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3 Begrabt mein Herz

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Eine Stunde später waren Gelmard und Munuel auf dem Weg zum Fluss. Eine Weile gingen die beiden Magier wortlos nebeneinander her. Als sie am Ulmenplatz angekommen waren, brach Gelmard das Schweigen.

»Du glaubst nicht, dass sie talentiert ist, nicht wahr?«

Munuel schnaubte verächtlich. »Du sprichst von Prinzessin Limlora? Talent für was? Ich wäre erstaunt, wenn sie das Trivocum überhaupt sehen könnte.«

»In Theorie ist sie gut«, erwiderte Gelmard verteidigend.

»Ja, in der Theorie kann man auch gut sein, wenn man nur fleißig paukt. Das nützt in der Praxis herzlich wenig. Hat sie schon die ersten Übungen gemeistert?«

Gelmard nickte und schaute betrübt. Dann sagte er:

»Sie hat ein Loch ins Trivocum gerissen. Es war zwar nur ein kleines, und ihr Missgeschick mag erheiternd gewirkt haben, aber nichtsdestotrotz war es ein Loch. Wenn auch ein Winziges.«

Munuel schüttelte unwillig den Kopf. »Du weißt, es ist egal, wie klein es war, dann hat sie auf ganz natürliche Weise rohe Magie angewandt, als ihre Elementarmagie nichts bewirkte. Und dir ist klar, was das bedeutet.«

»Leider ja. Sie gibt sich keine Mühe, das Trivocum zu schonen. Sie geht den Weg der Bequemlichkeit, was ihr als fahrlässig ausgelegt werden könnte. Sie stochert blind im Trivocum herum, in der Hoffnung, etwas zu bewirken, aber sie geht völlig planlos vor. Sie ist wie ein Anfänger der Laute, der immer nur leere Saiten spielt, weil es ihm zu anstrengend ist, einen Akkord zu lernen. Und was das Schlimmste ist: Sie denkt nicht beim Lernen und lernt, ohne zu denken. Das ist gefährlich.«

»Also ist sie eher eine Gefahr für sich selbst?«

»Jetzt übertreibst du. Sie ist noch sehr jung. Sie kann sich entwickeln.«

Munuel blieb stehen und sah seinen Mentor an.

»Glaubst du das wirklich? Das würde für einen einfachen Dorfschüler gelten, weil der Respekt vor seinen Lehrmeistern hat. Aber sie ist eine Prinzessin. Sie ist gewohnt, dass sie alles auf Zuruf bekommt, was sie will. Sie hat keinerlei Respekt, da ja alle Welt Respekt vor ihr haben muss. Sie ist von sich so eingenommen, dass sie glaubt, schon alles zu können und alles zu wissen. Wie soll sich das jemals ändern, wenn sie nur von Speichelleckern umgeben ist?«

»Jetzt vergreifst du dich im Ton, junger Dorfmagier!«, donnerte Gelmard. »Ich gehöre zufällig zu ihrem Umfeld.«

»Verzeih, Oheim, dich hatte ich da nicht mit einbezogen. Aber du weißt, was ich meine.«

»Ja«, brummelte der Ältere. »Aber du solltest dich entscheiden, warum du ihr nichts zutraust. Weil sie unbegabt ist oder aufgrund ihrer höfischen Herkunft. Das eine ist ein sachlicher Einwand, das andere nur Ressentiment!«

»Da hast du recht, Oheim, » sagte Munuel zerknirscht. »Ich bin voreingenommen.«

Munuel setzte seinen Weg fort.

»Kommen wir zu was anderem, Oheim. Warum hast du auf Lohtsé so reagiert? Seid ihr euch etwa früher schon mal begegnet?«

Gelmard seufzte. »Ich habe befürchtet, dass du mich das fragen würdest. Ja, es stimmt. Ich kenne den großen Lohtsé. Und ich habe nicht die besten Erinnerungen an ihn. Ich will wissen, was er hier will. Was er von DIR will.«

»Und du meinst, das sagt er dir so einfach?«

Gelmard schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Er war damals schon ein legendärer Geheimniskrämer. Aber wir sind da.«

Sie hatten inzwischen das Flussufer erreicht. Dort saß noch immer Lohtsé an den Felsen gelehnt. Und er las in einem kleinen Buch, welches er auf seinen Schenkeln liegen hatte. Dabei formten seine Lippen die Worte mit.

Munuel und Gelmard näherten sich mit Bedacht und blieben in respektvollem Abstand stehen.

»Ich grüße Euch, Gelmard, Primas des Cambrischen Ordens und Berater des Shabibs von Savalgor« sagte Lohtsé, ohne von seinem Buch aufzublicken. »Setzt Euch zu mir.«

Gelmard und Munuel sahen sich an und setzten sich, wobei sie den alten Magier links und rechts flankierten. Jetzt sah Lohtsé endlich von seiner Lektüre auf und blickte Munuel direkt an. Munuel erkannte, dass sich die grauenvollen Entstellungen im Gesicht des Magiers teilweise zurückgebildet hatten. Nun wirkten sie wieder wie Tätowierungen.

»Es sind die Zeilen in diesem Buch«, erklärte Lohtsé, der die Verwunderung in Munuels Gesicht richtig deutete. »Sie haben große Macht und verschaffen mir immer wieder noch ein wenig Zeit. Doch auf Dauer ist die Veränderung nicht aufzuhalten.«

»Ich muss gestehen, ich bin einigermaßen überrascht, Euch hier in Angadoor vorzufinden. Seit wann habt Ihr Hegmafor verlassen?«, fragte Gelmard mit Ungeduld in der Stimme.

Lohtsé wandte leicht den Kopf. »Ich bin schon sehr lange fort von Hegmafor. Die Festung ist leer und verlassen. Und das ist auch gut so. Viel Unheil ging von diesem Ort aus, aber zurzeit ist sie keine Gefahr, den Kräften sei Dank. Ich war auf den Wolkeninseln und beschützte die Welt vor einer viel schlimmeren Bedrohung.«

»Auf den Wolkeninseln?«, riefen Munuel und Gelmard fast unisono. Munuel nickte Gelmard zu, damit dieser fortfahren konnte.

»Zufälligerweise«, erklärte Gelmard, »bin ich auf dem Weg dorthin. Wir haben seit einiger Zeit keine Nachricht mehr von der Akademie des Ordens auf Hammerskôld. Ich will dort nach dem Rechten sehen.«

»Das solltet Ihr auch tun, werter Ordensmeister. Aber nicht ohne diesen jungen Magier hier.«

»Ich gehe auf gar keinen Fall zu den Wolkeninseln«, sagte Munuel mit Nachdruck. »Ich werde hier gebraucht.«

»Das ehrt Euch, Munuel«, erwiderte Lohtsé. »Aber manchmal gibt es wichtigere Aufgaben für einen Magier, als seinem Dorf zu dienen. Diese Bedrohung, von der ich spreche, wird irgendwann auch Angadoor erreichen. Und dann wird es zu spät sein.«

»Von welcher Bedrohung sprecht Ihr, Lohtsé?«, wollte Gelmard wissen.

»Dazu komme ich später. Erst möchte ich von euch wissen, wer Limlora ist.«

Munuel und Gelmard sahen sich an.

»Das ist die Tochter des Shabibs«, antwortete dann Munuel. »Woher …?«

»Ihr solltet wissen, dass mein Gehör außerordentlich ist. Vor allem, wenn ich in diesem Büchlein lese. Sie hat also ein Loch ins Trivocum gerissen?«

»Ein winziges!« beeilte sich Gelmard, zu sagen.

Lohtsé schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Jetzt passt alles zusammen.«

»Was passt zusammen?«, wollte Gelmard wissen.

»Ein sterbender Erzmagier, der Meister des Cambrischen Ordens, ein begabter Jungmagier und eine von roher Magie erfasste Novizin treffen sich in Angadoor. Manch einer mag darin einen Zufall sehen, ich dagegen erkenne eine Absicht.«

»Was für eine Absicht sollte das sein?«, fragte Munuel.

»Die Tochter des Shabibs auf die Wolkeninseln zu bringen. Sie wird irgendwann dem Shabib auf den Thron folgen, nicht wahr? Das passt doch wunderbar in einen finsteren Plan. Hört! Dieses Mädchen darf die Inseln nie erreichen! Unter keinen Umständen. Sie muss zurück nach Savalgor, und das so schnell wie möglich. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, welch sinistrer Einfluss den alten Geramon dazu brachte, seine Tochter mit nur zwei Leibwächtern und einem Magus auf eine solche Reise zu schicken. Euch sollte klar sein, dass ihr nur Marionetten in einem sehr düsteren Theater seid. Lasst euch dazu nicht missbrauchen!«

»Das klingt sehr nach Verschwörung«, brummte Gelmard. »Ich wüsste nicht, wer einen Vorteil davon haben sollte, Limlora auf die Wolkeninseln zu bringen.«

»Eben jener, von dem ich spreche. Von ihm geht die Gefahr aus.«

»Ihr habt uns immer noch nicht gesagt, wer oder was das sein soll«, drängte Gelmard.

»Ein Drache«, antwortete der alte Magier. »Sein Name ist Crusalioth«.

»Warum sollte ein einzelner Drache so eine Bedrohung sein?«, erwiderte Munuel. »Es gab schon immer Drachen, die nicht besonders freundlich waren, die meisten aber sind friedlich. Ich nehme an, es ist ein Malachista?«

»Das ist kein Malachista«, erklärte Lohtsé. »Ich denke eher, es handelt sich um eine bislang unbekannte Art. Dieser Drache frisst drei Malachista zum Frühstück und lässt nicht einmal Knochen übrig. Nein, das ist nicht das Bedrohliche an ihm. Dieser Drache beherrscht eine sehr dunkle Magie.«

»Magie?« Gelmard zog die Brauen hoch. »Gut, es gibt Drachenmagie. Sogar sehr mächtige. Aber sie wurde nie angewendet, um Dinge zu ändern, im Gegenteil. Was ist so besonders an der Magie dieses Crusalioth?«

»Dazu muss man tiefer in die Geschichte der Wolkeninseln eintauchen, die kaum jemand kennt«, erläuterte Lohtsé. »Und auch wir nennen sie nur so, eben weil sie hinter dichten Wolkenbänken liegen, und so weit weg sind, dass wir eigentlich nur durch Mythen und Legenden darüber wissen. Warum der Cambrische Orden beschlossen hat, ausgerechnet an diesem abgelegenen Ort eine Akademie zu errichten, ist mir ein Rätsel.«

»Das hatte einen ganz eindeutigen Grund, den ich Euch gerne erläutere, da ich an dieser Entscheidung beteiligt war«, erklärte Gelmard. »Man wollte sie so weit wie möglich von irgendwelchen Einflüssen haben, insbesondere entfernt von Hegmafor, als es noch seinen düsteren Nimbus hatte. Die Novizen sollten unbeeinflusst von den unterschiedlichen Philosophien der Magiergilden lernen können. Vor allem sollte sie jeglicher Tagespolitik entrückt sein. Deshalb wählten wir Hammerskôld, weil das eine unbewohnte Insel der Gruppe ist. Und auch die restlichen Inseln sind nicht so sehr Mythos, wie Ihr vielleicht glaubt. Wir wissen um die Eingeborenen, die dort leben, pflegen jedoch eine strikte Doktrin der Nichteinmischung.«

Lohtsé nickte, widersprach aber dann.

»Die wahren Gründe dürftet selbst Ihr nicht kennen, werter Gelmard. Denn die Zusammenhänge offenbaren sich erst, wenn man das Gesamtbild sieht, so wie ich. Ich befürchte, das alles folgt einem ausgeklügelten dunklen Plan. Warum verfrachtet man die hoffnungsvollsten Talente der Magiergilde an diesen abgelegenen Ort? Damit sie dem Einfluss der Tagespolitik entzogen sind? Ja, das sind sie, aber vor allem befinden sie sich nun im Einflussbereich einer ganz anderen Macht. Der des Drachen.«

»Ihr meint«, warf da Munuel ein, »der Drache hat das selbst bewirkt? Wie sollte er das tun? Es ist ein Drache, kein Spross einer einflussreichen Herrscherfamilie – wie soll er es bewerkstelligen, Interessensvertreter nach Savalgor zu schleusen?«

»Ich sagte ja: Dunkle Magie. Aber hört weiter. Die Wolkeninseln werden natürlich nur von uns so genannt. Ihr Name ist in Wahrheit ’Mundus Ranásara’ oder auch einfach nur Ranasuristan. Das bedeutet ’Welt der Kriegerinnen’, denn ihre Bewohner nennen sich Ranásura, was ebenfalls Kriegerinnen bedeutet. Dabei handelt es sich um eine matriarchalische Gesellschaft, die sehr friedlich und ohne Konflikte zusammenlebte. Auch ihr Ursprung liegt im Dunkel der Zeitalter. Es gibt Legenden, dass sie eins von Og gekommen sind.«

»Og? Dieser Kontinent ist unbewohnt!«, rief Munuel.

»Das ist ein Irrtum. Ich denke, Gelmard weiß das.«

»Nun ja, es gibt eine winzig keine Ansiedlung«, widersprach Gelmard.

»Ich rede nicht von Menschen.«

»Wie auch immer«, unterbrach Munuel. »Warum nennen sie sich Kriegerinnen? Das klingt nicht sehr friedlich.«

»Weil sie den Drachen in Schach hielten. Darin bestand über die Jahrtausende ihr Krieg. Nicht untereinander. Nur leider sind sie heute im Begriff, diesen Krieg zu verlieren. Denn der Drache hat sich verändert. Seit einigen Jahren ist ihre Gesellschaft gespalten, in die ursprünglichen Ranásura und die Andura Rana, die Dunklen, wie sie genannt werden. Die Andura Rana dienen dem Drachen und haben die Hauptinsel Yolanda erobert; die Ranásura mussten sich auf die zweitgrößte Insel Aplístos zurückziehen. Und wäre ihre Anführerin, die Sharaka Aeryn nicht so eine geschickte Strategin und charismatische Führungspersönlichkeit, wären sie heute wohl über sämtliche Inseln verteilt und leichte Beute für die Andura Rana. Und was mit eurer Akademie geschehen ist, darüber mag ich gar nicht nachdenken. Ich fürchte, sie wurden alle versklavt.«

»Versklavt?«, fragte Gelmard erschrocken. »Das ist ja furchtbar! Ein Grund mehr, sofort dorthin aufzubrechen. Munuel, willst du es dir nicht doch noch mal überlegen?«

»Was gehen mich irgendwelche Kriegerinnen auf einer weit entfernten Insel an?«, widersprach Munuel mürrisch. »Und die Akademie ist ein Problem des Cambrischen Ordens. Rüstet eine Flotte aus und segelt dorthin. Was sollen denn zwei Magier und eine völlig untalentierte Novizin dort ausrichten?«

»Und was soll eine Armee dort ausrichten?«, war Lothsés Gegenfrage. »Glaubt ihr wirklich, eine Armee aus Savalgor könnte mehr erreichen als die viel besser ausgebildeten und kriegsbegabten Ranásura? Ich habe diese Frauen kämpfen sehen, sie agieren wie ein einzelner Mann, in einer unfassbar beweglichen und veränderlichen Formation. Man könnte es mehr eine Choreografie nennen als einfach nur einen Kampf. Ihre Verbände reagieren blitzschnell, ändern die Taktiken jeweils an die Situation angepasst. Es sind die besten Krieger der Welt. Hundert von ihnen würden ausreichen, um Akrania zu erobern.«

»Übertreibt Ihr da nicht ein wenig?«, murrte Munuel.

»Ich übertreibe keineswegs. Ich will Euch nur deutlich machen, mit wem wir es zu tun haben. Eine normale Armee wäre dort auf verlorenem Posten. Sie kennen das Gelände nicht, sie kennen ihren Feind nicht. Die Ranásura aber schon. Sie leben seit Jahrhunderten dort, sie setzen ihr eigenes Gelände als Waffe ein. Eine herkömmliche Armee wäre von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Und das kläglich.«

»Und wenn man zwei Dutzend gut ausgebildete Magier dabeihätte? Oder mehr?«, sinnierte Gelmard.

»Die alle keine Ahnung mehr haben, wie man Dämonen bekämpft. Oder einen Urdrachen.«

»Ein Urdrache?«, fragte Munuel verwundert. »Was meint Ihr damit?«

Lohtsé schloss für einen kurzen Moment die Augen. Munuel spürte, dass die Diskussion den alten Magier sehr mitnahm. Er begann, sich Sorgen zu machen.

»Ich sagte schon, dass ich nicht glaube, dass es sich um einen Malachista handelt«, fuhr Lohtsé fort. »Ein Malachista mag groß und mächtig sein, aber so gefährlich nun auch wieder nicht. Ein einzelner könnte es niemals mit dieser kampferprobten Armee aufnehmen. Mal ganz davon abgesehen, dass Malachista nur über rudimentäre Intelligenz verfügen und wohl kaum in der Lage wären, einen großangelegten Plan zu schmieden. Aber es gibt Hinweise aus dem berühmten Drachenalmanach von Galimius Askroth, in dem er von einer Art ’Urrasse’ der Drachen sprach, den sogenannten Urdrachen. Sie existierten bereits lange, bevor die ersten Menschen in der Höhlenwelt auftauchten. Und in gewisser Weise sollen sie zur Entstehung unserer unterirdischen Welt beigetragen haben, sie sind sozusagen die Schöpfer. Ihre Magie ist machtvoller als alles, was Menschen je bewirken können.«

»Das sind aber nur Mythen«, widersprach Gelmard. »Selbst Galimius hat das eingeräumt. Er hat nie einen Urdrachen zu Gesicht bekommen.«

»Weil er nie auf den Wolkeninseln war.«

»Zugegeben«, sagte Munuel, den Faden aufnehmend. »Aber selbst, wenn es sich um einen dieser ominösen Urdrachen handelt, warum sollte er erst Jahrtausende friedlich bleiben, um sich dann plötzlich in ein Monster zu verwandeln?«

»Friedlich war er noch nie, aber er hatte keinerlei Gelüste, sich die Welt zu unterwerfen. Aber genau das will er jetzt.«

»Und eine verhältnismäßig kleine Armee von Ranásura hat ihn alleine in Schach gehalten?«

Lohtsé strich sich fahrig mit der Hand über die Stirn. Seine Kraft ließ zusehends nach, und Munuel war nun bestrebt, das Gespräch so bald wie möglich zu beenden. Doch Lohtsé kam ihm zuvor.

»Diese Frage beantworte ich nur Munuel«, erklärte er mit fester Stimme. »Gelmard, ich muss Euch leider bitten, jetzt zu gehen. Wir können später noch einmal reden. Aber meine Zeit wird knapp, und was ich nun zu sagen habe, ist nur für die Ohren Eures Neffen bestimmt.«

Gelmard war von dieser Aufforderung sichtlich unbegeistert.

»Wenn es denn sein muss«, sagte er verdrießlich. »Aber kann ich sicher sein, dass Ihr meinem Neffen keinen Unsinn erzählt?«

Diese Worte hatte er offensichtlich mit Bedacht gewählt und Munuel wurde gewahr, dass er Lohtsé auf eine eigenartige Weise ansah. Als würde er ihm zuzwinkern, allerdings ohne jeden Schalk in den Augen. Er blickte todernst drein. Was war da zwischen ihm und dem alten Magier?

»Ich halte meine Versprechen«, sagte Lohtsé mit trauriger Stimme.

Gelmard nickte. »Gut, dann lasse ich Euch jetzt allein. Wir reden später, Munuel.«

Dieser neigte seinen Kopf zur Bestätigung. Gelmard erhob sich und ging davon. Lohtsé sah ihm nach, bis er im Ulmenhain verschwunden war. Dann sagte er zu Munuel: »Verzeiht diese Heimlichkeit, aber es gibt Dinge, die dürfen nicht in die Welt. Gelmard mag verlässlich sein, aber er ist nicht der Auserwählte. Das seid Ihr«.

»Auserwählt? Wozu?«

»Den Drachen zu vernichten.«

Munuel stieß einen Stoßseuzfer aus. Das wurde ja immer bunter.

»Ich bin kein Drachentöter!«, widersprach er.

»Hört zu!«

Lohtsé beugte sich nah an Munuel heran und sprach leise und eindringlich.

»Ja, ihr habt Recht, eine kleine Armee von Ranásura hält den Drachen nicht in Schach. Sondern das hier.«

Lohtsé hielt das Buch hoch, in welchem er gelesen hatte.

»Dieses Buch, die Ranásura und ein Magier mit dem Yalmuth. Meinem Yahlmuth. Das ist die Trias der Bewahrer.«

»Der Yalmuth? Das ist eines der drei stygischen Artefakte! Ihr habt ihn?«

Lohtsé schüttelte betrübt den Kopf. »Nicht mehr. Er wurde durch List gestohlen und dem Drachen übergeben – obwohl dieser ihn gar nicht nutzen kann. In unserem letzten Kampf wendete der Drache eine unfassbar starke Magie an, die mich bis auf die Knochen verbrannte, und bis hierher schleuderte. Tief nach Akrania hinein. Ich kann es mir bis heute nicht erklären, aber er hat es einfach getan. Mir bleibt wirklich nicht mehr viel Zeit, und ich muss euch noch so einiges lehren. Macht Euch bereit, der neue Drachenlord zu werden.«

Der alte Magier stützte sich auf den rechten Ellenbogen und hielt plötzlich noch ein zweites Buch in den Händen. Es war dicker als das Erste und statt in Leder nur in starke Pappe eingebunden.

»Dies hier ist das Kompendium. Es erklärt, wie die Magie des Büchleins anzuwenden ist. Es ist unersetzlich, denn ohne dieses Kompendium, werdet ihr diese uralte Magie niemals verstehen. Ich schenke euch beide.«

Munuel sah ihn lange und nachdenklich an. Schließlich sagte er:

»Ich gebe jetzt keine Versprechen, noch kann ich garantieren, dass ich überhaupt in der Lage sein werde, die Dinge zu tun, die Ihr von mir verlangt. Aber ich bin bereit, darüber nachzudenken.«

Lohtsé nickte. »Ich werde Euch keine lange Geschichte erzählen, sondern das, was Ihr wissen müsst. Meine vollständige Geschichte befindet sich in einem Journal, welches ich auf den Wolkeninseln gelassen habe. In der Satteltasche meines Flugdrachen.«

»Eures … was? Flugdrachen?«

Lohtsé nickte lächelnd. Munuel konnte ihm ansehen, dass er diese kleine Überraschung genoss.

»Er heißt Simáo. Nur ich durfte ihn reiten. Ich muss mich jetzt ausruhen – kommt morgen früh wieder, dann erfahrt Ihr mehr.«

»Gut.«

Lohtsé sah den jungen Magier kritisch an. »Ihr versteht noch nicht viel von Ränken und Intrigen, nicht wahr? Dazu seid ihr wahrscheinlich zu jung. Ich werde euch all diese Dinge lehren, wenn ihr Euch mir anvertraut. Es steht außer Frage, dass Crusalioth mit seinen Untergebenen kommuniziert, Befehle erteilt, Strategien entwickelt. Anders wären die gezielten Angriffe nicht möglich. Und da er dies tut, wird er längst Spione und Agenten in Akrania platziert haben – wahrscheinlich auch in Hegmafor. Ich habe euch erzählt, dass sich die Stimmung dort änderte – der unheilvolle Einfluss eines Eroberers. Und der lange Arm des Drachen erstreckt sich bis nach Savalgor, dessen könnt Ihr sicher sein. Daher auch meine Befürchtung, er könnte der Tochter des Shabibs habhaft werden.«

»Sie wird niemals die Wolkeninseln betreten«, erklärte Munuel. »Ich versuche Gelmard davon zu überzeugen, mit ihr nach Savalgor zurückzukehren. Ich kann allerdings nicht versprechen, dass er auf mich hören wird.«

»Und ihr geht zu den Wolkeninseln und rettet mein Volk?«

»Euer Volk?«

Der Lohtsé schaute betrübt zu Boden. »Es ist zu meinem Volk geworden. Wenn ich zurückblicke, waren die letzten sieben Jahre die glücklichsten meines Lebens. Ihr jetziges Oberhaupt Aeryn heranwachsen zu sehen, war … nun, kein Vater könnte stolzer sein, und mehr von Liebe erfüllt. Sie änderte mein ganzes Wesen, sie machte einen besseren Menschen aus mir. Und ich wünschte mir so sehr, dass …«, er machte eine wegwischende Handbewegung, so als wolle er eine Wolke vertreiben. »Ach, das ist nur törichtes Gerede eines alten Mannes.«

Munuel blickte den Lohtsé forschend an. »Ich weiß immer noch nicht, warum ihr ausgerechnet zu mir kommt?«

Lohtsé seufzte. »Leider ist das die einzige Frage, die ich Euch nie persönlich beantworten werde.«

ooOoo

Am Abend saß er mit Islin zusammen bei einem Glas Wein. Genauer gesagt: Zuerst saßen sie am Tisch, dann lagen sie im Bett. Dann saßen sie wieder, diesmal aneinander gelehnt in einem Berg von Kissen und vernichteten den Rest von Munuels Rotem aus dem Rebenland. Munuel mochte die Idee, einen Wein aus Hegmafor zu trinken, denn die Abtei war nicht nur für ihre Magie bekannt, sondern vor allem auch für ihren Rebensaft. Um Hegmafor herum grenzte ein namhaftes Weingut an das andere.

Nach einer Weile fragte Islin:

»Jetzt erzähl doch mal. Wie ist die Prinzessin so?«

Munuel lachte kurz auf. »Na das musste ja irgendwann kommen! Die holde Weiblichkeit im Dorf hat dich doch sicher verpflichtet, ja nicht ohne Informationen aus erster Hand wiederzukommen, habe ich recht?«

Islin tat zunächst empört. »Wie kommst du denn darauf? Ich würde nie …«, nur um dann leicht beschämt den Kopf zu senken. »Ja.«

Munuel strich ihr über die Wange. »Ich kann das ja verstehen. Wann hat man schon ein Mitglied der Herrscherfamilie im eigenen Dorf. Da läuft die Gerüchteküche natürlich heiß. Also, was willst du wissen?«

»Hab ich doch eben gefragt. Wie ist sie so?«, sie kuschelte sich enger an ihn. »Sie ist doch ein sehr liebliches Geschöpf. Und unfassbar hübsch. Ich könnte morden, für diese Figur. So jemand ist doch bestimmt sehr … kapriziös.«

»Ja das ist sie auch. Aber ich werde mich hüten, mehr zu verraten, denn ich muss ja jetzt davon ausgehen, dass alles, was ich dir hier erzähle, brühwarm weitergetragen wird.«

»Quatsch. Ich gebe nur weiter, was unverfänglich ist. Vertrauliche Dinge behalte ich für mich, das ist doch Ehrensache. Ich bin keine Klatschbase. Oder denkst du das etwa?«

»Nein, auf keinen Fall!«, beeilte sich Munuel, zu sagen.

»Dann sprich weiter, da ist doch noch mehr.«

»Hm.« Munuel dachte nach. Wie weit konnte er sich ihr anvertrauen? Er musste mit jemanden darüber reden, und er schätzte ja auch ihren praktischen Verstand.

»Sie ist verwöhnt. Sie ist es gewohnt, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen.«

»Wirklich? Auch ihr Vater? Auch dein Onkel?«

»Nein, die nicht. Sie ist ja noch nicht die Herrscherin von Akrania.«

»Dann ist das ganz normal. Jeder kommandiert die, die unter ihm stehen. Ich zum Beispiel meine Mullohs … und dich!«

Sie lachte. Er lachte halbherzig mit. »Haha. Aber weder bist du eine Prinzessin, noch bin ich ein Prinz. Sie ist zweifellos gebildet, sie hat gute Schulen besucht. Das merkt man. Aber sie ist auch sehr versponnen – sie spricht mit ihrem Pferd in einer eigenen Sprache.«

»Wie süß von ihr!«

Islin klang entzückt. »Und weiter? Irgendwie klingt das, als gäbe es da ein Problem.«

Munuel druckste ein wenig herum, bis er dann sagte: »Mein Oheim verlangt von mir, mit zu diesen Wolkeninseln zu gehen. Und solange sich die Prinzessin anpasst, habe ich damit auch gar kein Problem, ich fürchte nur, sie kann das nicht. Was ist, wenn sie Mist baut?«

»Was lässt dich vermuten, dass sie Mist bauen könnte?«

Munuel richtete sich auf und blickte ins Leere. »Sie kokettiert mit der rohen Magie. Das ist gefährlich.«

»Die gleiche rohe Magie, die du morgen früh von dem alten Magier lernen wirst?«

Er sah sie streng an. »Das ist was anderes!«

»Warum?«

»Sei nicht so vorlaut, du Schnapsdrossel. Weil ich die Elementarmagie immerhin beherrsche. Erst kommt die Pflicht, und dann die Kür. Verstehst du?«

»Rohe Magie ist die Kür?«, sagte sie neckisch und strich ihm mit einem Fingernagel über den Rücken.

»Nein, natürlich nicht. Aber ich meine. das Beherrschen von … noch stärkeren Kräften ist … ach du kannst einen durcheinander bringen mit deinen Fragen, weißt du das?«

Sie lächelte und strich ihm über die Brust. »Und ich dachte, ich würde dich mit anderen Dingen durcheinander bringen … na gut … dann eben mit Fragen.«

Sie seufzte und drehte sich auf den Bauch. Dabei ließ sie ihn ihr knackiges Hinterteil sehen. Er klatschte ihr frech auf eine Pobacke und sagte: »Du bringst mich nicht durcheinander, Islin. Du rückst mich zurecht.« Er küsste sie auf die andere Pobacke. Sie kicherte.

»Hast du dich entschieden?«, murmelte sie schläfrig.

»Ich bleibe hier. Die ganze Unternehmung ist ein paar Nummern zu groß für mich.«

»Hat es vielleicht auch was mit mir zu tun?«

»Was? Nein! Du bist ja ein großes Mädchen.«

Sie nickte. »Jetzt mal im Ernst. Du verweigerst deinem Onkel deine Hilfe? Nach allem, was er für dich getan hat? Findest du das nicht ein bisschen schäbig von dir?«

Munuel drehte sich auf den Rücken und seufzte.

»Ja … aaah«, sagte er gedehnt. »Eigentlich kann ich ihm das nicht abschlagen. Aber …«

»Und wenn ich mitkäme?«, unterbrach sie ihn.

Munuel schoss wie elektrisiert in aufrechte Sitzhaltung.

»Was? Du willst mit?«

»Ja«, sagte sie lachend und schwenkte ihr Weinglas. »Ich hätte große Lust auf ein Abenteuer. Und für die Mullohs finde ich schon jemanden.«

»Das kann ich unmöglich zulassen«, protestierte er. »Das ist gefährlich, und wenn dir was passiert, das würde ich mir nie verzeihen.«

»Aber mich monatelang allein lassen, das kannst du?«

»Was soll passieren? Außer, dass du jemand anderen kennenlernst, in dieser unüberschaubaren ’Metropole Angadoor’?«

»Und wenn ich trotzdem jemand anderen kennenlernen würde? Vielleicht aus einem anderen Dorf? Oder einen wandernden Handwerksburschen?«

Munuel überhörte die Warnzeichen in ihrer Stimme, als er sagte:

»Dann wäre das ebenso, daran kann ich kaum etwas ändern, oder?

»Doch. Könntest du«, sagte sie leise.

ooOoo

Munuel stieg zum Flussufer hinab und suchte Lohtsé um seine erste Lektion zu beginnen. Seine Gedanken konzentrierten sich auf das Gespräch mit Islin, und er wusste, dass es töricht gewesen wäre, mit einem so abgelenkten Geist Magie zu wirken. Dennoch konnte er aufhören, an sie zu denken. Es war jetzt klar, was sie wollte. Ganz einfach. Die Nebenflüsse flossen neben ihm durch die Wiese, unaufhörlich, immer auf der Suche nach der Vereinigung mit der Iser, um ihr Schicksal zu erfüllen. Er beneidete sie um diese Einfachheit. Lohtsé würde ihm sicherlich helfen, Klarheit zu gewinnen.

Munuel näherte sich dem Felsen des alten Magiers, der zu seinem behelfsmäßigen Zuhause geworden war, und fand ihn leer vor. Einige Meter unterhalb des sanften Hügels lag Lohtsé mit dem Gesicht nach unten im Sand, still und leise.

"Lohtsé!" rief Munuel, als er an die Seite des Mannes eilte. Er drehte ihn um und sah das schwache Leuchten der Linien, die über seinen Körper zogen. Sein Atem war langsam und schmerzhaft, und seine Augen kämpften darum, offen zu bleiben.

"Junge, du bist gekommen", hustete er, und die Magie flackerte in einem dumpfen Schein auf. "Zu spät, zu spät."

"Warten Sie, ich kann den Medicus holen, sicher hat Limlora einen im Gefolge. Ich bin gleich wieder da", sagte Munuel und wollte aufstehen.

"Nein", antwortete Lohtsé mit einer Kraft, die seiner Erscheinung trotzte. "Keine Zeit", sagte er. Hier, komm her." Munuel beugte sich vor und zog Lohtsé in eine sitzende Position, wobei er seinen Rücken abstützte, aus Angst, er könnte wieder fallen.

"Sag mir, was ich tun soll", flehte Munuel. Lohtsé grinste und zuckte zusammen.

"Die Wolkeninseln", sagte er, hob einen knorrigen Finger und deutete über die Wasser der Iser. Dann deutete er mit dem Finger auf Munuels Brust. "Nimm … Buch", hustete er. "Lerne." Die Magie begann, schneller am Körper entlang zu pulsieren. "Besiege Crus…", hustete er wieder. Er zeigte wieder auf ihn. "Schicksal."

"Lohtsé, du kannst noch nicht gehen. Ich bin noch nicht so weit."

"Es … tut mir leid, mein Junge. Es tut mir leid."

Er hustete tief und die magischen Linien pulsierten mit solcher Geschwindigkeit, dass Munuel es nicht ertragen konnte, sie anzuschauen. Die Intensität nahm zu, und Lohtsé packte Munuels Schulter mit der Kraft einer Drachenkralle.

"Geh", flüsterte er.

Die magischen Linien brachen in einer Quelle aus Licht hervor, sein Griff wurde noch fester. Munuel dachte, der alte Mann könnte seinen Arm zerquetschen. Munuel fühlte ein scharfes Brennen in seinem Arm, schon wollte er sich gewaltsam losreißen, da wichen Licht und Griff zurück, und Lohtsé wurde in Munuels Armen schlaff. Die Linien waren verschwunden, und sein Husten brach ab. Das Wasser leuchtete hell am Ufer der Iser, als der Sonnenaufgang den Hang erklomm. Das Licht floss neben den Männern und wanderte durch den mächtigen Fluss zum Meer, ahnungslos und gefühllos.

Die Zeit verging, und Munuel hielt den Mann weiter fest und blickte auf das Wasser neben ihnen. Die Augen des alten Magiers hatten ihren Glanz verloren und starrten stumpf über den Fluss hinaus, seine Seele ein Nebenfluss der Iser. Lohtsé war tot.

Munuel legte ihn sanft hin, verschränkte ihm die Arme und schloss ihm die Augen. Seltsamerweise fühlte er Trauer. Er trauerte um einen Mann, den er kaum gekannt hatte. Er fühlte in sich hinein und wusste, dass es kein egoistisches Empfinden einer verlorenen Gelegenheit war, sondern ein echtes Gefühl des Verlusts, das ihn zutiefst verwirrte. Seine Schulter schmerzte und er hörte leise Worte hinter sich.

"So geht der große Lohtsé", sagte Gelmard mit Respekt.

Er näherte sich langsam, kniete nieder und legte eine Hand auf die Arme des Mannes. Munuel hörte Gelmard flüstern und wunderte sich darüber. Der ältere Magier stand auf und wandte sich an Munuel. "Es liegt an Dir, seine Lehren auf eigene Faust zu erforschen. Es ist ein Geschenk, mein Junge."

Munuel fragte sich, ob Gelmard von den Büchern wusste. "Ehre ihn und dich selbst, indem du deine Energie darauf verwendest."

»Das werde ich tun, Onkel«, erwiderte Munuel. »Hilfst du mir bitte?«

Gemeinsam trugen sie den Toten ins Dorf. Schnell bildete sich eine Prozession von Begleitern, die ihnen folgten. Einer brachte von irgendwoher eine Karre, auf den sie den Leichnam betten konnten. Damit zogen sie weiter zum Leichenplatz des Dorfes. Hier bahrte Munuel ihn auf eine Feuerstelle, die nun mit Holzscheiten aufgefüllt wurden. Die Dorfpriesterin erschien in Begleitung der Bürgermeisterfamilie. Als Munuel dann Islins Hand in seiner fühlte, sah er sie dankbar an. Sie lächelte. Dann wandte er sich an die Dorfgemeinde.

»Ich danke euch«, begann er, »dass ihr gekommen seid, um einem völlig Fremden das letzte Geleit zu geben. Ihr fragt euch alle bestimmt schon, wer er war, habe ich recht?«

Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten. Bernuel, der Schmied, war sogar so keck, und rief: »Ja, genau! Wer war der alte Zausel eigentlich?« Dafür erntete er einen missbilligenden Blick von seiner Frau.

Munuel lächelte traurig. »Ich kann eure Neugierde verstehen. Ich sage euch, wer er war: Er war der große Lohtsé von Hegmafor.«

Munuel blickte in unbeeindruckte Gesichter. Er seufzte. Natürlich, von diesen kreuzbraven Dorfgesellen wusste keiner, wer das war. Sie wussten wahrscheinlich nicht mal etwas mit Hegmafor anzufangen.

»Ich weiß«, fuhr er fort. »Das sagt euch wenig. Also formuliere ich es mal anders. Dieser Mann war einer der größten Magier, die jemals über akranischen Boden wandelten. Und glaubt mir, das ist keine Übertreibung.«

»Dann sollten wir ihn sehr gründlich verbrennen!«, rief irgendwer aus den hinteren Reihen. »Damit uns sein Geist nicht heimsuchen kann!«

Die Menge murmelte zustimmend.

»Geister zu bannen, ist Aufgabe der Priesterin«, erwiderte Munuel ungerührt. »Soll sie jetzt ihre rituelle Ansprache halten.« Amerilde, die Dorfpriesterin trat vor und hob die Arme.

»Bei den Kräften … », begann sie. In diesem Moment intonierte Munuel einen Feuerzauber, der den Holzstapel in Brand setzte. Und weil es ein magisches Feuer war, schossen die Flammen meterhoch empor. Die Anwesenden machten einen respektvollen Schritt rückwärts. Die Worte der Priesterin gingen im Knistern der Holzscheite unter.

Munuel wartete, bis das Feuer gänzlich heruntergebrannt war. Und weil das nicht reichte, um die Leiche vollständig zu verbrennen, entfachte er noch ein zweites und ein drittes Feuer. Die Menge hatte sich längst zerstreut, nur noch Islin verharrte mit ihm auf dem Platz. Ein seltsamer Nebel hatte sich um den Totenplatz gebildet, der ölig über den Boden kroch. Munuel blickte kurz in die Baumkronen und sprach: »Ruhe in Frieden«.

»Ruhe in Frieden«, murmelte Islin.

Dann lenkten sie ihre Schritte zurück ins Dorf. Als sie am unteren Ende des Pfades angekommen waren, verabschiedete sich Islin von Munuel – sie müsse nach den Tieren sehen. Als Munuel dann wieder in seinem kleinen Häuschen war, konnte er sich endlich seiner schmerzenden Schulter zuwenden. Als er das Hemd auszog hätte er eine Druckstelle erwartet, dort, wo des Magiers knorrige Hand ihn gepackt hatte. Stattdessen erblickte er dort ein Mal – fast so tief wie eine Tätowierung. Er glaubte, drei Finger zu erkennen, aber es ähnelte mehr einer Art Rune, ein Zeichen stygischer Magiekunst, dessen Bedeutung ihm fremd war. Er würde Gelmard danach fragen müssen. Er tastete das Mal ab – es schmerzte nicht mehr.

Plötzlich überkam ihn Müdigkeit. Kein Wunder nach all diesen Ereignissen. Er warf sich so, wie er war, aufs Bett und schlief augenblicklich ein. Bis ihn Lärm von draußen wieder weckte. Seufzend stand er auf, kleidete sich vollständig an und verließ das Haus, um nachzusehen.

ooOoo

Gaukler und Musikanten besuchten das Dorf. Dies passierte ein bis zweimal im Jahr und wurde natürlich auch gebührend gefeiert. Was Munuel wunderte, war die Tatsache, dass vor einem Monat erst Gaukler dagewesen waren. Mit dem nächsten Besuch hätte er frühestens in einem halben Jahr gerechnet.

Munuel zählte vier Planwagen, flankiert von mindestens fünfzehn Männern und Frauen, die um den vordersten Wagen zu den Klängen eines Dudelsacks, einer Mandoline und eines Tamburins herumtanzten, Räder schlugen und Faxen machten. Es klang schauerlich. Die Tambourinspielerin hatte offenbar überhaupt kein Taktgefühl, der Dudelsack schmerzte in den Ohren und die Mandoline schrie nach einer Stimmung.

Am Platz vor dem Gasthaus hielten sie an und einer von ihnen trat hervor, um eine kleine Ansprache zu halten.

»Liebe Leut’ von Angadoor,

Wir sind hier um Euch zu erfreu’n.

Drum zieht für uns eure Folint hervor,

Ihr werdet’s nicht bereu’n …«

Wobei sein Akzent äußerst fremdartig war. Munuel konnte ihn nicht einordnen – die Gaukler oder zumindest dieser hier – mussten aus einer sehr weit entfernten Gegend kommen. Munuel vermutete Westwacht, oder gar aus dem Grenzgebiet vor dem Ramakorum.

Einsteilen reimte der Kerl weiter, ein Knittelvers jagte den nächsten und alle waren sie bemüht und holprig. Während der Chefgaukler seine hanebüchene Rede hielt, drängelte sich Munuel durch die Menge zu Gelmard, der zusammen mit Limlora und ihren beiden Leibwächtern auf den Stufen zum Gasthaus stand und auf das Treiben hinunterblickte.

»Was hältst du davon?«, fragte Munuel seinen Onkel. Dieser nahm den Blick nicht von den Gauklern, während er antwortete.

»Schon ein komischer Zufall«, antwortete Gelmard nachdenklich. »Da stirbt ein alter mächtiger Magier und nur eine Stunde später taucht fahrendes Volk auf.«

»Ja, seltsam, nicht wahr?«

»Auf jeden Fall sind das die schlechtesten Gaukler, die ich je gesehen habe«, mischte sich da Limlora in das Gespräch.

Munuel sah sie an. »Ich nehme an, Ihr habt schon viele Gaukler gesehen, Hoheit?«

»Natürlich!«, erwiderte Limlora selbstbewusst. »Im Palast kommen alle Nase lang welche vorbei. Ich habe Hunderte gesehen, mindestens, aber diese Darbietungen sind mehr als nur kümmerlich. Wir würden sie in Savalgor vom Hof jagen.« Sie rümpfte die Nase dabei.

»Interessant, interessant …« murmelte Munuel abwesend. »Onkel! Ich habe kein gutes Gefühl bei denen. Ich werde sie im Auge behalten.«

»Mach das nur«, sagte Gelmard und nahm den Blick nicht von den Gauklern. »Sag mal, hat deine Weigerung, mitzukommen, vielleicht auch ein wenig mit der hübschen Stallmeisterin zu tun?«

Munuel schüttelte verblüfft den Kopf.

»Nein. Wie kommst du darauf?«

Sein Onkel sah ihn ernst an.

»Nun, ganz offensichtlich teilt sie dein Bett. Du hast hoffentlich vor, sie zur ehrbaren Frau zu machen?«

Munuel runzelte die Stirn.

»Nein, ha … hatte ich eigentlich nicht«, stotterte Munuel. »Wir sind nur Freunde. Mit … nun ja … wir sind ja noch jung.«

»Munuel, mein lieber Neffe, das ist kein schöner Zug«, tadelte ihn der Erzmagier. »Mache sie zu deiner Frau und dann könnte sie doch ohne Weiteres mitkommen.«

Munuel blieb stumm.

»Ja, ich verstehe schon«, fuhr sein Oheim unbarmherzig fort. »Du warst zwar nie auf einer der magischen Universitäten, aber du benimmst dich wie ein leichtherziger Student. Sei wenigstens ehrlich zu ihr. Es ist Mittagszeit, ich werde mir jetzt einen Imbiss gönnen. Heute Abend hätte ich dann gern deine endgültige Antwort, Munuel.«

»Ich komme mit«, sagte Munuel und ließ seinen Onkel mit offenem Mund stehen. Er wühlte sich erneut durch die Menge, bis er den Bürgermeister erreicht hatte.

»Sind das die Gleichen, die beim letzten Mal schon da waren?«, fragte er Moribund direkt ins Ohr. Dieser wandte den Kopf, wobei er sich nach hinten lehnen musste, und antwortete: »Ich glaube nicht. Die hier kommen angeblich aus Tulanbaar.«

»Glaube ich nicht«, widersprach Munuel. »Ich kenne den tulanbaarischen Dialekt, dieser hier ist vollkommen anders. Die klingen, als könnten sie überhaupt kein sauberes Akranisch.«

»Woher sollten sie dann stammen?«, fragte der Bürgermeister verdutzt. »Etwa aus Veldoor? Oder dem Inselreich von Chjant?«

»Nein, eher aus dem hohen Norden. Nördlich des Ramakorum.«

Der Bürgermeister sah den Magier skeptisch an. »So ein Unsinn. Da lebt doch niemand. Aber egal, wo sie herkommen mögen, mir passt es nicht, dass die Menschen im Dorf schon wieder von der Arbeit abgehalten werden. Erst der hohe Besuch, dann eine Beerdigung, das Dorf kommt ja gar nicht mehr zur Ruhe.«

»Das sehe ich ganz genauso wie Ihr, werter Bürgermeister«, pflichtete Munuel ihm bei. »Aber wenn wir sie einfach wegschicken, sind die Leute auch verstimmt. Hm.«

»Jaa. Knifflig.« Der Bürgermeister kratzte sich am Kopf. »Ich weise ihnen erstmal Quartier am Siebenplatz zu. Und eine Aufführung für heute Abend wird erlaubt. Aber erstmal nicht mehr.«

»Das ist eine gute Idee. Soll ich der Truppe einstweilen etwas auf den Zahn fühlen?«

»Das würdet ihr tun, Dorfmagier? Wäre mir recht. Ich wollte schon einen meiner Söhne damit beauftragen, aber Ihr seid geeigneter dafür.«

»Dann verlasst Euch auf mich.« Munuel nickte dem Bürgermeister zu. Dieser winkte einen der Gaukler heran. Munuel überzeugte sich davon, dass der Bürgermeister ihm und seinen Kumpanen den Siebenplatz zuwies und ihnen untersagte, bis zum Abend irgendetwas zu unternehmen. Das wurde ohne Murren zur Kenntnis genommen, ein Umstand, der Munuels Misstrauen erhöhte. Er hätte jetzt erwartet, dass die fahrenden ›Künstler‹ mehr Widerstand zeigen würden. Doch diesen schien das mehr oder minder egal zu sein.

Als Munuel zu seinem Haus zurückging, bemerkte er einen der Gaukler, als dieser sich in seiner Gasse herumdrückte. Er ging auf ihn zu und sprach ihn an.

»Hallo, Ihr da. Der Bürgermeister hat angeordnet, dass ihr bis zum Abend auf dem Siebenplatz bleibt. Soll ich euch den Weg weisen?«

Der Mann schlug seine bunte Harlekinkapuze zurück und blickte ihn an. Munuel erkannte mit Erstaunen, dass es sich nicht um einen Mann, sondern um eine Frau handelte. Doch sie war stämmig gebaut, sehr muskulös. Zudem überragte sie ihn fast um Haupteslänge. Die Kleidung saß schlecht an ihr, so als sei sie für einen Mann noch größerer Statur geschneidert worden. Sie war brünett, mit dunklen Augen. Ein schön geschnittenes, aber düsteres Gesicht mit vielen Narben, als hätte sie viele Kämpfe hinter sich. Munuel bemerkte ein kleines Muttermal an ihrem Kinn.

»Sie wollte nicht unhöflich sein. Sie sofort zu Siebenplatz. Sagt – wohnt hier nicht der Dorfmagier?«

Sie sprach ebenfalls mit diesem eigenartigen Akzent. Außerdem redete sie von sich in der dritten Person.

»Was wollt ihr vom Dorfmagier?«

»Ach, nichts. Wollten ihm reden.«

»Soso«. Munuel sah skeptisch drein. Und hatte eine Eingebung. Er sagte: »Den Dorfmagier findet ihr derzeit im Gasthaus zur Ulme. Ihr könnt ihn nicht verfehlen, ein großer schwarzer Veldoorianer mit schneeweißem Bart.«

Die Frau nickte. »Tuenka, ähm Vielen Dank.« Sie ging davon.

Tuenka? Das Wort hatte er noch nie gehört. Aber was wusste er schon über die Sprachen in Akrania?

Munuel sah ihr noch nachdenklich hinterher, bis sie in der nächsten Gasse verschwand. Ihre seltsame Ausdrucksweise und fremdländischer Akzent alarmierten ihn, doch er hasste Vorverurteilungen. Trotzdem: Vorsicht war besser als Nachsicht … Munuel dachte einen Moment nach, dann entschloss er sich dazu, nicht in sein eigenes Haus zu gehen. Stattdessen lenkte er seine Schritte aus dem Dorf hinaus, in Richtung Islins Mullohhof.

ooOoo

Das Vermächtnis des Drachenlords

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