit und tippte zwei letzte Sätze:

Bisher hatte ich wenig Hoffnung, dass irgendetwas aufgeklärt werden würde, wenn ich an die Öffentlichkeit ginge, deshalb habe ich geschwiegen. Wenn sich das nun ändern könnte, werde ich mich so öffentlich wie nötig äußern.

Dann drückte ich auf Senden.

Wie ich das Schweigen brach

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