Читать книгу Becca - Liebe ist nichts für Feiglinge - Rachel Hauck - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
An: ALLECasperCo.
Betreff: Neuorganisation
…
Ich überfliege die E-Mail meiner Chefin Veronica Karpinski, Mit-Geschäftsführerin von Casper & Company.
Um unseren Workflow zu verbessern … bla, bla, blubber, blubber.
Ich scrolle weiter.
Neuorganisation unserer Abteilungen …
Neuorganisation? Das hat sie mir gegenüber noch nie erwähnt. Als Leiterin des Kundendienstes bin ich normalerweise in solche Umstrukturierungen eingeweiht.
Mit Wirkung von Montag nächster Woche übernimmt Mike Perkins die Leitung des Kundendienstes …
Was? Mike Perkins? Ich lese den letzten Satz noch mal. Mit Wirkung von Montag nächster Woche übernimmt Mike Perkins … Jedes Wort trifft mich wie ein Elektroschock. In einem Anflug von Panik greife ich zum Telefon und wähle Lucys Nummer. Meine Hände zittern. Mein Magen ist ein einziger Knoten.
Das Handy meiner Freundin klingelt bestimmt hundert Mal, jedenfalls kommt es mir so vor. „Mach schon, Lucy, geh dran!“
Ich kann die Tränen nicht länger zurückhalten. Aber ich muss. In Tränen aufgelöste Frauen, ganz besonders in Tränen aufgelöste Abteilungsleiterinnen, kommen überhaupt nicht gut.
„Unprofessionelle Emotionalität“ nennt unser oberster Geschäftsführer, Jonathan Casper, das neuerdings. Kürzlich geschehen in einer Sitzung, in der Trish Carter die Fassung verloren hat, nachdem sie nicht zur Verwaltungsleiterin befördert worden war. Wieder einmal nicht.
Tränen dieser Art sind die schlimmsten – Frusttränen. Wuttränen. Tränen, die gar nicht wieder aufhören wollen, wenn sie erst einmal fließen.
„Ich glaub das echt nicht“, murmele ich, während ich noch immer auf die E-Mail starre und eine weitere Runde Klingeln abwarte, doch an Lucys Ende geht niemand dran.
Wie spät ist es überhaupt – halb elf? Der Tag hat gerade erst angefangen und steht jetzt schon ganz oben auf der Liste der deprimierendsten Tage meines Lebens.
Jetzt geht die Mailbox dran. „Sie sind verbunden mit dem Büro von Lucy O’Brien. Leider kann ich Ihren Anruf nicht …“
Ich warte die Ansage nicht ab und drücke die Eins.
„Lucy …“ Meine Stimme zittert, deshalb unterbreche ich mich und atme tief durch. „Becca hier. Bitte ruf mich zurück.“
Ich knalle den Hörer auf und beginne eine Wanderung durch mein Eckfensterbüro. Was wird hier gespielt? Was führt Veronica jetzt wieder im Schilde?
Draußen vor dem Bürofenster ballen sich dunkelgraue Sturmwolken zusammen und treiben über den Himmel Floridas, sodass ich mein Spiegelbild im Fenster sehen kann. Ich beuge mich vor, um mich genauer zu begutachten, und mache einen Schnellcheck. Gut sitzender Hosenanzug, teure Stiefeletten, perfektes Make-up, schulterlanges glänzend braunes Haar. Ich bin der Inbegriff einer jungen Karrierefrau aus dem 21. Jahrhundert.
Eigentlich bin ich genau da, wo ich in meinem 33-jährigen Leben sein wollte – bis zu dieser widerwärtigen E-Mail.
Ich stürme zurück an meinen Schreibtisch, zerre den Stuhl zurück und werfe mich darauf, während ich versuche, die widersprüchlichen Gefühle in mir zu sortieren. Verwirrung mischt sich mit Zorn, Tränen der Ohnmacht mischen sich mit trotziger Entschlossenheit. Ich hatte gedacht, über Momente wie diesen sei ich hinweg.
Das dürfte ein langer Tag werden.
„Becca?“ Jill, meine Assistentin, drückt sich vor der Tür herum.
Blitzschnell tauche ich aus meiner Schmollecke auf und schnappe mir die Maus, um vorzutäuschen, ich sei beschäftigt. „Jill, was kann ich für dich tun?“ Ich rüttele an der Maus, um den schwarzen Bildschirm zum Leben zu erwecken.
„Alles okay?“, fragt sie und steckt ihren Kopf zur Tür herein.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Klar. Wieso nicht?“ Schreie ich wirklich? Hört sich zumindest ganz danach an. Also räuspere ich mich und frage leiser: „Sonst noch was?“ Ich rüttele wieder an der Maus. Der Bildschirm erwacht.
Die grässliche Mail grinst mich an. Loser!
Jill lässt sich auf den Polsterstuhl auf der anderen Seite meines Schreibtischs fallen. „Ich hab dich heute Morgen kommen sehen. Neue Stiefel?“
„Ja.“
„Superschick.“
„Hab ich aus New York mitgebracht.“
„Wie teuer?“ Jill redet nicht um den heißen Brei herum.
„So viel, wie du in einer ganzen Woche nicht verdienst.“ Ich nehme auch kein Blatt vor den Mund. „Kommst du wirklich her, um mit mir über meine Schuhe zu reden?“
„J-ja, hörst du doch.“ Eine dunkle Röte überzieht Jills Wangen.
„Weißt du, dass du rot wirst, wenn du lügst?“
„Attila hat die neue Organisationsstruktur rumgeschickt“, platzt sie heraus und wirft eine Kopie des Organigramms auf meinen Schreibtisch.
Attila ist unser Codename für Veronica Karpinski. Kurz für Attila, der Hunnenkönig. Den Spitznamen hab ich ihr vor ein paar Jahren verpasst – unabsichtlich, als sie auf ihrer Karriereleiter gerade den ersten Sprung machen wollte und hypergeschäftig durch die Abteilung wuselte, alle und jeden herumkommandierte und ihr Terrain absteckte. Zu meinem Leidwesen blieb der Name an ihr kleben. Zum Glück erinnert sich aber niemand mehr daran, wer ihn erfunden hat.
„Verstehe.“ Ich verschwinde hinter meinem Laptop.
Jill beugt sich zu mir vor und flüstert: „Sie haben dir Mike Perkins vor die Nase gesetzt.“
Jetzt möchte ich am liebsten losschreien. Danke! Mails lesen kann ich auch! Die Tränen steigen mir wieder in die Augen, und wenn ich jetzt nur einmal blinzele, laufen sie bestimmt los.
Ich klicke auf eine alte Mail von Lucy, nur damit die ekelhafte An-diesem-Platz-brauchen-wir-dich-nicht-mehr-Mail vom Bildschirm verschwindet.
„Sonst noch was, womit ich dir behilflich sein kann?“, frage ich, um das Gespräch zu beenden. Bei mir ist so viel Dampf unterm Kessel, dass es jeden Moment zur Explosion kommen könnte. Ich kann keine Garantie für Jills Sicherheit übernehmen.
„Was denkt Attila sich nur? Ich meine, alle hier mögen dich. Und Mike ist so …“
„Sie weiß, was sie tut.“ Egal, wie sauer ich gerade auf Veronica bin, ich kann nicht zulassen, dass Jill Holmes, die größte Klatschtante im ganzen Unternehmen, mich hier zu unvorsichtigen Äußerungen verleitet. Jedes Wort, das ich jetzt sage, wird spätestens morgen in der ganzen Firma die Runde machen.
„Also, wenn ich dir irgendwie …“
Ich stehe auf und schneide ihr das Wort ab. „Mir geht’s bestens. Danke.“
Mein Telefon klingelt, als Jill den Raum verlässt. Das Display verrät mir, dass es Lucy ist – dem Himmel sei Dank.
„Becca, was ist los?“, fragt Lucy ungefähr zehn Mal, bevor ich mich aufrappeln kann zu antworten.
„Ich bin so wütend, so megawütend“, bringe ich zwischen zwei Schluchzern heraus. Ich lasse den Kopf hängen. Tränen tropfen auf das Eichenimitat der Schreibtischplatte. Ich wische sie mit dem Organigramm weg, das Jill dagelassen hat.
„Was ist passiert?“
„Attila, der Hunnenkönig, hat die ganze Abteilung umstrukturiert.“
„Wann?“
„Am Wochenende, nehme ich an.“
„Und?“
„Ich bin nicht mehr Leiterin des Kundendienstes.“
„Was? Kann sie das denn einfach machen?“
„Ganz offensichtlich.“ Eine aufsteigende Gefühlswelle hämmert in meinem Kopf. Casper ist ein mittelgroßes, aber enorm erfolgreiches Software-Unternehmen. Jonathan Caspers jüngste Kopfgeburt, W-Book, dürfte das World Wide Web im Sturm erobern. Damit kann jeder seine eigene Website kreieren – jeder vom kleinen Steppke bis zur Uroma. Total easy.
Aber ich schweife ab. „Du weißt ja, wie so was läuft, Lucy. Sie machen, was sie wollen. Ganze Abteilungen und Abteilungsleiter mal eben mit einem Fingerschnippen austauschen – das ist nichts Neues. Ich hab nur nicht damit gerechnet, dass es mich treffen würde.“
„Becca, du bist so gut in deinem Job“, versucht Lucy mich zu trösten. „Du hast dir diesen Job echt verdient.“
„Glaubst du, das weiß ich nicht? Aber seit dieser E-Mail von heute Morgen hab ich diesen Mike Perkins über mir. Er ist der neue Leiter der Abteilung Kundendienst. Und über dem steht Veronica.“
„Sie hätte wenigstens seine Position anders nennen können“, bemerkt Lucy leise.
„Sollte man meinen.“ Ich koche wieder. Es gibt keinen Grund, absolut keinen, mir diese Position wegzunehmen. Meine Arbeitsergebnisse sind ausgezeichnet, keine Spur von mangelnder Qualifikation oder fehlender Führungskompetenz.
Ich investiere mich zu 130 Prozent in Casper & Company. Ich komme früh, gehe spät. Letztes Jahr habe ich freiwillig sogar über das Thanksgiving-Wochenende gearbeitet, damit ein Auftrag im Wert von einer halben Million rechtzeitig rausgehen konnte. Und im Dezember habe ich zwei Tage meines Colorado-Urlaubs geopfert, um den Verkaufsleiter zu einem Kunden zu begleiten.
„Becca, es muss doch einen Grund geben“, schließt Lucy.
„Attilas irrwitzige Inkompetenz?“
„Rede mit Jonathan“, schlägt sie vor.
„Der hat doch kein Rückgrat. Er wird mir erzählen, ich soll mit Veronica reden, und dann wird er sich hinter ihren Argumenten verstecken.“
„Dann sprich mit Veronica.“ Lucy gibt mir lauter Ratschläge, die ich nicht hören will.
„Nein. Sie hat das ausgeheckt – soll sie doch zu mir kommen.“
„Prima.“ Lucy seufzt. „Dann musst du eben damit leben. Aber beschwer dich nicht!“
Ich lache. „Wie gut kennst du mich überhaupt?“
„Becca, schon seit der zehnten Klasse. Du bist für mich wie eine Schwester, aber ich werde mir in den nächsten zwölf Monaten nicht dein Gejammer anhören, was diese Veronica Karpinski dir angetan hat.“
Lucy kennt mich tatsächlich. Aber ihre Offenheit ändert nichts an den Tatsachen: Ich werde jammern. Am liebsten würde ich ja zu Veronica marschieren und die Sache noch mal verhandeln. Aber das hier ist ihr Spiel.
Ich bin, äh, ich war Leiterin dieser Abteilung. Ab-tei-lungs-lei-tung. Ausbilder, technischer Support, Vertriebsunterstützung und Dokumentation – alle waren mir unterstellt. Und ich habe mich für sie stark gemacht, für meine Leute.
Mike Perkins … Soll das ein Witz sein? Keiner kann ihn ausstehen. Er ist der totale Egoist. Und kommt immer mit den dämlichsten Sachen an. In jeder Abteilungsbesprechung räuspert er sich ungefähr hundert Mal, bevor er fragt: „Hat jemand Interesse an der neuesten Folge von Xena, die Kriegerprinzessin? Ich hab sie aufgenommen.“ Jede Woche. Der Typ macht mir Angst.
Ich höre ein leichtes Klopfen. Als ich aufschaue, steht Veronica schon in der Tür.
„Lucy, ich ruf dich zurück“, belle ich in den Hörer und lege schnell auf.
Aha. Da ist die feige Socke. Ich drehe Veronica den Rücken zu und wische mir ein letztes Mal mit dem durchweichten Organigramm über die Augen, bevor ich mich mit einem leisen Lächeln umdrehe und meiner Exchefin einen Stuhl anbiete.
„Und? Was sagst du dazu?“ Sie zieht sich den Stuhl heran und greift mit einer perfekt manikürten Hand nach dem Organigramm. Dann verzieht sie das Gesicht. „Das ist ja ganz nass.“
„Wasser. Ich hab’s als Unterlage benutzt.“
„Oh.“ Sie lässt das Blatt wieder auf den Schreibtisch fallen. „Und?“ Veronica schlägt die Beine übereinander und wippt mit einem Fuß.
„Ich versteh’s nicht.“ Meine Kopfschmerzen werden immer schlimmer und ich lehne mich haltsuchend an den Schreibtisch. Ich könnte mich auch setzen, aber zu stehen gibt mir das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben – ob das nun stimmt oder nicht.
„Umschwung, Rebecca. Wir bringen den Kundendienst damit einen großen Schritt weiter.“
Aus den dunklen Wolken vor meinem Fenster ertönt leises Donnergrollen. Ich werfe einen Blick nach draußen. Ein Blitz zuckt zu Boden wie die Zunge einer Schlange. Dann prasselt Regen an die Scheiben.
„Was für einen Schritt?“, will ich wissen und sehe Veronica direkt an. „Wovon redest du?“
„Mike Perkins hat eine neue Struktur entwickelt, in der Ausbildung und technischer Support enger mit der Produktentwicklung verflochten sind. Er hat ein paar neue Ebenen in die Gesamtstruktur eingezogen. Jonathan findet es gut. Ich auch.“
Ein paar neue Ebenen? Managergefasel.
„Mir fehlen die Worte.“
„Sag einfach, du bist im Boot.“ Veronica lächelt. Immer noch wippt sie mit dem Fuß.
Mit Todesverachtung frage ich: „Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen, dass du etwas ändern willst, Veronica? Ich war nämlich die Leiterin dieser Abteilung.“
„Ach, Rebecca, eine rein geschäftliche Entscheidung. Nimm’s nicht persönlich.“ Sie zuckt die Achseln, als ginge es um irgendeine Kleinigkeit.
Rein geschäftliche Entscheidung? Ist das alles, was sie mir an Respekt zollt? „Veronica, ich habe mir diese Position erarbeitet. Ich kenne die Branche, ich kenne unsere Produkte und unsere Kunden. Ich verdiene eine bessere Position.“ Ich verkaufe mich noch einmal, in der Hoffnung, dass ich eher selbstbewusst klinge als verzweifelt.
„Wenn du nicht an Bord kommen willst …“ Sie beendet den Satz nicht, während sie mir direkt in die Augen sieht.
Ich verdaue die leise Drohung. Das Blut strömt von meinem Hirn direkt in meine Füße und ich fürchte, dass ich gleich zu Boden gehe. Ich darf es nicht übertreiben. Mein neues Cabrio hat mein Konto geplündert und die Kreditkarte wurde schon mit den Weihnachtseinkäufen belastet.
Ich gehe zurück zu meinem Schreibtischstuhl. Nein, ich habe hier überhaupt nichts im Griff. Ich kann mich also ebenso gut hinsetzen. „Wenn Mike jetzt die Abteilung leitet – was mache ich dann?“
„Alles, was dir Spaß macht“, erwidert Veronica begeistert, als hätte sie gerade eine Resolution zur Beendigung des Welthungers verkündet. „Direkter Kundenkontakt, Schulungen, Reisen. Wir brauchen deine Erfahrung im Team.“
Ich bin ruckartig wieder auf den Beinen, sodass der Stuhl gegen das Sideboard kracht. „Reisen?“
„Genau!“
„Nein, Veronica, ganz sicher nicht. Das hab ich alles wirklich schon durch. Ich will kein Leben mehr, das von Reiseterminen diktiert wird. Ich habe nämlich auch noch ein Privatleben. Und einen Partner.“
Ja, Chris. Ein Gedanke flattert mir durchs Hirn. Hätte ich ihn nicht anrufen sollen, ob wir gemeinsam zum Lunch gehen?
„Denk an die vielen Bonusflugmeilen.“ Veronica steht auf und streicht ihren Wollrock glatt. „Das ist die Position, die wir dir anbieten, Rebecca.“
Bonusflugmeilen. Die gesamte Luftfahrtbranche kann mir nicht so viele Bonusflugmeilen bieten, dass ich freiwillig in den Reisekundendienst zurückgehe. Ausgeschlossen.
Ich brauche frische Luft. Ich angele meine sündhaft teure Handtasche aus der unteren Schreibtischschublade und schnappe mir meinen Trenchcoat (beides Teil der Weihnachtsextras auf meiner Kreditkarte) vom Messinghaken an der Wand.
„Wo willst du hin?“ Veronica folgt mir durch den Flur.
Durch zusammengepresste Zähne lasse ich sie wissen: „Vor allem weg von hier.“