Читать книгу Wie ich das Schweigen brach - Rachael Denhollander - Страница 15

VIER

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»Ja!«, kreischte Erin und reckte eine Faust in die Luft.

»Du hast es geschafft! Du hast es geschafft!« Sie schrie so laut, dass man es in der ganzen Halle hören konnte, während sie eine der Turnerinnen stürmisch umarmte. »Ich bin so stolz auf dich!«

Es war Hochsommer und Erin hatte das Training für die Saison übernommen, damit der Betreiber der Turnhalle seine Familie in Europa besuchen konnte. Erin war bei Weitem die lebhafteste Trainerin, die man sich vorstellen konnte, und sie gab alles, um unser winziges Team und jede einzelne Person darin mit ihrer unübertroffenen Zielstrebigkeit zu formen und zu unterstützen. Natürlich erwartete sie dafür viel von uns, doch sie verband ihren Unterricht mit einem so intensiven Enthusiasmus, dass er die ganze Turnhalle mit Energie auszufüllen schien.

»Stell dich da hin«, sagte sie eines Tages und zeigte auf eine Linie am Boden. Sie versuchte, mir zu erklären, in welchem Winkel ich aufkommen musste, um meinen Handstützüberschlag rückwärts mit der richtigen Streckung auszuführen. Ich stellte mich gehorsam an die Linie; dann kam sie zu mir her und stellte sich nur wenige Zentimeter entfernt vor mir auf.

»Wenn wir fertig sind, solltest du das hier können«, erklärte sie und sprang ohne ein weiteres Wort rückwärts in einen Handstützüberschlag, wobei ihre perfekt gestreckten Füße dicht an meinem Gesicht vorbeiflogen. Weil sie es im richtigen Winkel gesprungen war, hatte ich nur den Luftzug und keinen kräftigen Tritt gegen meinen Unterkiefer gespürt. »Siehst du? Ich habe dich nicht getreten!«

Ich nickte eifrig, obwohl ich mein Leben gerade buchstäblich vor meinem inneren Auge vorbeiziehen gesehen hatte. »Wenn du das jetzt versuchen würdest, würdest du mich umbringen«, erklärte sie grinsend. »Wenn ich ›Schultern zurück‹ sage, meine ich das auch!«

Erin schaffte es in jenem Jahr nicht, meinen Rückwärtsüberschlag zu korrigieren, und das Problem lag eindeutig auf meiner Seite. Was sie jedoch erreichte, war noch viel wichtiger. Sie zeigte mir, wie ein guter Trainer in die nächste Generation investiert. Für Erin waren wir nicht nur Fähigkeiten und Ergebnisse, wir waren Menschen mit Herzen, Gedanken, Körpern und Seelen, die geformt werden wollten. Sie interessierte sich für uns, für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und dafür, wer wir sein würden, wenn wir die Turnhalle verließen.

»Was ihr hier lernt, wird euch euer ganzes Leben begleiten«, sagte sie.

Und sie hatte recht. Mit ihren Worten und ihrem guten Beispiel brachte sie uns Dinge bei, die uns, bis der Sommer vorüber war, zu besseren Menschen gemacht hatten. Sie lehrte uns, wie wichtig es war, in jeden Einzelnen zu investieren und nicht nur in diejenigen, die vielleicht später die öffentliche Aufmerksamkeit erregen würden. Sie ermutigte uns, uns über die Erfolge unserer harten Arbeit zu freuen, über jede gut ausgeführte Übung. Und vor allem lehrte sie uns die kraftvolle Wahrheit, dass die Liebe die größte Motivation ist, die man haben kann. Wir alle blühten in jenem Sommer auf, weil unsere Herzen, Gedanken, Körper und Seelen sicher waren. Wir arbeiteten noch härter an unseren Fertigkeiten und Einstellungen, weil wir geschätzt wurden. Und wir lernten, Fleiß, Ausdauer, Konzentration und eine gute Arbeitsmoral auf eine Art und Weise kennen, wie wir es vorher nie erlebt hatten.

Die Trainer, die ihre Turnerinnen benutzten, um Erfolg zu haben, zogen vielleicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Aber sie ließen leere Hüllen von kleinen Mädchen zurück, deren Körper und Gefühle so verletzt waren, dass manche von ihnen nie ganz wieder heil werden würden. Erin wurde nie zu einer berühmten Trainerin, aber sie und unser Vereinsleiter taten in jener winzigen Halle in Kalamazoo, Michigan, mehr Gutes, als die berühmtesten Trainer es je tun würden – Trainer, die in hochmodernen Komplexen arbeiteten und sich mit Trophäen schmückten, die mit dem Blut, dem Schweiß und den Tränen kleiner Mädchen erkauft worden waren.

Dank des intensiven und gründlichen Konditions- und Techniktrainings unseres Trainers war die Verletzungsrate bei uns sehr niedrig. Aber selbst das reichte nicht, um mich ganz davor zu schützen. In jenem Sommer wurden die Schmerzen in meinen Handgelenken und meinem Rücken immer schlimmer. Kurzum: ich war nicht fürs Turnen gemacht. Ich hatte einen zu langen Oberkörper und ungelenkige Schultern, zudem hatte ich viel zu spät mit dem Sport angefangen. Mein Körper war schlichtweg abgekämpft von den ständigen Belastungen. Als es so schlimm wurde, dass ich morgens mit einem tauben Bein und einem ausstrahlenden Ischiasschmerz aufwachte, verschwendete meine Mutter keine Zeit mehr und brachte mich sofort zum Arzt.

Kurze Zeit später saß ich auf dem zerknitterten weißen Papier einer Arztliege, glücklicherweise hatten wir einen Termin in einer der bekanntesten sportmedizinischen Kliniken der Region bekommen. Doch dieser Tag sollte einer der am meisten frustrierenden meiner Turnkarriere werden. Nicht unfreundlich, aber forsch und sehr geschäftsmäßig marschierte der Arzt herein. Es war offensichtlich, dass er andere Dinge zu tun hatte. Er stellte sich vor, schüttelte meiner Mutter und mir kurz die Hand und fragte: »Also, wo liegt das Problem?«

Ich erzählte von den Schmerzen im Rücken und den Handgelenken, wies auf die Stellen an den Daumen, die oft taub waren, und zeigte ihm, bei welchen Bewegungen die Schmerzen schlimmer wurden.

»Und dein Rücken?«, fragte er. »Was löst da die Schmerzen aus?«

Ich beschrieb die Bewegungen und fügte hinzu: »Aber es kann auch schon wehtun, wenn ich einfach nur sitze, gehe oder alltägliche Dinge tue.«

»Hmm.« Er warf einen Blick auf mein Krankenblatt und die kurze medizinische Vorgeschichte, die in der Aktenmappe notiert war. »Nun ja, die Sehnen und Muskeln sind wahrscheinlich entzündet und drücken deshalb auf die Nerven, was zu Schmerzen und Taubheitsgefühlen führt.« Dann sah er auf und sagte: »Kühlen wäre eine gute Sache.«

Ich blinzelte. Kühlen? Er sagt das, als wäre es eine ganz neue Idee. Hat er nicht mitbekommen, dass ich Turnerin bin? Wir leben von Tapes und Eis.

Er las noch einmal die Notizen und untersuchte meine Handgelenke etwas genauer. Ich wartete gespannt auf die dringend benötigte Klarheit und Anweisung. Endlich nickte er. Ich wappnete mich. Jetzt kommt es …

»Ich denke, die Sehnen sind definitiv überanstrengt«, verkündete er selbstbewusst und klappte die Mappe zu.

»Okay … ja«, stimmte ich zu, während ich versuchte, einen höflichen Ton zu bewahren. »Das Turnen ist sehr anstrengend. Was ich eigentlich wissen möchte ist, ob Sie irgendwelche Vorschläge haben, wie es besser werden könnte oder wie ich mich vor Verletzungen schützen kann.«

Es gibt bestimmt etwas, das ich machen kann, dachte ich. Physiotherapie oder Tipps, was ich tun darf und was nicht. Dehn- oder Kraftübungen. Etwas, was ich an meinem Training verändern könnte!

»Nun, du musst einfach alles ruhen lassen«, sagte er, als könnte er nicht verstehen, warum wir überhaupt dieses Gespräch führten. »Du musst eine Pause machen.«

»Eine Pause … von allem?«, fragte ich. »Können Sie mir nicht sagen, was ich ohne Probleme machen kann und was nicht? Im Turnen ist eine Pause nicht wirklich möglich. Normalerweise machen wir zumindest so viel vom Training mit, wie wir können, während eine Verletzung heilt. Können Sie mir nicht sagen, was ich vielleicht doch tun kann?«

Er blieb standhaft. »Mach einfach eine Pause«, wiederholte er lässig.

Ich versuchte, meine Frustration zu verbergen. »Okay. Wie lange denken Sie, dass es dauern wird?«

»Mmm … ich würde mit zwei Monaten anfangen.«

»Zwei Monate?« Ich schrie fast. »Ich kann nicht einfach zwei Monate Pause machen!« Mühsam versuchte ich, die Fassung zu bewahren, aber diesen Kampf verlor ich schnell.

»Tut mir leid.« Er zuckte mit den Achseln. »Das ist die einzige Möglichkeit.«

Ich öffnete erneut den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort zu sagen. Es war zwecklos. Hier würde ich eindeutig nicht weiterkommen.

Mama und ich meldeten uns ab und machten uns auf den Weg zum Auto.

Ich war fustriert. »Das ist doch Blödsinn!« Ich ließ meiner Verzweiflung freien Lauf. »Wir haben noch nicht einmal irgendwas versucht, und er sagt mir einfach, dass ich zwei Monate Pause machen soll?«

Meine Mutter war ratlos. Sie wusste, wie frustriert ich war, aber sie hatte auch keine andere Idee.

»Es tut mir wirklich leid, Schatz«, sagte sie mitfühlend. »Ich weiß aber nicht, was wir sonst tun sollten. Es wäre dumm weiterzumachen, wenn du solche Schmerzen hast. Nichts ist es wert, einen bleibenden Schaden in Kauf zu nehmen.«

Enttäuscht starrte ich auf die graue Fußmatte unseres Wagens. Noch am gleichen Tag bat ich meine Mutter, mich fürs Ballett anzumelden. So würde ich wenigstens die zwei Monate nutzen können, um meine Tanzkünste zu verbessern, damit ich, wenn ich in die Turnhalle zurückkehrte, wenigstens etwas getan hätte, das ich später vielleicht würde gebrauchen können.

In jenen acht langen Wochen fühlte es sich an, als würde die Zeit nicht vergehen. Einmal die Woche ging ich für eine Stunde ins Ballett und fühlte mich total unterfordert. Meine Handgelenke und mein Rücken fühlten sich bald etwas besser an, aber sie waren ganz sicher noch nicht wieder belastbar. Am Ende der zwei Monate hatte ich genug. Ich musste es wenigstens wieder versuchen.

An meinem ersten Tag zurück in der Halle eilte ich in die Umkleidekabine, stellte meine Sporttasche in mein Fach und atmete tief ein. Der vertraute Geruch von Kreidestaub, Lederriemen und verschwitzten Turnanzügen stieg mir in die Nase. Das war es. Hier gehörte ich hin.

Nach zwei vollen Monaten Pause wieder anzufangen brachte meine Frustration jedoch auf ein ganz neues Level. Gib einfach dein Bestes, sagte ich mir immer wieder. An der verlorenen Zeit konnte ich nichts ändern, es war also sinnlos, mentale und emotionale Energie deswegen zu verschwenden. Das Einzige, worauf du Einfluss hast, ist das, was dir heute vor die Füße kommt.

In den nächsten Wochen wiederholte ich dieses Mantra immer wieder und versuchte, das ungute Gefühl in meiner Magengrube zu ignorieren. Mit jedem Training wurden die Schmerzen in den Handgelenken und im Rücken wieder schlimmer. Es war, als hätten die zwei Monate Pause im Grunde gar nichts gebracht. Schon bald wurden meine Daumen wieder taub und morgens erwachte ich mit dem vertrauten Kribbeln im linken Bein. Ich kämpfte gegen die Hoffnungslosigkeit an. Was jetzt? Wir waren bereits in der besten Sportmedizin der Umgebung gewesen, und ich wusste genau, was ich hören würde, wenn wir wieder dorthin gingen.

»Was soll ich nur machen? Ich kann nicht bis in alle Ewigkeit immer wieder zwei Monate Pause machen!«, schnaubte ich nach einem Training verzweifelt. Ich stand mit meiner Mutter an der hüfthohen Wand, die den Elternbereich von dem mit blauem Teppichboden bedeckten Turnbereich trennte. »Es gibt keine anderen Optionen mehr!«

Während ich später meine Übungen beendete und die letzten paar Minuten des Trainings im Überspagat saß, begann meine Mutter, mit der Empfangsdame über das Problem zu sprechen. Als ich dazukam, hörte ich nur noch das Ende ihres Gesprächs.

»Es kann wirklich schwer sein, einen Arzt zu finden, der den Sport gut genug kennt, um hilfreich zu sein«, sagte die Rezeptionistin einfühlsam. Da ihre beiden Töchter als Turnerinnen auf einem höheren Level an Wettkämpfen teilnahmen, hatte sie viel mehr Erfahrung in diesem Bereich. Viele Mütter fragten sie um Rat, wenn sie Bedenken in Bezug auf ihre eigenen Kinder hatten. Jetzt wanderte ihr Blick zwischen meiner Mutter und mir hin und her. »Haben Sie schon darüber nachgedacht, sie mal zu Larry zu bringen?«

Meine Gedanken wanderten ins Jahr 1996 zurück. Ich hab sie, ich hab sie, … ich hab sie. Ich erinnerte mich an den Arzt, der zu Kerri Strug geeilt war, um sich nach ihrem legendären Sprung um sie zu kümmern – der Mann, der hinter der Absperrung gestanden hatte und ihr zu Hilfe geeilt war. Ich hab sie, ich hab sie, … ich hab sie. Das war Larry Nassar. Der Arzt des Olympischen Teams. Der medizinische Spitzenkoordinator für USAG. In der Welt des Turnens war Larry der Experte schlechthin. Sein Buch über Sporttherapie und Konditionstraining wurde als wegweisend erachtet. Turner, die seinen Rat nicht befolgten, taten dies auf eigene Gefahr.

Einmal hatte ich von einer Turnerin aus einem Verein in der Nähe gehört, die sich das Genick gebrochen hatte. Als sie für die Reha zu Larry ging, drückte er sein Entsetzen über ihre mangelhafte Muskelentwicklung aus und fragte: »Haben deine Trainer denn nicht mein Buch gelesen?«

Als sie ihm erzählte, dass sie das Buch wohl hätten, es aber nicht wirklich befolgten, sagte er etwas, was mich zutiefst getroffen hatte, als ich davon hörte: »Wenn deine Trainer meinem Protokoll gefolgt wären, wäre so etwas nicht passiert.« Das Leben einer Turnerin hatte sich für immer verändert durch eine katastrophale Verletzung, die vermeidbar gewesen wäre, hätte man auf Larry gehört.

»Er ist der Beste der Besten.« Die Stimme der Empfangsdame holte mich in die Realität zurück. »Er findet Dinge, die sonst niemand sieht, und kann sie mit Methoden behandeln, die sonst niemand beherrscht.«

Ich nickte. Jeder wusste das. Aber ich war nur eine Turnerin auf Level 5, wie genau sollte das funktionieren? Meine Mutter hatte die gleiche Frage.

»Behandelt er überhaupt Kinder auf diesem Level?«, fragte sie.

»Oh, Larry behandelt jeden!«, versicherte sie uns. »Er arbeitet in der Sportmedizinischen Klinik der Michigan State University, und die ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Ihr müsst nur anrufen und einen Termin vereinbaren.«

Ich zuckte mit den Achseln und warf mir meine leuchtend blaue Sporttasche über die Schulter. »Es ist einen Versuch wert, denke ich.«

Dennoch fiel es mir schwer zu glauben, dass ein Arzt von Dr. Nassars Größe wirklich Zeit für eine Turnerin in meiner Situation hatte. Außerdem war seine Praxis anderthalb Stunden von uns entfernt – hin und zurück drei Stunden Fahrt. Zudem war ich mir nicht sicher, ob das überhaupt funktionieren würde. Meine Mutter war jedoch ein wenig enthusiastischer.

»Vielen Dank!«, sagte sie nachdrücklich. »Ich werde gleich morgen anrufen.«

»Also«, sagte meine Mutter mit einer leisen Spur von Aufregung in der Stimme, »wir haben einen Termin!«

Das ging schneller, als wir beide erwartet hatten. Bei den meisten Spezialisten dauerte es sehr lange, bis man einen Termin bekam, und Larry … er war der Arzt des olympischen Teams. Wir hatten uns auf eine lange Wartezeit eingestellt, aber zu unserer großen Überraschung war mein Termin schon in wenigen Wochen. Am 2. Februar, keine zwei Monate nach meinem fünfzehnten Geburtstag.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Gut!« Zum ersten Mal verspürte ich einen Hauch von Hoffnung.

»Ja«, stimmte meine Mutter zu. »Wir müssen jetzt nichts weiter tun als warten. Die Rezeptionistin der Klinik sagte auch, dass wir eine lockere kurze Hose für dich mitbringen sollen. Die Untersuchungen sind ziemlich gründlich, nehme ich an, und du musst dich gut bewegen können.«

Ich nickte. Das erschien mir logisch, Turnen war ein bewegungsintensiver Sport. Jetzt war es nur noch eine Frage von ein paar kurzen Wochen, bis ich endlich Hilfe bekommen würde.

Später in jener Woche liefen meine Mutter und ich um den Häuserblock, wie wir es oft taten, wenn es viel zu besprechen gab. Diesmal ging es um meine Verletzungen und was ich im weiteren Verlauf bedenken sollte.

»Es geht nicht nur darum, wann du wieder turnen kannst, weißt du«, sagte meine Mutter. »Es kann sein, dass du ganz damit aufhören musst. Was ich nicht will ist, dass du eine langfristige Verletzung davonträgst, die nicht so schlimm geworden wäre, wenn du früher aufgehört hättest.«

»Ich weiß«, stimmte ich zu, obwohl ich es nicht zugeben wollte. »Ich weiß, dass die Antwort lauten könnte, dass ich aufhören muss. Aber vorher möchte ich gern alles tun, was möglich ist, bevor ich diese Entscheidung treffe. Und du hast recht, das Wichtigste ist, wieder gesund zu werden. Ich denke, zu Larry zu gehen ist die beste Chance, die wir dafür haben.«

Meine Mutter nickte und atmete ein paarmal tief durch. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen könnten, wenn es nötig ist«, sagte sie mit leichtem Zögern. »Ich habe mit Mrs. Harp gesprochen, sie hat gefragt, wie es dir geht. Ich erzählte ihr, wie enttäuschend unser Termin in der sportmedizinischen Klinik war, und sie hatte noch eine andere Empfehlung.«

»Welche?«, fragte ich, während ich meine Arme im Rhythmus unserer Schritte schwang.

»Na ja … du weißt ja, dass sie viele Schmerzen in ihrem Rücken und im Steißbein hatte. Sie hat mir erzählt, dass nur ein Therapeut ihr helfen konnte, der Knochen und Muskeln in diesem Bereich behandelte, aber …«

Meine Mutter hielt erneut inne und sagte dann vorsichtig: »Der Therapeut macht das, indem er von innen auf alles zugreift. Sie sagte, es wäre eine relativ neue Behandlungsmethode, aber bei ihr hätte sie wirklich Wunder gewirkt. Sie schlug vor, dass wir es auch bei ihrem Therapeuten versuchen könnten, wenn wir sonst nirgends Hilfe für dich finden.«

Ich schwieg eine Weile, während ich das Gesagte in meinem Kopf sortierte. Als wir um die Ecke zu unserem Haus bogen, sagte meine Mutter: »Noch eine Runde?«

»Ja, können wir«, antwortete ich langsam, immer noch in Gedanken versunken. »Ich glaube, ich wäre bereit, diese Therapie wenn nötig auszuprobieren, … denke ich. Keine besonders angenehme Vorstellung, aber immer noch besser als chronische Probleme, was meinst du?«

Meine Mutter nickte zustimmend. »Manchmal muss man bestimmte Dinge tun, die nicht sehr angenehm sind, aber notwendig, um gesund zu werden.« Dann erinnerte sie mich daran, dass ihre Freundin Stacy Physiotherapeutin war. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Therapeutin in ihrer Praxis gibt, die ebenfalls diese Therapie durchführt. Und wir könnten uns jederzeit wieder dagegen entscheiden.«

Das wäre mir auf jeden Fall lieber, dachte ich. »Okay, gut zu wissen. Aber ich denke, wir fangen besser mit Larry an. Er kennt den Sport, es ist sein Fachgebiet. Ich glaube nicht, dass es einen Besseren gibt als Larry.«

Ein paar Wochen später stiegen meine Mutter, meine Geschwister und ich in unseren Minivan, um zum »Besten der Besten« zu fahren. Wie so oft musste die ganze Familie Verzicht üben, damit ich diesen Termin wahrnehmen konnte. Drei Stunden Hin- und Rückfahrt im Auto und mindestens eine weitere Stunde in der Praxis – das war eine erhebliche Störung des Alltags und der Routine aller Beteiligten. Doch für eine Chance, zu dem Arzt zu gehen, der die Olympiateilnehmerinnen behandelte, war es all das wert. Wer bekam schon eine solche Gelegenheit?

Es fühlte sich unwirklich an, die Praxis zu betreten. Ein paar andere Athleten saßen in dem kleinen Wartezimmer. Manche waren offensichtlich Turnerinnen und ich konnte allein an ihrem Körperbau und ihrer Muskelstruktur erkennen, dass sie viel besser waren als ich. Ich fühlte mich unbehaglich und fehl am Platz. Die Frau an der Anmeldung lächelte und nahm die Versicherungskarte meiner Mutter entgegen. Dann reichte sie mir ein Klemmbrett mit einem Stapel bedruckter Seiten.

»Wir brauchen vor allem das Oberste«, sagte sie und zeigte auf ein Formular mit einer Liste von Symptomen, die man ankreuzen musste, und einer Abbildung des weiblichen Körpers von vorne und hinten, auf der ich überall ein X setzen sollte, wo ich Schmerzen hatte.

Ich setzte mich auf einen der Stühle im Wartezimmer und betrachtete die Fotos des Turnerinnenteams der Michigan State University, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. Larry war auch ihr Arzt. Er ist die erste Wahl von allen, staunte ich. Ernsthaft. Ich kann kaum glauben, dass ich hier bin.

Endlich lenkte ich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Formulare, markierte beide Handgelenke und die Ischiasregion im unteren Rücken, und begann mich durch die Liste mit Symptomen zu arbeiten. Kribbeln? Ja. Pulsierender Schmerz? Ja. Taubheit? Ja.

»Haben wir Fälle von hohem Cholesterin in der Familie?«, flüsterte ich meiner Mutter zu, als ich zu dem Abschnitt mit der Familienanamnese kam. Wir füllten ihn gemeinsam aus. Als ich die Papiere der Empfangsdame zurückgab, öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer und ich sah eine Turnerin mit einer Kniebandage heraushumpeln. Sie wurde von einem sympathisch aussehenden Mann begleitet, der ihr die Tür aufhielt.

»Kommst du zurecht? Okay, Kleine, gute Besserung!« Er winkte kurz und eilte dann den Gang hinab. Es war Larry. Ich war überrascht, dass er dieses Mädchen bis zur Tür begleitet hatte. Die meisten Ärzte schickten einen einfach alleine weg. Vielleicht zeigten sie einem noch kurz, wo der Ausgang war, bevor sie davonrauschten. Aber Larry hatte diese Turnerin begleitet, um sicherzugehen, dass sie klarkam, obwohl er offensichtlich wahnsinnig beschäftigt war. Ich nahm an, dass sie schon seit längerer Zeit hierherkam, da er so locker und vertraut mit ihr umging.

Kurze Zeit später lief ich selbst durch diese Tür. – Ich versuchte, nicht vor Aufregung zu kreischen, als ich die Fotos sah, die den Gang säumten: die »Glorreichen Sieben« von den Olympischen Spielen 1996. Sie waren das großartigste Turnerinnenteam der US-Geschichte, und Larry hatte Fotos von vielen von ihnen, manche davon sogar mit Autogramm und persönlicher Widmung an ihn. Mit großen Augen sah ich sie mir an, als wir durch den Flur in Richtung des leeren Behandlungszimmers gingen.

Eine Krankenschwester hielt uns die Tür auf, und wir traten ein. Ich bemerkte einen Arzttisch in der rechten Ecke, schräg gegenüber von einem Rollwagen, dem Waschbecken und den Schränken. Der Rollwagen war länger als üblich, und es befanden sich nur ein Gefäß mit Massagelotion und ein Seifenspender darauf. Ein einsamer Stuhl stand neben dem Kopfende des Untersuchungstisches. Der Arzthocker war zurückgeschoben und stand in der Nähe des Waschbeckens.

Die Schwester forderte mich auf, meine lockere kurze Hose anzuziehen. »Er wird gleich bei Ihnen sein«, sagte sie, als sie hinausging.

»Hast du die Bilder von den ›Glorreichen Sieben‹ gesehen?«, flüsterte ich meiner Mutter zu, während ich schnell in die lockeren Baumwollshorts schlüpfte, die ich mitgebracht hatte.

Sie nickte und nahm neben dem Untersuchungstisch Platz. Wir mussten nicht lange warten.

»Hi«, sagte eine freundliche Stimme, als sich die Tür öffnete. Und herein kam Larry, das Poloshirt in die graue Hose mit Bügelfalte gesteckt, ein Handy am Gürtel und eine Brille auf der Nasenspitze. Er bewegte sich schnell und gab erst mir und dann meiner Mutter die Hand. Seine Stimme klang fröhlich. »Sieht aus, als gäbe es bei dir einiges zu tun, Kleine!«, sagte er, als er das Krankenblatt hervorholte.

Ich nickte und lächelte schüchtern. Er lächelte zurück. Als er auf das Blatt schaute, bemerkte er meine Stiefeletten, die neben dem Stuhl meiner Mutter standen.

»Schöne Stiefel!«, rief er aus. »Die sind toll! – Okay, mal sehen, was wir hier haben.«

Dann begann die Untersuchung. Er prüfte meine Beweglichkeit und Körperspannung, ließ mich eine Reihe von Bewegungen und Tests ausführen und positionierte mich immer so, wie er es für den nächsten Test brauchte. Während er arbeitete, plauderte er die ganze Zeit und machte sich schnelle Notizen auf dem Blatt, das er in der Hand hielt. Der Sportarzt in Kalamazoo hatte nicht einmal einen Bruchteil der Untersuchungen durchgeführt, die Larry jetzt machte. Mit jedem Test wuchs meine Zuversicht. Er wusste offenbar ganz genau, was er tat.

»Mach mal so«, wies er mich an. Er ballte seine Hände zu Fäusten, sodass sie die Daumen umschlossen, und hielt die gebeugten Ellenbogen seitlich am Körper, mit den Fäusten nach vorne. »Jetzt beuge nur die Faust nach unten.«

Ich tat genau, was er sagte.

»Tut das weh?«, fragte er.

Ich verzog das Gesicht und nickte.

»Das habe ich mir gedacht.« Er zwinkerte mir zu. Dann nahm er eine meiner Hände und begann, die Strukturen zu erklären. Er benannte die schmerzenden Sehnen und zeigte, wo sie zusammentrafen und am Arm entlang verliefen.

»De-Quervain-Syndrom. Keine Sorge, Kleine. Das kriegen wir wieder hin.«

Bis zum Ende der Untersuchung hatte ich einige wichtige Dinge erfahren. Erstens war die Beweglichkeit meiner Schultern extrem eingeschränkt, was dazu führte, dass ich meine Handgelenke bei jeder Handstützbewegung überstreckte und zusätzlich massiven Druck auf meinen unteren Rücken ausübte. Zweitens wurden die Muskeln in meinem Rücken nicht in der richtigen Reihenfolge aktiviert, was dazu führte, dass mein unterer Rücken viel mehr Gewicht trug, als er sollte. Und drittens war meine Hüfte verdreht.

Larry gab mir eine Reihe von Dehnübungen für meine Handgelenke mit und zeigte mir, welche Gelenkstützen ich zum Tumbling verwenden sollte. Dann ging er mit mir ein paar Übungen durch, um die Muskeln in meinem Rücken neu auszurichten, und brachte mir Dehnübungen für meine Schultern bei. Was die verdrehte Hüfte betraf – das könne er sofort beheben, sagte er mir. Er holte ein Modell von einem Becken aus einer Schublade.

»Sehen Sie das?«, fragte er und streckte es meiner Mutter hin. »Diese Seite ihres Beckens ist verdreht«, erklärte er. »Man muss es nur zurechtrücken. Ich werde den Beckenknochen nehmen und ihn wieder an seinen Platz ziehen, okay?« Er schob seine Brille hoch, hob die Augenbrauen und nickte ihr zu, als würde er ihr eine Frage stellen.

»Okay«, antwortete meine Mutter.

Dann zog Larry mich in die Mitte des Raumes, nur wenige Meter von meiner Mutter entfernt, und schob meine Füße etwa dreißig Zentimeter auseinander. Er kniete sich hin und legte seine eine Hand mit festem Druck auf meinen unteren Rücken. Dann blickte er zu Boden, als wollte er sich konzentrieren, und schlang seine andere Hand unter der Hose um die Innenseite meines Beines.

»Gut, ich werde jetzt etwas Druck ausüben«, erinnerte er mich. Plötzlich schob sich seine Hand in meine Hose. In meine Unterhose. In mich. Moment – was? Ich blickte auf ihn hinab. Er biss sich leicht auf die Lippe, als würde er sich konzentrieren – kein Anzeichen dafür, dass irgendetwas nicht stimmte. Meine Mutter saß direkt vor mir und beobachtete, wie er meine Hüfte richtete. Er stieß seine Finger tiefer hinein und zog fest. Es tat weh.

»So!«, verkündete er. »Ich habe es!« Er lächelte zu mir hoch.

In meinem Kopf fand ein fortlaufender Dialog statt. Er hat gesagt, dass er den Beckenknochen drehen muss. Dieser Therapeut, über den Mama und ich gesprochen haben … er arbeitet auch von innen an den Knochen und Muskeln. Es muss diese Technik sein, dachte ich. Vermutlich ist Larry wirklich unsere letzte Chance. Wenn er diese innere Technik schon anwendet, gibt es nicht mehr viel, was wir noch probieren können.

»Also gut, Kleine, hüpf hier herauf und leg dich auf den Bauch«, wies er mich an, während er auf den Tisch klopfte.

»Ich würde gerne das Weichteilgewebe etwas bearbeiten – Myofasciale Therapie«, sagte er und sah meine Mutter an. »Sie hat Verspannungen in ihrem Rücken, die noch mehr Zerrungen und Entzündungen verursachen, wenn man sie nicht behandelt.

Ja, ja … genau so«, sagte er. Er fuhr fort, mich richtig zu positionieren und alles vorzubereiten, während er redete.

Dann zog er meine Hose ein wenig nach unten und steckte ein Handtuch hinein, um sie unten zu halten. Währenddessen plauderte er ungezwungen weiter.

»Habe ich vorhin dein Chemiebuch gesehen?«, begann er. »In welchem Kapitel bist du? Ich werde hier nur etwas Massagelotion auftragen«, fügte er lässig hinzu und schmierte mit einem Holzspatel eine große Portion auf die Innenseite meines Oberschenkels. Dann nahm er etwas davon auf die rechte Hand und begann, meinen unteren Rücken zu massieren. Er knetete die schmerzenden Muskeln erst mit seiner Faust, dann mit seiner geöffneten Handfläche und zum Schluss führte er mit seinem Unterarm feste, gleitende Bewegungen über den ganzen Rücken aus. Bei einem kurzen Blick über die Schulter sah ich, dass er konzentriert die Augen schloss. Es störte mich nicht, ich hatte häufig Physiotherapeuten gesehen, die bei der Behandlung von Weichteilgewebe die Augen schlossen, damit sie sich auf das konzentrieren konnten, was sie in den Muskelfasern spürten.

Doch dann glitt seine linke Hand wieder zum Oberschenkel und nahm dabei etwas Massagelotion auf. Sie fuhr unter meine kurze Hose. In meine Unterhose. Zwei Finger in mich hinein. Beiläufig massierend. Ich blickte zu meiner Mutter, die nur einige Zentimeter von mir entfernt saß. Sie lächelte beruhigend und beantwortete Larrys letzte Frage über meine Chemielektion.

Ich sah zu Larry hoch. Er hatte noch immer die Augen geschlossen, während er mit meiner Mutter plauderte. Das muss die Therapie sein, über die Mama und ich gesprochen hatten, überlegte ich wieder. Sagen wollte ich nichts. Das Ganze war unangenehm genug, und wenn er wüsste, wie peinlich es mir war, wäre es noch unangenehmer. Mama weiß von dieser inneren Therapie, dachte ich. Sie würde etwas sagen, wenn es komisch wäre. Larry stand genau zwischen ihr und mir. Sie könnte ihm leicht eine Frage stellen, wenn etwas für sie nicht richtig aussah. Es muss diese Therapie sein.

Ich dachte an all die Bilder an der Wand zurück. USAG vertraut Larry seine allerbesten Turnerinnen an und die Michigan State University auch. Ich dachte an Larrys selbstsichere, schamlose Bewegungen. Das ist eindeutig etwas, was er regelmäßig macht. Ich bin kein Testfall. Das ist eine normale Behandlung für ihn. Andere Patientinnen hatten sicher ihren Eltern von dieser Behandlung erzählt. Es war unmöglich, dass man an der MSU oder bei USAG noch nichts davon gehört hatte. Und wenn es je einen Zweifel daran gegeben hätte, was er tat, hätte es mit Sicherheit schon jemand überprüft.

Wenn etwas nicht in Ordnung wäre, hätte ihn jemand gestoppt.

Oder?

Wie ich das Schweigen brach

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