Читать книгу Bären füttern verboten - Rachel Elliott - Страница 13

Bezugspunkt

Оглавление

Seltsam, wie ein Ort sich verändert und zugleich überhaupt nicht.

Gestern ist Sydney in St. Ives aus dem Zug gestiegen, der Stadt, die sie seit zwei Jahren zeichnet und malt. Oben in ihrem Arbeitszimmer hat sie diese Straßen, diese Küste, dieses Meer wiederauferstehen lassen – ihre eigene Version davon, aus dem Gedächtnis. Jetzt ist sie wirklich hier, und sie hat alle angelogen, eine andere Küstenstadt genannt, behauptet, sie sei anderswo.

Die Lüge war ihr leichtgefallen, was sie überraschte. Sie hat immer gedacht, sie sei eine schlechte Lügnerin. Diese Entdeckung war befreiend, aber auch verstörend.

Sie war froh, dass sie den Januar gewählt hatte. Es war kalt und ruhig, und das fühlte sich richtig an. Und trotz des Winters war das Licht dasselbe. Ihre Mutter hatte immer gesagt, das Licht hier unten würde Farben hervorbringen, die das Auge sonst nicht sehen könne. Deshalb kommen die ganzen Künstler hierher, sagte sie. Und wenn ich mir deine Bilder so anschaue, wirst du bestimmt auch noch hierherkommen, lange nachdem wir damit aufgehört haben.

Da hatte ihre Mutter sich geirrt.

Sie hatten alle genau zur selben Zeit aufgehört, hierherzukommen, nämlich nach dem sechsten Mal, das so abrupt endete.

Sind wir wirklich sechs Mal hierhergekommen, Liebes?

Ja, Mum.

Meine Güte. Da waren wir aber nicht sehr abenteuerlustig.

Das stimmt nicht, Mum. Wir haben jeden Winkel hier erforscht, weißt du nicht mehr? Wir sind meilenweit an der Küste entlanggegangen und haben uns alles ganz genau angesehen. Und wir haben gelesen, Ausstellungen besucht und Federball und Tennis gespielt. Wir hatten Drei-Gänge-Menüs, Picknicks, Pasteten und Fish & Chips. Wir waren im Kino und angeln und in der großen Stadt mit dem Kaufhaus.

Tut mir leid, Liebes. Ich wusste nicht, dass du immer noch so an diesem Ort hängst.

Soll das ein Witz sein?, sagte Sydney.

Es war eine dunkle Verbindung. Ambivalent. Eine, die sie wollte und auch wieder nicht.

Sie fragte sich oft, was sie sagen würde, wenn jemand ihr anböte, die Erinnerungen an diesen Ort aus ihrem Gedächtnis zu löschen, wie in dem Film Vergiss mein nicht!. Würdest du Erinnerungen loslassen, die zugleich deine schönsten und deine schlimmsten sind?

Die Zeichnungen für ihr Buch sind an einem kritischen Punkt angelangt.

Sie gehen bis zum Urlaub Nummer fünf, danach ist Schluss.

Wenn sie sich Urlaub Nummer sechs zuwendet, setzt der Stift aus, bricht die Mine.

Das Storyboard ist erstarrt. Ihre Gedanken wollen da nicht hin.

Okay, hat sie zu ihrem unordentlichen Zeichentisch gesagt. Was, wenn meine Füße dahin gehen? Wenn mein Körper dahin geht? Hilft das?

Aber ich will da nicht hin, hat sie gedacht, wie ein störrisches Kind.

Sydney läuft durch den Sand. Sie hat bis jetzt drei von den Stränden des Ortes besucht, und dieser ist immer noch ihr Lieblingsstrand. Die anderen sind zu hübsch, zu ruhig. Der hier lässt ihre Haare in alle Richtungen fliegen. Der Untergrund ist steiniger und dunkler, und die Wellen können durchaus gefährlich sein.

Sie bleibt stehen und sieht den Hunden bei ihrer Morgenrunde zu. Bewundert, wie sie rennen oder springen, die Umgebung erforschen oder bei Fuß bleiben, den Gerüchen und Ablenkungen folgen, sich dabei aber immer wieder umschauen, nach ihrem Besitzer, ihrem Bezugspunkt, den sie auf keinen Fall verlieren dürfen. Manche sind schlank und muskulös, andere wuselig und kurzbeinig. Da ist ein anhängliches kleines Wollknäuel, das eifrig den Gummistiefeln seiner Besitzerin folgt und sich für nichts anderes interessiert als für sie. Andere sagen mit spielerischen Gesten, komm, fang mich, oder ich fange dich, egal, Hauptsache, wir haben Spaß. Hunde fragen nicht nach dem Warum. Sie fressen, weil der Napf vor ihnen steht. Sie rennen, weil ihr Körper rennen will.

Sie vermisst Otto. Eigentlich albern, schließlich ist sie erst einen Tag fort. Sie blickt auf die Uhr. Jetzt ist er bestimmt mit Ruth draußen, tobt über die Felder und denkt nicht an sie. Und so soll es ja auch sein. Beim nächsten Gedanken krampft sich ihr Magen zusammen: Ruth, die auch nicht an sie denkt. Sie bekommt Panik. Was ist, wenn. Was ist, wenn Ruth auszieht, während sie hier ist. Wenn sie ihre Sachen packt und sie irgendwo einlagert. Wenn sie zu Howard zieht, was nicht so abwegig ist, wie es klingt – wahrscheinlich hätte er lieber sie als Tochter.

Diese Gedanken kommen nicht von ungefähr. Sydney hat eine Ahnung, ein leises Gefühl, dass Ruth sich von ihr entfernt. Dass es irgendwo da draußen eine Frau gibt, die sie glücklicher machen könnte, und auch wenn Ruth diese Frau noch nicht gefunden hat, könnte sie sich nach ihr sehnen. Sollte es sogar. Es wäre furchtbar und schmerzhaft, wenn sie ginge, aber auch verständlich. Sydney hat Schuldgefühle, weil sie sich schon so lange an Ruth festhält, und so ein Gefühl zieht einem wie feuchtes Wetter bis in die Knochen und beeinträchtigt alles. Auf jeden Fall beeinträchtigt es ihr Freerunning, das merkt sie. Sie ist angespannter als sonst. In ihren Muskeln steckt eine neue Vorsicht.

Sie sprintet die Stufen zur Galerie hoch, zahlt den Eintritt, nimmt sich ein Infoblatt. Aber Sydney ist nicht wegen der Kunst hier.

Mir gefällt die Form des Gebäudes, sagt sie.

Aha, sagt der Galeriemitarbeiter.

Das ist selbst schon Kunst, wenn auch auf hässliche Weise, sagt sie.

Hmm, sagt der Galeriemitarbeiter und fingert an seinem Hemdkragen herum. Das Thema ist außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Er ist nicht hier, um über das Gebäude zu sprechen. Er ist hier, um über Öffnungszeiten, Wechselausstellungen und Dauerexponate zu sprechen. Er blickt auf seine Computertastatur und hofft, dass die Frau weitergeht.

Sydney betritt den Ausstellungsraum. Ihr Körper ist bereit, loszulaufen. Er ist immer bereit. Schon von Geburt an war sie so, unablässig in Bewegung, ist aus ihrem Bettchen geklettert und später über den Esstisch gelaufen und auf die Arbeitsfläche gesprungen. Von der Arbeitsfläche auf den Hocker. Vom Hocker auf das kleine Sofa in der Küchenecke. Wunderbar federnde Landung, und dann noch einen Vorwärtssalto, einfach so. Radschlagen über den Teppich, durch den Flur laufen, am Treppengeländer hochklettern und wieder runterrutschen. Überall Kratzer und blaue Flecken, aber es fühlt sich so gut an. Die ganze Welt gehört ihr, aus jeder Oberfläche kann sie etwas machen. Darauf kann man rutschen, und das ist ein Sprungbrett und das eine Rennbahn und –

Sydney Oriel Smith, sagte ihre Mutter mal, während sie sie mit Jod und einem Pflaster verarztete. Warum kannst du nicht mehr fernsehen, so wie andere Kinder? Was ist mit Sooty? Magst du den nicht mehr gucken?

Sooty ist doof, sagte Sydney, zog ihre weißen Strümpfe hoch und wickelte sich den Schal ihres Vaters um den Hals.

Warum trägst du Dads Schal?

Weil ich ihn schön finde.

Ist das nicht gefährlich für ein Mädchen, das gerne am Geländer hochklettert und wieder runterrutscht?

Das ist eine sehr kluge Bemerkung, sagte Sydney.

Oh, vielen Dank, sagte ihre Mutter.

Als sie ein Kind war, gab es nur wenige Worte für das, was sie so gerne tat. Es gab akrobatisch, lebhaft, gefährlich. Es gab hyper-aktiv, furchtlos, präzise.

Später, als sie erwachsen war, veränderte sich die Sprache. Sie lernte die Ursprünge, die Fachbegriffe, die Konzepte, die erklärten, wer sie war.

Und sie hörte, wie die Leute von Flow sprachen. Damit meinten sie völliges Aufgehen in dem, was man tut, sich in einer angenehmen Beschäftigung verlieren, ohne jedes Gefühl für die Zeit.

Einmal sprach sie mit einem Freund darüber, einem Freistilkletterer.

Geht es nur mir so, fragte sie ihn, oder fühlst du dich auch wie ein anderer Mensch, wenn du kletterst?

Ich fühle mich überhaupt nicht wie ein Mensch, sagte er.

Das hatte sie auch schon von anderen gehört – dass der Verstand abschaltet und man aufhört zu denken. Die Welt um einen herum wird intensiv und langsam, und der Körper bewegt sich mit animalischer Präzision. Je größer das Risiko, desto stiller der Kopf. Es gibt keine Angst, keine Sorgen, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Nur dieses Anheben des Beins. Nur dieses Ausstrecken des Arms.

Es ist die reinste Form von Freiheit, die Sydney je erlebt hat.

Sie dreht eine Runde durch die Galerie, bleibt ein paarmal kurz stehen, um ein Gemälde, einen Holzschnitt, einen Druck zu betrachten, dann geht sie die Treppe hinauf und sucht sich ihren eigenen Weg, über eine Toilette, ein Fenster, eine Feuerleiter und ein Gerüst, um zum höchsten Punkt des Gebäudes zu gelangen, einem halbrunden Vorsprung, einem Dach auf dem Dach, weiß gestrichen. Privat. Zutritt verboten. Ein illegaler Höhepunkt.

Sie setzt sich in den Schneidersitz, legt ihren Rucksack ab und nimmt ein Sandwich, eine Flasche Wasser, zwei in Küchenpapier gewickelte Kekse und eine Tüte Chips heraus. Dies ist der perfekte Ort für ein Picknick – niemand, der sie stört, und nichts, was ihr den Ausblick auf Meer, Sand und Klippen versperrt.

Manchmal ist eine Kunstgalerie keine Kunstgalerie, sondern ein Klettergerüst, ein Ausguck, ein Leuchtturm.

Von hier oben nimmt ihr Auge statt kleiner Details Muster und Bewegungsabläufe wahr. Kinder und Heranwachsende, die Surfen lernen: erst ein Gewimmel von Neoprenanzügen, dann einzelne schwarze Punkte, die in das Blau hineinhüpfen. Erwachsene, die sich in diagonalen Linien vorwärtsbewegen wie Figuren auf einem Brettspiel, Hunde, die Achten um ihre Beine malen.

Sie holt ihren Skizzenblock heraus.

Klar denken kann sie seit jeher am besten, wenn sie hoch oben ist, fernab vom Lärm und Tempo des Lebens anderer Leute, diesen Rhythmen, die ihren eigenen überlagern. Hier oben auf dem Dach, oder auf irgendeinem anderen, kommen die Erinnerungen ohne Mühe zurück. Zum Beispiel, wie ihre Mutter lauter Kaninchen aus rotem Wackelpudding gemacht hat. Oder wie sie freihändig mit Jasons Rad die ganze Straße hoch und wieder runter gefahren ist, weil sie eine Wette gegen ihn verloren hatte. Oder wie sie zu viel Ingwerwein getrunken hatte und alle mit ihr zusammen »You’re the One That I Want« aus Grease singen mussten.

Sydney zeichnet eine Cartoon-Version von Ila Smith, die sich die Fernbedienung wie ein Mikrofon vor den Mund hält. Sie zeichnet ein Wackelpudding-Kaninchen und eine Frau auf einem Jungenfahrrad.

Schluss mit den Erinnerungen. Schluss mit der Comicfamilie.

Sie isst ihr Picknick und beugt sich über den Rand des Vorsprungs. Irgendwie fühlt sie sich hier wie am sichersten Ort der Welt. Sie beugt sich noch ein Stück weiter vor und sieht hinunter auf die Straße. Dann erstarrt sie.

Jemand beobachtet sie durch ein Fernglas. Eine Frau. Wie lange steht sie schon da? Hier gibt’s nichts zu sehen, Madam, denkt sie.

Jetzt ruft die Frau etwas. Haben Sie vor zu springen?

Sydney ist noch keine vierundzwanzig Stunden in St. Ives, und schon gibt es jemanden, dem es nicht egal ist, ob sie lebt oder stirbt. Gar nicht so schlecht, oder?

Nein, auf keinen Fall. Aber danke!, ruft sie zurück.

Was?

Ich mache nur ein Picknick!

Was?

Ich sitze hier nur!

Geht es Ihnen gut?, ruft die Frau. Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?

Was für eine nette Frau, denkt Sydney, aber hätte ich denn wirklich mein Essen mit hier raufgenommen, wenn ich vorhätte zu springen? Sie blickt wieder nach unten, holt ihr Handy aus dem Rucksack, schaltet die Kamera ein und zoomt den Kopf der Frau, ihr Fernglas und den Schaffellmantel heran.

Jetzt kann ich Sie besser sehen, ruft Sydney.

Sie hebt die Hand mit hochgerecktem Daumen. Die Frau sieht es und erwidert die Geste, was beide auf eigentümliche Weise tröstlich finden.

Dann rutscht Sydney wieder ein Stück zurück, außer Sichtweite, damit die Frau nicht auf die Idee kommt, Hilfe zu holen, oder noch mehr Leute auf sie aufmerksam macht. Sie skizziert kurz, was gerade passiert ist.

Maria Norton lässt ihr Fernglas sinken und starrt auf die Stelle, wo eben noch eine Fremde gesessen hat – nur eine gebogene Linie auf dem Dach, bevor sie durch die Linsen geblickt hat, eine dunkle Linie mit flachsblonder Spitze, wie eine in Gold getauchte Klammer. Etwas, das sie innehalten und hochschauen ließ. Jemand, der ihr ein Daumen-hoch-Zeichen gegeben hat. Sonst fühlt sich ihr Leben meistens an wie Daumen runter, wie ein Lied der Missbilligung, das in Dauerschleife in jeder Zelle ihres Körpers läuft, aber eben hat ihr jemand für einen kurzen Moment ein Zeichen gegeben, das sagte du bist okay und ich bin okay und das, was hier gerade passiert, ist okay.

Bären füttern verboten

Подняться наверх