Читать книгу Bären füttern verboten - Rachel Elliott - Страница 14
Ich ♥ Otter
ОглавлениеJon Schaefer hört sich Marias Geschichte an, die von der Frau auf dem Dach, einer Frau mit blondem Haar und schwarzgrauen Kleidern. Seiner Frau mit diesem Grad an Aufmerksamkeit zuzuhören, erfordert beträchtliche Mühe, und er ist zufrieden mit sich, wie gut es ihm gelingt. Er produziert eine Reihe von Gesichtsausdrücken und Tönen, jeweils genau zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, um die Geschichte voranzutreiben, in der Hoffnung, dass sie bald ihren Höhepunkt erreicht und dann ausläuft. Jon nimmt an, dass jeder sich so viel Mühe gibt, um seinem Partner zuzuhören, das ist eben so, überall auf der Welt, wie ein zweiter Job, oder nicht?
Wie konntest du die Frau denn so genau sehen?, fragt er.
Ich hatte dein Fernglas dabei, sagt Maria.
Mein Fernglas? Wieso das denn? Ich denke, du hasst mein Fernglas.
Ich wollte mal sehen, was es mit dem ganzen Theater auf sich hat.
Welches Theater.
Das, was du wegen dem verdammten Fernglas veranstaltest.
Jon seufzt. Er legt seinen Pinsel hin. Das kann dauern. Erst hat sie nur den Kopf zur Tür hereingestreckt, aber jetzt ist der Rest gefolgt, Hals, Rumpf, Arme, Beine und Füße, die ganze Frau, aber vor allem ihre Stimme, immer ihre Stimme, während er versucht, das Meer zu malen. Er blickt auf das große runde Fenster neben seinem Arbeitstisch, das Beste an diesem Raum – wenn er hindurchsieht, fühlt sich sein Leben tipptopp an –, dann wendet er sich wieder seiner Frau zu. Sie redet von einer Fremden. Einer Frau, die sie wahrscheinlich nie wiedersieht. So ist es hier nun mal. Klar gibt es auch Einwohner, aber all die Massen, die hier kommen und gehen, all die Ferienwohnungen, Ferienhäuser, B&Bs. Diese Frau ist also auf ein Dach geklettert. Wahrscheinlich betrunken. Na und? Bestimmt ist sie längst wieder unten und trinkt Pfefferminztee für drei Pfund die Tasse oder kauft eine Schachtel Karamellbonbons. Vielleicht sieht sie sich in einer Galerie eins von seinen Bildern an, denkt, dass es gut in ihr Wohnzimmer passen würde, und überlegt, ob sie sich etwas Gutes tun soll.
Sie hören, wie die Haustür auf- und wieder zugeht. Dann schwere Schritte auf der Treppe. Es ist Stuart, ihr Irischer Wolfshund, der von seinem Spaziergang zurück ist und sich bei ihnen ein Klopfen und ein Kraulen abholt, bevor er wieder nach unten läuft, zu seinem Abendessen.
Sie haben sich Stuart nicht ausgesucht, so lautet zumindest die Geschichte, aber wie bei allen Geschichten kommt es darauf an, wer sie erzählt.
Er war am Strand, räudig und mager, mit einem Namensanhänger, auf dem nur STUART stand. Maria ging dort spazieren. Zuerst hatte sie Angst, als sie in der Ferne das seltsame große Wesen erblickte, das langsam auf sie zukam. Er war violett-grau mit schwarzen Flecken, hatte große, traurige Augen, und sein Gesicht schien sanft zu lächeln. Sie streckte vorsichtig die Hand aus. Er kam näher, ignorierte die Hand und drückte den Kopf an ihren Bauch. Sie legte die Arme um seinen Rücken und fragte sich, ob alle Riesenhunde das taten, ob er vielleicht fror oder Schmerzen hatte, ob er imstande war, sie zu töten.
Das finde ich also am Strand, dachte sie. Keine seltene Münze, keine Flaschenpost, keine Wrackteile von einem alten Schiff. Sondern das hier. Einen Hund mit einer enormen körperlichen Präsenz. Dabei wirkte er so ätherisch, beinahe wie ein Fabelwesen.
Sie brachte ihn zum Tierarzt. Er ist leider nicht gechipt, Maria. Und auf seiner Marke ist keine Telefonnummer, was höchst nachlässig ist.
Schlimm, sagte sie.
Stuart trottete neben ihr her, als sie nach Hause ging. Es fühlte sich an, als wären sie diesen Weg schon hundert Mal zusammen gegangen.
Ich gebe ihn nicht weg, sagte Maria. Auf keinen Fall. Er hat mich ausgesucht.
Na ja, sagte Jon, eigentlich seid ihr euch nur zufällig über den Weg gelaufen. Es hätte genauso gut jemand anders sein können. Und er ist riesig. Meine Güte, Maria, das ist, als hätten wir ein Pony im Haus. Das Futter wird uns ein Vermögen kosten.
So wie deine Leinwände und Farbtuben, dachte sie. Wie all die Pinsel und Skizzenblöcke.
Maria wurde nicht leicht wütend, aber seine Bemerkung, sie und Stuart wären nur durch einen Zufall miteinander verbunden, machte sie fuchsteufelswild. Die Stimme, die aus ihrem Mund kam, war so laut, dass sie erschrak. Hinterher musste sie darüber lächeln. Am nächsten Tag kaufte sie einen XXL-Hundekorb für die Küche, mit blau kariertem Fleecefutter.
Jon greift wieder nach seinem Pinsel. Er hat genug gehört von dieser Frau auf dem Dach. Gut, gut, sagt er.
Maria hasst es, wenn er das tut. Wenn er ohne jeden Grund gut, gut sagt. Obwohl überhaupt nichts gut ist, und erst recht nicht gut, gut. Und wenn er eigentlich meint, genug jetzt, geh schon, lass mich in Ruhe.
Belle Schaefer geht am Strandcafé vorbei und den schmalen Pfad hoch zu dem Haus, wo sie immer noch mit ihren Eltern lebt.
Schäm dich, Belle. Das war doch nicht der Plan, oder? Mit neunundzwanzig immer noch zu Hause zu wohnen. Ihr Gefängniswärter ist Unentschiedenheit, ein schnittiger kleiner Kerl, schick angezogen, der mit den Fingern schnippt und sagt, du könntest dahin gehen oder dorthin, du könntest dies tun oder das, du könntest alles Mögliche tun, Belle, sieh doch nur, wie viele Optionen du in dieser sich ständig verändernden Welt hast. Die Musik der Unentschiedenheit ist schräger, frenetischer Jazz, manchmal so wild und laut, dass Belle gar nicht mehr denken kann. Wohin wirst du gehen, Belle? Wie wirst du dich entscheiden? Sollen wir einfach eine Nadel in eine Landkarte stecken? Ich bin der Pianist im Foyer jedes Augenblicks, Belle. Komm, setz dich zu mir, wir singen ein Lied der Möglichkeiten, oder wir schauen auf Instagram, was die anderen alle tun. Warum hältst du dir die Ohren zu?
Unentschiedenheit macht süchtig. Du kannst überallhin reisen, ohne dich von der Stelle zu bewegen. Du kannst in jeder beliebigen Stadt leben, ohne auch nur eine Tasche zu packen. Belle hat ein Notizbuch voller Möglichkeiten, und darin zu blättern, ist so jazzig und erschöpfend, dass sie zu nichts anderem kommt.
Nein, das stimmt so nicht. Ihr Gefängniswärter war die Unentschiedenheit. Sie war durcheinander und überfordert, damals als Teenager, zu vernünftig und sexlos für diesen bizarren Lebensabschnitt. Ihre Hormone setzten einfach nichts in Gang, keine Lust, kein ewiges Verschlafen, keine Poster an der Wand. Warum klebten sich ihre Freundinnen plötzlich Fotos von völlig Fremden an die Zimmertür? Was zum Teufel war bloß mit allen los? Die Aufregung, das Schminken, die Knutschereien. Die Zeitschriften, obwohl die viel langweiliger waren als Comics. Das ständige Hast du dies schon gemacht? und Hast du das schon gemacht?. Wann war der Startschuss gefallen? Wann waren alle verrückt geworden? Eben haben wir noch fröhlich mit Lego gespielt und in Priele geschaut, und jetzt wollen wir alles sofort, und wenn wir das nicht kriegen, bringen wir uns um.
Als Mädchen las Belle viel und half ihrer Mutter gern im Garten. Sie sammelte Muscheln am Strand und fragte die Fischer, welche Haken und Köder die besten waren. Sie hatte sieben T-Shirts mit der Aufschrift ICH ♥ OTTER, für jeden Wochentag eine andere Farbe, und jeden Morgen zog sie ein frisches davon an, dazu entweder Jeans oder Cordhose. (Sie ist ziemlich uninspiriert, sagte ihr Vater. Lass sie einfach so sein, wie sie ist, sagte ihre Mutter.) Das Leben war schön und einfach.
Dann kam die Pubertät. Chaos. Die Mädchen angemalt und völlig aufgedreht. Die Jungen mürrisch und überhitzt, ständig blöde Sprüche auf den Lippen. Alle riechen anders und kompliziert, nicht mehr nach Waschmittel. Und das Allerschlimmste: Es ist nicht mehr akzeptabel, T-Shirts von der Otter-Schutzstation zu tragen.
BELLE: Ich möchte dieses Stadium bitte überspringen.
LEBEN: So funktioniert das leider nicht, meine Liebe. Zieh einfach den Kopf ein und warte ab, was passiert.
BELLE: Aber die sind alle verrückt geworden. Es gibt plötzlich Regeln, wie man aussehen und sich verhalten muss. Sogar, welche Musik man hören darf und welche nicht. Überall eckt man an.
LEBEN: Wie ich schon sagte, zieh einfach den Kopf ein. Du kannst immer noch Elvis hören, wenn du willst.
BELLE: Ich mag seine Stimme. Aber außer mir hört ihn keiner.
LEBEN: O doch, meine Liebe. Ältere Leute. Anderswo auf der Welt.
Dann, endlich, verstummte der Lärm, und der Himmel klarte auf. Ihre Freundinnen gingen weg zum Studieren, und sie saß mit Halsschmerzen und Krissellocken am Strand.
BELLE: Darf ich jetzt wieder Otter lieben? Ist es vorbei?
LEBEN: Ja, Belle. Es ist vorbei. Nur noch eine letzte Hürde.
BELLE: Was?
LEBEN: Sie warten zu Hause auf dich, in der Küche.
Maria und Jon tranken Tee und schauten auf die Uhr.
Du warst aber lange weg, sagte Jon und musterte die schlabbrige Hose seiner Tochter, die ein gutes Stück zu lang war.
Ist was passiert?, fragte sie.
Nein, keine Sorge, sagte Maria. Wir wollten nur mal mit dir reden.
O Gott.
Worüber?
Über dein Leben.
Mein Leben.
Ja.
Was ist damit?
Nun ja, genauer gesagt, über deine Ausbildung.
Deine berufliche Laufbahn.
Welche berufliche Laufbahn?
Eben.
Was?
Liebes, bist du sicher, dass du nicht studieren willst? Nicht schon wieder.
Aber Liebes.
Mir geht’s gut, so, wie es ist. Ich will nicht in so einen Pferch, lieber sterbe ich.
Was?
Pferch?
Ich will nicht an die Uni.
Aber Belle.
Das kostet ein Vermögen, und eine Jobgarantie gibt dir trotzdem keiner. Außerdem habe ich schon einen Job, der mir gefällt. Ich will weiter in der Buchhandlung arbeiten. Kann ich nicht einfach hier bleiben?
Du willst wirklich hier bei uns bleiben?
Unglaublich, ich weiß, aber ja. Jedenfalls fürs Erste.
Maria und Jon sahen sich an.
Ich habe keine Ahnung, was gerade in ihr vorgeht, denkt Jon, während er das Gesicht seiner Frau betrachtet, aber ich hoffe, sie ist genauso enttäuscht wie ich. Unsere Tochter ist eindeutig zurückgeblieben.
Jippiee, denkt Maria. Jippiee.
Belle ist jetzt die Jüngste in dieser Stadt, die einen Schrebergarten hat. Letztes Jahr hat sie einen Preis für den besten Kürbis, die größte Möhre und den leckersten Schlehenlikör gewonnen. Sie trinkt im Black Hole Bier mit ihren Freunden, von denen die meisten mindestens sechzig sind. Sie arbeitet ehrenamtlich in der Otter-Schutzstation. Sie wohnt im Anbau. Keine eigene Haustür, aber man kann schließlich nicht alles haben, oder?
An diesem Abend schließt Belle die Tür auf und löst die Leine von Stuarts Halsband. Ein Duft von Gebackenem, vermischt mit einem Hauch Ölfarbe, Musik vom Klassiksender, der den ganzen Tag leise läuft. Sie geht in die Küche und füllt Stuarts Schale mit Trockenfutter.
Wie er sie ansieht. Wer würde es fertigbringen, ihn zurückzulassen? Was für ein Leben könnte besser sein als eines mit Stuart?
Ihre Mutter kommt in einem roten Schlafanzug in die Küche.
Wow, der ist aber knallig, sagt Belle. Ist der neu?
Den habe ich schon seit Jahren, sagt ihre Mutter. Ich ziehe ihn nur nie an.
Hast du das von der Frau auf dem Dach gehört?, fragt Belle.
Ja.
Anscheinend wäre sie beinahe gesprungen.
Maria schüttelt den Kopf. Sie saß da und aß ein Sandwich, sagt sie. Aber wer weiß, vielleicht hatte sie vor zu springen.
Du hast sie gesehen?
Ja.
Oh.
Hmm.
Kann ich einen davon haben?, fragt Belle und schnuppert an dem Tablett mit Blaubeermuffins.
Zwei Frauen, zwei Generationen. Die eine trägt seidene Nachtwäsche, um sich aufzumuntern, die andere eine Oversize-Hose und ein lila kariertes Hemd. Sie setzen sich und trinken Tee und sprechen über die Frau, die vielleicht vorhatte zu springen oder auch nicht. Sie fragen sich, was jemanden wohl dazu treibt, so etwas zu tun – sich das Leben zu nehmen, schwere Verletzungen zu riskieren. Belle meint, einen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter zu sehen, den sie nicht erkennt, weil sie ihn schon ihr Leben lang sieht.
Hast du schon mal?, fragt Belle.
Was meinst du?, fragt ihre Mutter.
Ich weiß nicht, sagt Belle und beißt in den Muffin.
Sie sitzen da und schweigen.
Zwei Schafe, vollkommen reglos, die an einem frostigen Morgen auf einer Wiese stehen. Das ist das Bild, das Belle jetzt im Kopf hat. Komisch, denkt sie. Es gelingt ihr nie, sich Schafe vorzustellen, wenn sie es will, wenn sie im Bett liegt und nicht schlafen kann, aber an diesem Abend sind definitiv zwei Schafe hier in der Küche, und sie hat das Gefühl, sie ist eines davon.
Sie sieht ihre Mutter an. Geht’s dir gut, Mum?, fragt sie.
Natürlich, Liebes, sagt ihre Mutter. Mir geht’s doch immer gut.
Belle ist heute mit mir rausgegangen. Hat sich bei der Arbeit krankgemeldet, angeblich eine plötzliche Erkältung. Es klang wie eine Ausrede, aber warum sollte ich mich beschweren, wenn ich bei ihr im Bett liegen kann und einen Extraspaziergang kriege?
Obwohl es Winter ist, steht ein Eiswagen am Strand. Die Leute gehen mit hochgeschlagenem Kragen und flatterndem Schal am Wasser entlang, eine Waffel mit Vanille-, Schoko-, Erdnuss-butter- oder Toffee-Eis in der Hand. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde den Anblick romantisch. Belle hat Vanilleeis mit Himbeersoße genommen. In ein paar Minuten wird sie mir die Spitze ihrer Waffel geben. Ich bleibe in der Nähe und sehe sie an, damit sie es nicht vergisst.
Ich könnte Ihnen so einiges über meine Familie erzählen, Dinge, die ich gehört, gesehen oder gerochen habe. Allerdings weiß ich nicht, ob das loyal wäre, und Loyalität steckt mir im Blut. Wie kann ein Hund gegen sein ureigenstes Wesen handeln, um dieses moralische Dilemma zu überwinden? Glauben Sie mir, das ist wahrlich nicht einfach. Aber jemand hat mich dazu überredet, mir eine Schachtel Hundekuchen versprochen. Dieser Jemand ist Sydney Smith, eine Cartoonistin, die mich in diesem Moment gerade zeichnet, oder, genauer gesagt, unsere erste Begegnung. Sie werden sie gleich sehen, wenn sie sich selbst in das Bild malt, wie sie auf Belle und mich zugelaufen kommt.
Ich heiße Stuart. Ich bekomme Briefe vom Tierarzt:
Lieber Stuart,
ich hoffe, es geht Dir gut. Ich wollte Dir nur kurz Bescheidsagen, dass Deine Impfung bald fällig ist. Also ruf uns doch bitte an, oder falls Dir das zu lästig ist, sag einem von Deinen Besitzern, dass er uns anrufen soll. Bis bald!
Herzliche Grüße
Pete Armstrong, Dein freundlicher Tierarzt
PS: Wenn Du in der Gegend bist, schau doch kurz rein, um Hallo zu sagen und Dir ein Leckerli abzuholen – wir wollen ja nicht, dass Du Angst hast, zu uns zu kommen!
Nett, oder? Am liebsten würde ich diese Briefe in einer hübschen Holzschachtel sammeln, aber da ich das nicht übermitteln kann, landen sie im Altpapier, sobald mein Termin gemacht ist.
Ich bekomme Post, weil ich nicht mehr heimatlos bin. Maria hat mich gefunden und mit nach Hause genommen. Ich mochte sie vom ersten Moment an – dieser Schaffellmantel, ein bisschen angeschmuddelt und zu groß, und ihre wilden Haare, genauso zottelig wie meine. Als wir uns begegnet sind, habe ich als Erstes den Kopf an ihren Bauch gedrückt, warum, weiß ich nicht.
Belle ähnelt ihrer Mutter, aber ihr würde diese Bemerkung gar nicht gefallen. Die genervten Seufzer, die die meisten vermutlich gar nicht bemerken, aber ich schon. Die endlosen Spaziergänge und die Angewohnheit, abends stehen zu bleiben und in anderer Leute Fenster zu schauen. Sind alle Menschen so neugierig? Beide wirken dann traurig, als hätten sie das, was sie hinter den Fenstern sehen, verloren. Wenn ich wüsste, was es ist, würde ich es aufspüren und herbringen. Belles Eltern denken, sie wäre rundum zufrieden, weil sie das denken wollen; so können sie weiter um sich selbst kreisen.
Das bringt mich auf Jon. Den kann ich nicht ausstehen. Ich spüre schon das Knurren in meiner Kehle, die aufgestellten Nackenhaare, die gefletschten Zähne. Jon ist ein richtiger Mistkerl.
Aber eigentlich war ich gerade beim Winter, nicht? Der Eiswagen am Strand. Leute mit hochgeschlagenem Kragen. Belle, die mir gleich die Spitze ihrer Waffel geben wird. Was sie natürlich auch tut. Sie ist eine richtig Nette, das finden alle, nicht nur ich. Sie hilft im Haushalt, geht mit mir raus und schweinesittet für Winnie von nebenan, eine einsame Fernsehproduzentin, die sich aus einer Laune heraus ein Hängebauchschwein zugelegt hat, aber kaum zu Hause ist, um sich darum zu kümmern. Timothy begleitet uns oft auf den Spaziergängen und trottet an seiner roten, strassbesetzten Leine neben uns her. Anfangs sorgten wir für einiges Aufsehen, aber mittlerweile haben die Leute sich an uns gewöhnt – die junge Frau im grünen Regenmantel, die mit einem Wolfshund, einem Schwein und einem Flachmann mit selbst gemachtem Schlehenlikör ihre Runden dreht.
Die Waffel selbst schmeckt nach gar nichts, aber das Vanilleeis ist lecker. Ich würde ja zu gerne mal ein ganzes Eis essen. Aber dazu kommt’s wohl nicht, es sei denn, ich schnappe einem kleinen Kind seins weg, und so ein Hund bin ich nicht. Wir gehen noch ein Stück, dann holt Belle den Tennisball am Stock heraus und wirft ihn. Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht so versessen darauf, hinter ihrem Ball herzulaufen, aber ich tue ihr den Gefallen und bringe ihn ihr zurück, damit sie ihn erneut werfen kann. So ist sie wenigstens beschäftigt und klaut nicht wieder irgendwelche Sachen. Ja, sie ist eine Ladendiebin. Ab und an lässt sie einen Eyeliner in ihrem Ärmel verschwinden oder versteckt eine Zeitschrift in der Zeitung, die sie kauft. Fragen Sie mich nicht, warum sie das tut – ich habe keine Ahnung. Am fehlenden Geld kann es nicht liegen. Aber das bleibt unter uns, ja?
Ich habe gerade den Ball nach einem ziemlich misslungenen Wurf zurückgebracht, als ich etwas Ungewöhnliches rieche.
Es ist eine Frau, die den Strand entlangläuft. Kurze Jacke, blonde Haare, großer blauer Kopfhörer. Mehr Informationen kann ich Ihnen dazu nicht geben, weil meine Sicht ziemlich eingeschränkt ist, was Farben angeht, aber sie riecht irgendwie anders, anders als alle Leute, an denen ich schon gerochen habe. Und ich habe schon an sehr vielen Leuten gerochen, auch an einigen, bei denen ich es besser gelassen hätte, mit lauter komischen Sachen unter den Fingernägeln. Die Hundebesitzer unter Ihnen wissen schon, dass wir riechen können, in welcher Stimmung Sie sind, aber niemandem scheint klar zu sein, wie detailliert wir das wahrnehmen. Einige von uns, die höher entwickelten Mitglieder unserer Spezies, wissen ganz genau, was Sie fühlen, mit allen Nuancen. Jede Empfindung dünstet aus Ihren Poren. Das umgibt Sie wie eine Wolke, und meistens riecht es unangenehm. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber so ist es nun mal. Ihr Menschen seid ein stinkender Haufen.
Und diese Frau, die auf Belle und mich zuläuft und dann stehen bleibt, riecht, als wäre sie durch Regen gelaufen, aber es hat heute nicht geregnet. Sie trägt so viel Wetter. Ihr eigenes Klima, dunkel und feucht. Ich schnuppere an ihrer Jacke – sie ist trocken. Die Frau riecht nach Nebel, Moos, nassem Beton und Benzin. Sie riecht nach Flüssen und Unkraut und verbranntem Rhabarber. Da ist die Frische von klarem Wasser. Und da Moder und Salz, Melasse und Laichkraut.
Ich schaue sie an. Sie lächelt mir zu. Ich möchte an ihrer Hand lecken, wissen, wonach sie schmeckt.
Ganz schön groß, sagt sie zu Belle.
Aber total lieb, sagt Belle, und mir fällt auf, wie der Geruch ihrer Haut sich verändert, als sie das sagt; da ist auf einmal Holzrauch und Vanille.
In dieser Frau sind so viele Schuldgefühle, Belle. Wenn ich könnte, würde ich es dir sagen. Sei vorsichtig, das ist wie eine Flutwelle. Ich bin zwar ganz schön groß, aber mit ihren Schuldgefühlen könnte sie mich sofort umhauen.
Was hat sie getan, Belle? Was um alles in der Welt hat sie nur getan?