Читать книгу Das Vermächtnis des Drachenlords - Rael Wissdorf - Страница 9
4 Kampf um Angadoor
ОглавлениеMunuel hatte selbst kein Pferd, aber er vermutete, dass sein Oheim die Pferde seiner Entourage bei Islin untergebracht hatte. Sie machte weitaus bessere Preise als der Tavernenwirt, der sich nur um Limloras Marco kümmern durfte. Es war nicht weit, und er traf sie wie erwartet im Haus an.
»Islin, sag, hat mein Oheim seine Pferde hier bei dir untergestellt?«
Islin nickte.
»Ja, hat er, sie stehen draußen auf der Koppel. Warum fragst du?«
»Ich hätte Lust auf einen kleinen Ritt. Soweit ich weiß, hat er ja ein paar zusätzliche Pferde dabei.«
Islin wischte sich mit einem Arm über die Stirn.
»Was? Jetzt? Du hast doch was vor.«
»Ich will mich nur ein wenig umsehen.«
»Kann ich mitkommen?«
»Uh … ich werde ziemlich schnell reiten und ich weiß auch nicht, wann ich zurückkomme.«
Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, beeilte er sich, hinzuzufügen: »Aber vier Augen sehen mehr als zwei, also komm ruhig mit!«
Nun strahlte sie wieder. »Ich sattle mein Pferd«, rief Islin und lief davon.
Munuel nickte. »Und pack vielleicht auch ein paar Stullen ein!«, rief er ihr hinterher.
Kurze Zeit später saß er auf einem kräftigen Braunen, während Islin sich einen feurigen Rappen ausgesucht hatte. Im gemächlichen Schritt zockelten sie über den Feldweg, der um das Dorf herumführte.
»Du hast doch was Bestimmtes vor, hab ich recht?«, fragte Islin, nachdem sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. Munuel blickte unablässig auf den Boden, als suchte er etwas.
»Die Gaukler gefallen mir nicht. Irgendwas ist faul an denen. Hast du bemerkt, dass sie viel zu kräftig wirken für Schausteller?«
»Nun, es sind auch immer Akrobaten dabei, und die sind natürlich durchtrainiert. Aber sie sind unglaublich schlecht. Hast du gesehen, wie der Kerl, der dauernd das Rad geschlagen hat, dabei fast immer auf die Nase gefallen ist?«
»Ja, das ist mir aufgefallen. Ich hielt es zuerst für eine Clownsdarbietung, aber das ist es nicht.«
»Und warum reiten wir dann weg, aus dem Dorf raus?«
Munuel hob seinen Kopf und sah sie an. »Ich will eine Weile in ihren Spuren zurückreiten. Ich möchte wissen, wo sie hergekommen sind.«
»Hm, ich denke, sie kommen von Mornweiler. Das sind drei Tagesritte von hier. Mit den Planwagen haben sie sicher länger gebraucht. Willst du so weit reiten?«
»Nein, wir werden rechtzeitig zum Abend zurück sein. Hast du genug zum Futtern eingepackt?«, fragte er grinsend.
Islin lachte und klopfte auf ihre rechte Satteltasche. »Genug«, sagte sie. »Du Vielfraß. Bald brauchst du ein neues Wams.«
Munuel verzog das Gesicht und Islin lachte erneut. Er mochte es, sie lachen zu sehen. Er musste an Gelmards Worte denken und verfiel eine Weile in grübelndes Schweigen.
Das große Angadoorer Sonnenfenster schickte wärmende Strahlen auf die beiden Ausflügler. Die Stützpfeiler standen nun sehr dicht, wie überall im Hochland, doch ihre Schatten waren noch kurz. Wenn Munuel nach Westen schaute, konnte er die Lemsoorer Halt erblicken. Eine Felsbarriere, die undurchdringlich war und deren genaue Ausmaße nie vermessen worden waren. Sie zog sich an die vierzig Meilen bis zum Nasmar-See. Bis dorthin würden sie reiten und anschließend umkehren.
Bisher waren es normale Spuren, die die Gaukler hinterlassen hatten. Ihre Mullohs waren tief im weichen Boden eingesunken, und es gab kein Anzeichen dafür, dass jemand mit Magie nachgeholfen hatte, den Lehm härter zu machen, um den Mullohs das Vorankommen zu erleichtern. Auch die Wagenspuren waren gleichmäßig und kein Anzeichen ließ auf eine längere Rast schließen.
So verging der Mittag, und auch der frühe Nachmittag, bis Munuel der Ansicht war, dass er Hunger hatte. Zu ihrem großen Glück bemerkten sie nicht weit vom Weg einen stattlichen Baumpilz, unter dessen ausladendem Dach ein kleines Lager möglich war. Sie stiegen ab und hobbelten die Pferde an.
Islin holte die Wegzehrung aus ihrer Satteltasche, während Munuel eine Decke aus seiner zog. Dabei schepperte es leise. Ein Schwertgriff kam zum Vorschein.
»Du hast ein Schwert dabei?«, fragte Islin verwundert. »Wozu?«
»Man kann nie vorsichtig genug sein.«
»Kannst du damit umgehen?«
»Leidlich. Bernuel hat mich ein wenig trainiert.«
Islin schüttelte den Kopf und breitete die mitgebrachten Köstlichkeiten auf Munuels Decke aus. Eine Weile schmausten sie und tranken dazu gutes Angadoorer Bier. Da sagte Islin plötzlich: »Sag mal, sind diese magischen Fähigkeiten, die du hast, eigentlich erblich?«
Munuel stutzte. Das war ein alarmierender Gedanke, den Islin da äußerte. Bisher hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, ob seine Liebschaft mit Islin irgendwelche Konsequenzen haben könnte. Doch nun wurde es ihm bewusst. Mit einer leichten Schamröte im Gesicht dachte er daran, dass er in der letzten Nacht eifrig bemüht war, einen kleinen Angadoorianer hervorzubringen. Oder eine kleine Angadoorianerin. Und einmal mehr kamen ihm Gelmards Ermahnungen in den Sinn.
»Jaaa«, antwortete er gedehnt. »Dafür gibt es zwar keine Garantie, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Abgesehen davon, hat jeder Mensch Zugang zur Magie, die wenigsten aber haben Talent dazu. Warum fragst du?«
»Weil«, antwortete sie unbekümmert. »Es durchaus sein kann, dass deine Bemühungen mal erfolgreich sein werden.«
»Meine … Bemühungen?«, fragte er atemlos.
Islin richtete sich auf und spuckte einen Grashalm aus. »Ich frage mich, was wäre, wenn ich jetzt ein Kind bekäme«.
Doch als sie sein erschrockenes Gesicht sah, lachte sie auf.
»Keine Bange. Ich bin nicht schwanger.«
Seine Erleichterung war allzu deutlich. Ihr Lachen erstarb.
Nach ihrem Picknick stand das Licht aus den Sonnenfenstern bereits tief, und die Stützpfeiler warfen lange Schatten. Während sie ihre Utensilien verstauten, sagte Munuel.
»Bisher war ja nichts Ungewöhnliches zu bemerken, aber ein paar Meilen weiter südlich gibt es einen größeren Rastplatz im Brimsenwald. Dort pausieren Karawanen gerne, bis dahin würde ich gern noch reiten und mich umsehen. Danach reiten wir zurück, ist das in Ordnung?«
»Wie du willst«, antwortete Islin. Sie sah nicht glücklich aus. Munuel plagte das Gewissen. Hatte er allzu beredt auf ihren kleinen »Scherz« reagiert? Dem war wohl so, denn ihre Stimmung war seitdem bedrückt. Munuel nahm sich fest vor, gründlich über seine Verbindung zu ihr nachzudenken. Aber konnten Grübeleien Gefühle ersetzen?
Eine Stunde später kamen gestaffelte Reihen großer Pfeiler in Sicht, die sich zum Felsenhimmel aufschwangen. Nun hörten sie auch das Gurgeln der Iser, die sich einige Meilen weiter südlich in die Morne ergießen würde. Weit oben zogen kleine Gruppen von Flugdrachen ihre Bahnen, die in großer Höhe um die Pfeiler segelten. Der Weg fiel steil ab und führte in einen lichten Wald, stämmiger Hartulmen, aus denen das beliebte Brimsenholz gewonnen wurde. Und dort, gleich an einer Biegung, die zur Brücke über die Iser führte, lag der Rastplatz.
Munuel und Islin sahen die Leichen schon von Weitem.
Sie ließen die Pferde galoppieren, um schneller dort zu sein. Und dann sahen sie das ganze Ausmaß. Es waren mindestens 25 leblose Körper, darunter Männer, Frauen und auch drei Kinder. Islin unterdrückte einen Aufschrei und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Bleib auf dem Pferd«, rief Munuel ihr zu, als er absprang, um das Gelände abzusuchen. Zunächst sah er sich die Leichname genauer an, in Hoffnung, einen Überlebenden zu finden, doch es gab keinen.
»Sie wurden massakriert«, konstatierte er. »Ein Gemetzel. Schau dir diese Wunden an: Präzise Einstiche, Pfeilwunden, hier wurde eine Kehle durchschnitten, sauber, regelrecht gekonnt.«
Er beugte sich zu einem sehr kleinen Körper hinunter, der mit ausgebreiteten Ärmchen in einer Pfütze lag.
»Ein Kind«, sagte er erschüttert. »Man hat ihm einfach das Köpfchen zertreten. Was für Barbaren waren das?«
Munuel wurde schwindelig, er musste sich setzen und fand einen Baumstamm, auf dem er sich niederließ. Islin missachtete seine vorherige Mahnung und stieg ab, um sich zu ihm zu gesellen. Sie legte ihm einen Arm um die Schulter.
»Wer tut so was?«, flüsterte sie?
»Ich habe sowas schonmal gesehen«, sagte er rau. »Damals, als die Barbaren aus dem Norden Angadoor überfielen und das ganze Dorf niedermetzelten. Darunter meine Eltern.«
»Ich weiß«, antwortete Islin. »Mein Vater starb ebenfalls bei diesem Überfall.«
»Lohtsé machte eine Andeutung. Ob ich eigentlich wüsste, wer diese Barbaren wirklich waren, und was sie wollten.«
»Wer weiß das schon? Damals war Krieg. Marodierende Banden zogen überall durch.«
»Ich frage mich …«, begann er und schwieg dann. Er stand auf und schritt ruhelos das Lager ab.
»Schau, Islin, hier sind Wagenspuren. Sie führen aus dem Lager heraus, Richtung … Angadoor.«
»Oh bei den Kräften!«
Munuel schritt weiter das Lager ab, bis zum Waldrand.
»Hier haben die Angreifer gelauert. Überall Fußspuren. Ein kleiner Trupp hat das Lager überfallen, ein viel größerer Trupp ist um das Lager herumgezogen, querfeldein …«
»Wie viele waren es?«, fragte Islin.
»Mindestens fünfzig. Eher mehr.«
»Warum hat sich eine Gruppe abgespaltet?«
»Nun, ich nehme mal an, dass sie für den Überfall nicht alle brauchten, die Gaukler waren ja sicher arglos und unbewaffnet. Der viel größere Trupp ist abseits der Wege weitergezogen, um nicht entdeckt zu werden.«
»Schau, da liegt was«, rief Islin aus. Sie war ebenfalls aufgesprungen und holte etwas unter einer der Leichen hervor. Es war eine Leier. Ein typisches Instrument umherziehender Künstler. Sie war zerbrochen.
»Es sind die eigentlichen Gaukler, wie ich vermutet habe«, stellte Munuel grimmig fest. »Sie wurden überfallen und niedergemacht. Und ihre Wagen und Ausrüstung hat man mitgenommen.«
»Nach Angadoor«, fügte Islin tonlos hinzu.
»Wir müssen zurück«, rief Munuel. »So schnell es geht!«
ooOoo
Obwohl Islin und Munuel alles aus ihren Pferden herausholten, hatten sie das Gefühl, nur quälend langsam voranzukommen. Munuel schalt sich selbst einen Narren, dass er sich nicht zuerst die Wagen der Truppe genauer angesehen hatte; sicher hatte man Waffen darin versteckt. Oder noch schlimmere Dinge, magische Dinge. Dass er keinerlei Anzeichen von Magie auf dem grausigen Tatort bemerkt hatte, beruhigte ihn nur wenig.
Auch reute ihn sein kleiner Spaß, als er Gelmard als Dorfmagier ausgab. Er hielt es zu diesem Zeitpunkt einfach für einen lustigen Einfall, ein kleiner Streich, den er seinem Oheim spielen wollte. Doch da wusste er ja noch nicht, was die Bande vorhatte. Sie hatten sicher nicht ohne Grund nach dem Magier gefragt, und planten bestimmt, ihn zuerst auszuschalten. Die Sonnenfenster wurden zunehmend dunkler und dunkler. Schon konnte man die Umrisse des roten Feuerballs erkennen, der langsam aber sicher aus den Fenstern herauswanderte. Bald würde man nur noch Schwärze sehen, oder mit Glück die Sterne.
Munuel hatte bereits alle magischen Unterstützungstricks angewandt, die er zur Verfügung hatte. Er ließ das Wasser im Schlamm verdampfen, so dass die Pferde nicht länger einsanken, er begradigte blitzartig allzu tiefe Schlaglöcher oder scharfe Grate und schuf sogar eine Windbarriere, welche die Luftströmung vor ihnen teilte, so dass die Pferde nicht gegen den Abendwind ankämpfen mussten. Das alles brachte ein wenig mehr Geschwindigkeit, aber es reichte bei Weitem nicht aus. Gleichzeitig versuchte er verzweifelt, Gelmard eine Nachricht über das Trivocum zukommen zu lassen. Dies war eines der Dinge, die er von Lohtsé gelernt hatte. Nur war Gelmard leider überhaupt nicht gewohnt, das Trivocum als Nachrichtenübermittler zu benutzen. Diese Art von Magie war allgemein verpönt, weil sie zum einen schwer durch Aurikel und Norikel kontrolliert werden konnte, zum anderen war es allen anderen Magiern möglich, »mitzuhören«, wenn sie das Trivocum überwachten. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Unablässig pumpte Munuel ein bestimmtes Signal ins Trivocum, eine Nachricht, die Gelmard sofort richtig deuten würde: »Gefahr im Verzug! Barbaren aus dem Norden!«
Als die Sonnenfenster endgültig schwarz wurden, hatten sie das Dorf fast erreicht. Islin und Munuel galoppierten querfeldein den letzten Hügel hinunter und konnten die gesamte Szene überblicken; einige Gebäude standen bereits in Flammen, gedämpft waren Schreie und Rufe zu hören. Kein Zweifel, der Überfall war in vollem Gange.
»Ich muss nach meinen Tieren sehen!«, rief Islin verzweifelt. Doch Munuel schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, dort hast du keine Unterstützung! Versteck dich irgendwo am Fluss, dort gibt es in paar kleinere Höhlen!«
»Das werde ich nicht tun! Wenn, dann gehe ich mit dir, die Menschen im Dorf brauchen unsere Hilfe.«
»Tu, was ich dir sage!«, rief Munuel.
»Damit fange ich gar nicht erst an!«, war ihre barsche Replik.
»Dann verschanze dich wenigstens mit den anderen im Gasthaus. Es hat starke Wände und ist aus Stein gebaut. Es wird nicht brennen.«
»Aber was mache ich, wenn ich kämpfen muss?«
Das war eine gute Frage. Munuel hatte sein Kurzschwert und vor allem seine Magie, doch Islin? Sie war an keiner Waffe ausgebildet und hatte noch nie gekämpft.
»Wir kommen beim Schmied vorbei. Dort schnappst du dir einen Schürhaken. Einfach mit aller Gewalt draufhauen, egal wohin.«
Islin nickte zur Bestätigung. »Das klingt nicht nach einem guten Plan, aber was Besseres fällt mir auch nicht ein. Und was tust du?«
»Ich stelle mich der Bande«, erwiderte Munuel grimmig. Dabei zog er sein Schwert aus der Scheide an der Satteltasche.
Als sie in die Dorfstraße einritten, konnten sie sehen, dass die Schmiede lichterloh brannte. Bernuel wehrte sich mit wuchtigen Hieben seiner gewaltigen Hellebarde gegen einen Angreifer mit Schwert und Schild. Der Angreifer wehrte fast jeden Schlag des hünenhaften Schmieds mühelos mit dem Schild ab und konterte mit schnellen Schwertstößen – die Bernuel nur mühsam parierte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Schmied eine schwere Wunde davontragen würde. Islin sprang von ihrem Pferd und nahm einen glühenden Schürhaken aus der Esse.
Munuel streckte den Schwertarm aus, duckte sich tief in den Sattel und murmelte eine Intonation. Sofort schoss sein Pferd wie von der Sehne geschnellt nach vorn. Der Angreifer drehte sich um, als er den Lärm der Hufe hörte, doch zu spät. Munuel war in der gleichen Sekunde bei ihm – der Stoß schleuderte den Mann mehrere Meter in die Luft. Der Aufprall war hart, doch der Mann kam sofort wieder auf die Füße. Munuel tänzelte auf dem Pferd um ihn herum und versuchte ihn von oben zu treffen, doch das Schild des Mannes schien undurchdringlich. Munuel war kein Kampfmagier, er hatte wenig schnelle Sprüche parat, für die er nicht erst umständliche Aurikel und Norikel im Trivocum setzen musste. Sein Pferd zu beschleunigen und einige Luftkompressionen war fast alles, was er aufbieten konnte; also versuchte er es damit. Er streckte die linke Hand aus und malte ein Zeichen in die Luft. Sofort schoss ein harter Luftstoß auf den Mann und warf ihn um. Bernuel stürzte sich auf ihn und erwischte ihn mit der Hellebarde in der Seite. Doch schon war der Kämpfer wieder auf den Beinen, trieb Bernuel mit raschen Hieben vor sich her und verpasste ganz nebenbei Munuels Pferd einen Schlag mit der flachen Schwertseite auf die Flanke, so dass es wiehernd scheute und den Magier abwarf. Während sich Munuel noch aufrappelte und seine Knochen sortierte, sah er, wie Islin versuchte, den Angreifer von hinten zu erwischen. Doch ihre Schläge waren ungelenk und nicht zielgerichtet. Ächzend kam Munuel hoch und versuchte auf die Schnelle eine Verstärkungsintonation zu setzen, während er wieder einen Luftstoß vorbereitete. Diesmal traf es den Krieger härter. Er fiel mit dem Gesicht in den Dreck, sein Schild flog ihm aus der Hand. Sofort schlugen alle drei auf ihn ein, trieben Schwert, Schürhaken und Hellebarde in sein Fleisch. Es war ein Gemetzel. Als der Mann sich nicht mehr rührte, erbrach sich Islin auf Bernuels Schuhe.
»Islin braucht eine richtige Waffe!«, rief Munuel, während er sein sich aufbäumendes Ross bestieg. Islin tat es ihm gleich und kletterte ebenfalls wieder auf ihren Rappen.
»Hier!« Bernuel warf Islin seine Hellebarde zu, die diese mit Mühe auffing. »Ich hab noch mehr davon. Die meisten sind auf dem Dorfplatz. Beeilt euch, Euer Onkel hält nicht mehr lange durch!«
Munuel und Islin gaben ihren Pferden die Sporen und donnerten die Dorfstraße hinunter. Eine Gruppe von Frauen kam ihnen aufgelöst entgegen, verfolgt von mindestens drei vermummten Gestalten.
»Geht ins Gasthaus!«, rief Munuel ihnen zu und streckte die Hand aus. Er rief eine Beschwörung, diesmal die höchste Intonation, derer er ohne Vorbereitung mächtig war. Ein gewaltiger Wirbelwind ließ alles um ihn herum erzittern, schoss nach vorn und prallte auf die Verfolger, die durch die Luft geschleudert wurden. Islin ritt mitten durch sie hindurch, die schwere Hellebarde schwingend. Sie traf einen von ihnen am Kopf und einen anderen in den Rücken. Das schien die Männer allerdings kaum zu irritieren, denn sie konzentrierten sich sofort auf den Magier.
»Gut gemacht!«, lobte sie Munuel. »Aber jetzt ab ins Gasthaus, nimm alle mit, denen du begegnest!«
Islin überlegte nicht lange. Sie sprang vom Pferd und winkte den Frauen, ihr zu folgen.
Munuel konnte sich auf keinen direkten Kampf mit den drei Vermummten einlassen, das war ihm klar. Wenn auch nur einer von ihnen so gut kämpfte, wie der Krieger bei Bernuel, war er Hackfleisch, bevor er »Mar-in-Tri« murmeln konnte. Also gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte in eine Seitengasse. Er hörte die Schritte eines Verfolgers hinter sich. Eines und nicht drei – wo waren die anderen beiden abgeblieben? Dann gewahrte er im Augenwinkel einen Schatten über sich, er blickte hoch und riss die Augen auf. Einer der beiden anderen Verfolger sprang behände über die Dächer der Häuser rechts von ihm. Munuel wandte den Kopf und richtig – der dritte sprang über die Dächer links von ihm. Wie waren sie so schnell da hinaufgeklettert? Oder waren sie einfach gesprungen? Was waren das für Leute? Sie waren die schnellsten und härtesten Nahkämpfer, die er je erlebt hatte, aber mit Magie schienen sie nicht viel Erfahrung zu haben. Munuel stieß eine schnelle Iteration hervor, die einen Windstoß auf das Dach links von ihm lenkte. Der Dachspringer geriet ins Straucheln und stürzte ab. Lautlos. Kein Schrei. Auch das war unheimlich.
Der zweite reagierte schneller und warf sich platt auf das Strohdach, um dem nächsten Windstoß zu entgehen. Doch dadurch verlor er wertvolle Zeit. Munuel preschte um eine Ecke – gerade rechtzeitig, um dem Hechtsprung zu entgehen, zu dem sein dritter Verfolger gerade angesetzt hatte.
Als Munuel den Platz vor dem Gasthaus erreichte, bot sich ihm ein verstörendes Bild. Großmeister Gelmard stand, flankiert von Findhal und Rusch, den beiden Leibwächtern Limloras, auf den Stufen des Hauses und hielt eine Gruppe von fünf Angreifern in Schach. Während Findhal und Rusch auf herkömmliche Weise fochten, hatte Gelmard eine durchsichtige undurchdringliche Wand aufgebaut, die wie ein Schutzwall wirkte. Die Angreifer kamen nicht vorbei, Pfeile und Lanzen prallten an ihm ab. Allerdings konnte er nicht viel Schaden anrichten, denn die Wand war von beiden Seiten dicht. Die beiden Leibwächter mussten um die Ecke schlagen, um mit ihren Schwertern einen der Angreifer zu erwischen. Und richteten wenig aus. Eine Pattsituation. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Gelmards Kräfte nachlassen würden.
Munuel sah im Augenwinkel Islin, die ein Dutzend Frauen und Kinder hinter Gelmards Schild vorbei in das Gasthaus führte. Er nickte befriedigt und konzentrierte sich auf das Trivocum. So wie es ihn Gelmard einst gelehrt hatte, lenkte er die Kräfte des Chaos in sein Schwert. Dazu musste er kein Aurikel setzen, konnte die Iterationsstufe allerdings auch nicht bestimmen. Es war einer dieser rohen Zauber, dessen Folgen unabsehbar waren, aber hier sah er keine andere Möglichkeit, einen raschen Erfolg zu erzielen. Munuel fühlte, wie eine ungeheure Kraft seinen rechten Arm durchfloss, direkt in das Schwert hinein. Der Stahl begann zu erglühen, blieb dabei jedoch kalt. Dann riss sich das Schwert los, sauste auf die Angreifer zu und begann unter ihnen zu wüten. Doch sie waren sehr geschickt mit ihren Schilden und wehrten das Schwert sehr effektiv ab. Munuel hatte keine Zeit, erstaunt zu sein, denn in diesem Augenblick spürte er seine Hände nicht mehr. Er sah hinab und erkannte, dass sie zu blankem Stahl geworden waren, der bläulich schimmerte. Es fühlte sich kraftvoll an. Der erste Angreifer schrie in Panik und Schmerz auf, als er blutend zu Boden ging. Die kleine Gruppe trennte sich, da sie ihn entdeckt hatten. Brüllend kamen sie auf ihn zu, Munuel hob wie ein Boxer die Hände. Jetzt waren sie da – Munuel schlug mit aller Kraft zu. Und riss dem ersten der Angreifer damit fast den Kopf ab. Doch schon der zweite hatte seine Überraschung schnell überwunden und warf sein Schild nach Munuel. Der junge Magier konnte sich gerade noch ducken, um einer Enthauptung durch die scharfe Kante des Schildes zu entgehen. Doch jetzt war der Angreifer schutzlos. Geistesgegenwärtig lenkte Munuel sein Schwert in dessen Richtung. Durch den Rücken aufgespießt ging der Mann zu Boden. Sein Schrei klang seltsam hoch, nicht männlich. War es eine Frau?
Jetzt waren auch die drei Verfolger angekommen und rannten brüllend auf ihn zu. Munuel musste sich beeilen. Er sprang vom Pferd und rannte, Haken schlagend auf das Gasthaus zu. Ein Mann stellte sich ihm in den Weg, doch Munuel rannte ihn um, dabei mit seinen Schmiedehammerfäusten einen gewaltigen Hieb auf dessen Kopf landend. Stöhnend ging der Mann auf die Knie. Mann?
Munuel blickte genauer hin: Das waren keine Männer, es waren Frauen. Ihre Gesichter waren in grellen Farben bemalt, ihre Augen schwarz geschminkt. Dass es Frauen waren, erkannte Munuel hauptsächlich an ihren weiblichen Rundungen unter den Kapuzenmänteln, sowie an den nackten Schenkeln, denn sie trugen kurze Waffenröcke. Dann warf ihn eine Explosion um und er spuckte Dreck. Gelmard hatte eine hohe Iteration beschworen und den halben Platz gesprengt.
»Das war gerade rechtzeitig!«, rief Munuel. »Länger hätte ich nicht mehr standhalten können.«
Der Magier blickte über den Platz, auf dem einige Leichen lagen, teilweise von Steinen bedeckt. Schatten huschten in die Gassen davon: Überlebende, die sich neu formierten. Der Kampf war noch nicht vorbei.
Der junge Magier beeilte sich, zu Gelmard und den beiden anderen zu kommen. Der ältere Magier hatte sein Schild aufgelöst.
»Wie ist die Lage?«, wollte Munuel wissen.
»Schlecht«, antwortete Gelmard. »Sie haben eine Menge der wehrfähigen Männer niedergemacht. Das halbe Dorf brennt. Und aus irgendeinem Grund konzentrieren sie sich auf mich. Hast du dafür eine Erklärung?«
»Sie wollen das Buch«, sagte Munuel düster.
»Das Buch? Welches Buch denn? Etwa das, in dem Lohtsé gelesen hat?«
»Ja. Es sind Andura Rana. Lohtsé hat uns von ihnen erzählt. Und warum sollten sie sonst hier sein, wenn nicht wegen des kontramagischen Buches? Wir müssen es so schnell wie möglich von hier fortschaffen.«
»Gut, das sehe ich genauso, aber, warum denken sie, ich hätte es?«
»Sie denken, dass es der Dorfmagier hat. Und aus irgendeinem Grund glauben sie, du wärst das.«
»Das ergibt Sinn. Ich bin der einzige hier, der magisch kämpft. Du kamst ja erst später dazu.«
Munuel nickte. Er war froh, nicht erklären zu müssen, warum die Andura Rana Gelmard für den Dorfmagier hielten. Und für viel Erklärungen war jetzt ohnehin keine Zeit.
»Was denkst du, wie viele es noch sind?«, fragte er seinen Oheim.
»Keine Ahnung, aber genug. Sie sind unglaublich kampfstark. Wir sollten unsere Kräfte bündeln, und …«
Weiter kam er nicht, denn ein unirdischer gutturaler Schrei ertönte vom anderen Ende des Platzes. Erschrocken spähten Munuel und Gelmard in die Dunkelheit. Das Haus gegenüber brannte lichterloh, so dass der Lichtschein sie blendete. Scharfe Konturen vor den Flammen; ein schwarzes Ross, darauf eine Gestalt mit wehendem rabenschwarzem Haar und blitzenden Augen, hoch aufgerichtet im Sattel mit einer schimmernden Lanze in der rechten Hand. Eine dunkle Herrscherin, bereit, sich zu holen, was sie wollte. Sie gab ihrem schnaubenden Pferd die Sporen und schoss nach vorn, direkt auf die beiden Magier zu. Sie legte die Lanze an, wie auf einem Turnier, die Spitze direkt auf Gelmard gerichtet. Beide Magier schossen Blitze ab, die von ihr abprallten, als trüge sie eine Rüstung gegen Magie. Sie richteten nichts aus. Rusch, der stämmige Leibwächter Limloras, warf sich tapfer in ihre Bahn und hob sein Schild. Er wurde niedergetrampelt, als wäre er ein Grashalm.
»Rein mit dir!«, schrie Munuel und ballte seine Eisenfäuste. »Ins Haus!«
Gelmard drehte sich auf dem Absatz um und zögerte nicht lange. Er rannte ins Gasthaus. Munuel hob die Arme vors Gesicht. Gerade rechtzeitig, denn die Hufe des Pferdes hätten ihn zermalmt. So aber warf ihn die rohe Muskelmasse des Streitrosses zu Boden, wo er sich geistesgegenwärtig in eine Schutzwolke hüllte. Der Ansturm ließ ihn benommen zurück. Pferd und Reiter krachten durch die Tür, durchbrachen sie, als sei sie aus Papier. Munuel stemmte sich hoch und wandte sich um. Er sah in die Gaststube hinein. Dort stand Gelmard, wie vom Donner gerührt, Limlora links von ihm und starrte ebenso erschrocken. Dahinter die Dörfler, die sich hinter umgekippten Tischen und anderem Mobiliar verschanzt hatten. Die Reiterin holte mit der Lanze aus und warf sie direkt auf Gelmard. Das schwere Wurfgeschoss sauste zischend auf Gelmard zu, der keine Zeit mehr hatte, seinen Schild zu beschwören. Munuel setzte zu einer Luftmagie an, die auf die Lanze einwirken sollte, doch war ihm klar, dass er nicht schnell genug sein würde. Gelmard war so gut wie tot. Doch da hörte er einen Laut von Limlora, die eine unvollkommene Luftmagie herausschrie. Und sie hatte Erfolg, die Luft links von der Lanze verdichtete sich, wirkte wie ein fester Gegenstand, an dem das Wurfgeschoss entlang schrammte, einen Drall nach rechts bekam, haarscharf an Gelmard vorbei, in den Raum dahinter. Dort stand Islin.
Munuel schrie auf. Wie von einem Katapult geschossen, warf er sich nach vorn, die Arme ausgestreckt, doch es war zu spät. Hilflos sah er mit an, wie die Lanze Islin durchbohrte und dann in der Wand dahinter steckenblieb. Seine Freundin riss in Agonie die Augen auf, Blut schoss aus ihrem Mund, als sie zusammensackte. In Munuel explodierte etwas. Blanke Wut, Schmerz und Trauer vereinten sich in vernichtendem Zorn, der sich gegen die Reiterin richtete. Der Boden tat sich auf, Planken stachen hervor, als sie aus ihrer Verankerung gerissen wurden, das Ross kippte, die Kriegerin schien zu fallen, als sie geistesgegenwärtig ihr Pferd herumriss und mit einem gewaltigen Sprung über Munuel hinwegsetzte. Aus dem Stand sprang ihr Reittier über ihn hinweg, durch die zerstörte Tür. Munuel wirbelte herum und schrie eine Beschwörung heraus. Flammen schossen auf die Reiterin zu, doch sie schafften es nicht, sie zu berühren.
»Du …!«, rief sie mit scharfer Stimme, die in den Ohren hallte, »du bist der Magier, den ich suche! Wir kommen wieder. Und holen uns was wir wollen!«
Erneut riss sie ihr Ross herum und galoppierte in die Dunkelheit, schrille Befehle ausstoßend, die ihre Truppe zusammenriefen. Weitere Schatten huschten vorbei, die Angreifer verließen das Dorf. Fürs Erste …
ooOoo
Sekunden später war er bei ihr. Hielt sie im Arm. Sie konnte nicht sprechen, ihr Mund war voller Blut, das ihr die Brust hinab lief, sich dort mit dem riesigen Fleck vereinte, der sich um die Lanze herum gebildet hatte. Sie war von der Kriegswaffe regelrecht an die Wand genagelt. Sie streckte die Arme nach ihm aus, und sah ihn mit brechenden Augen an.
»Islin …«, flüsterte Munuel. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Abbild ihres Körpers. Seine magischen Augen durchdrangen das Gewebe und sahen die Zerstörung. Die breite Lanzenspitze hatte die Leber, und vor allem die große Baucharterie durchschnitten. Das hätte Munuel mit viel Glück so weit instandsetzen können, dass sie nicht verbluten würde. Doch leider steckte die Lanze auch zum Teil in der Lunge und hatte den unteren Herzbeutel durchtrennt. Islin erstickte an ihrem eigenen Blut. Alles, was Munuel tun konnte, war ihr Leid zu lindern. Zärtlich sprach er eine Heilmagie, die auf ihr Schmerzempfinden einwirkte. Er fühlte, wie sie sich entspannte. Die quälende Atemnot linderte er mit einer Illusion, die sie nicht spüren ließ, dass ihr die Luft fehlte. Mit aller Macht hielt er diese Illusion aufrecht. Sie sah ihn dankbar an. Munuel beugte sich weit hinunter, ganz nah an ihr Gesicht. Er küsste sie. Er fühlte ihre Lippen den Kuss erwidern, mit schwindender Kraft.
»Unser … Kind«, flüsterte sie heiser. Diese Bemerkung machte Munuel ratlos. War sie etwa doch …? Er würde es jetzt wohl nie erfahren.
Gelmard legte ihm in einer hilflosen Geste, die Hand auf die Schulter, zog sie ungelenk wieder zurück, wandte sich ab. Limlora sah nur entsetzt auf Islin.
»Das … das wollte ich nicht …«, stammelte sie verstört.
»Es ist nicht deine Schuld, du hast die Lanze nicht geworfen«, sagte Gelmard mit tonloser Stimme.
»Doch«, erwiderte das Mädchen schluchzend. »Es ist meine Schuld!« Weinend lief sie davon. Gelmard gab Findhal einen Wink, der ihr sofort nacheilte.
Islin seufzte leise und röchelte. Schließlich bäumte sich ihr Körper in Munuels Armen auf, und sackte dann in sich zusammen. Islin war tot.
»Ich verfluche dich, alter Mann, warum musstest du in mein Dorf kommen!?«, rief Munuel. Es war nicht allein die Trauer um seine Freundin, die Munuel niederdrückte. Es war auch Reue. Schuld. Er hatte die Gefühle seiner Freundin einfach ignoriert. Jetzt war es zu spät, das Richtige zu tun.
»Ich … ich konnte doch nicht wissen …«, stotterte Gelmard betroffen. Doch Munuel unterbrach ihn.
»Nicht du! Lohtsé! Der alte Narr hat sie auf dem Gewissen! Ich spucke auf ihn und auf diese ganze verdammte Insel! Sollen sie doch alle zum Teufel gehen!«
Gelmard sagte nichts. Er kniete neben seinem Freund und Neffen nieder. Alle Umstehenden taten es ihm nach. So hielten sie Totenwacht, bis der Morgen graute.
ooOoo
Sie bestatteten die Toten am frühen Morgen. Das Dorf hatte über fünfzig Ermordete zu beklagen, darunter Bauer Lemros, Fischer Heiner, Limloras Leibwächter Rusch, Amerilde die Dorfpriesterin und … Islin. Es hatte die ganze Nacht gedauert, sie alle zu suchen und zu bergen. Einige waren in ihren Häusern verbrannt oder erstickt, die meisten jedoch erschlagen, erdolcht oder von Pfeilen durchbohrt. Die Verluste der Angreifer hatte man der Hygiene wegen auf einen Haufen geschichtet und achtlos in Brand gesteckt.
Die Leichname von Angadoor jedoch, hatte man ordentlich aufgebahrt. Der Anblick war schrecklich, vor allem für jene, die sich noch an den Krieg erinnerten, der vor nicht ganz zehn Jahren ebenfalls ihr Dorf heimgesucht hatte. Doch damals waren die Verluste noch größer gewesen.
Unter den bitteren Tränen der einen oder der stummen Trauer der anderen entzündeten Gelmard und Munuel die Leichenfeuer. Die ganze Dorfgemeinschaft stand in bitterem Schmerz, bis nichts mehr übrig war, außer Asche.
Dann kehrten alle in das zurück, was ihnen geblieben war, und begannen damit, das Dorf wiederaufzubauen, wie sie es seit jeher getan hatten.
»Was willst du jetzt tun, mein Sohn«, sagte Gelmard, als sie nurmehr allein auf dem Friedhof waren. Nur Limlora war bei ihnen geblieben und stand teilnahmslos einfach da.
Munuel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du das jetzt nicht hören willst, aber zum Trauern ist leider keine Zeit. Dir ist schon klar, dass diese … Andura Rana … nicht aufgeben werden, bis sie das Buch haben?«
Munuel sah Gelmard mit blicklosen Augen an. »Ja. Aber das ist mir egal.«
Gelmard nickte. »Ja, das mag sein. Doch das ist nicht die Haltung eines verantwortungsvollen Magiers. Alle im Dorf haben Angehörige verloren. Das hindert sie aber nicht daran, ihr Zuhause wiederaufzubauen. Und dich darf es nicht hindern, das Richtige zu tun.«
»Und was wäre das Richtige?«
Gelmard machte eine alles umfassende Handbewegung. »Das Dorf ist weiterhin Angriffsziel der Bande, die uns überfallen hat. Also musst du entweder eine Festung daraus machen, oder das Ziel des Angriffs aus dem Dorf entfernen.«
»Also weggehen?«
Gelmard sah ihn ungerührt an. »Das ist nun mal leider so. Sie wollen das Buch. Du hast das Buch. Entweder du verteidigst es, auf die Gefahr hin, dass noch mehr Menschen umkommen, oder du bringst es fort.«
Munuel wandte sich von Islins Überresten ab und sah Gelmard an. Tonlos sagte er: »Du hast recht, ich habe keine Wahl.«
»Das bedeutet?«, fragte Gelmard.
»Dass ich fortgehe. Mit euch«, antwortete Munuel.
»Zu den Wolkeninseln?«
»Nein«, widersprach Munuel. »Ja. Zuerst in die Hauptstadt. Nach Savalgor. Erstens muss sie …«, er deutete mit dem Finger auf die trübselig dreinblickende Limlora, »… zurück in ihren Palast, wo sie sicher ist. Nicht auszudenken, hätten die Banditen sie erkannt. Zweitens muss das Buch zum Cambrischen Orden. Und drittens muss Geramon über die Gefahr informiert werden, die von den Wolkeninseln droht. Ein Heer sollte ausgerüstet werden, und eine Flotte.«
»Eine Strafexpedition?«
Munuel schüttelte grimmig den Kopf. »Nein, eher ein Präventivschlag, mit aller Wucht. Du solltest das auch dem Orden klarmachen. Wir brauchen so viele Magier, wie möglich.«
Gelmard nickte. »Also gut. Unter diesen neuen Umständen halte auch ich das für das Vernünftigste. Ich packe alles zusammen. Findhal kann mir helfen.«
Damit wollte er zurück zum Gasthaus gehen. Doch Munuel hielt ihn auf.
»Halt. Eine Sache noch.«
Gelmard blieb neben Limlora stehen. »Ja?«
Erneut deutete Munuel mit dem Finger auf Limlora. »Sie sollte sich verkleiden. Ich will nicht, dass man ihr hübsches Gesicht sieht. Es ist eine Reise von gut einer Woche nach Savalgor, da kann viel passieren. Am besten verkleidet sie sich als Mann, oder … Junge. Und niemand nennt sie mehr Limlora, verstanden? Sie heißt ab sofort Lim. Das klingt unverfänglich und neutral.«
Limlora biss sich auf die Lippen. »Und wo soll ich Männerkleidung herbekommen?«
»Das dürfte kein Problem sein«, antwortete Munuel bitter. »Es sind genug junge Männer gestorben. Ihre Kleidung dürfte Euch passen. Und das ist jetzt auch das letzte Mal, dass ich Euch hoheitlich anreden, denn ab jetzt reden wir mit dir, wie mit jedem anderen jungen Burschen, klar?«
Limlora nickte. »Klar.«
»Und noch etwas«, setzte Munuel hinzu. »Du wirst ab jetzt keinerlei Magie mehr wirken. Unter gar keinen Umständen.«
Wieder nickte Lim. Munuel konnte sehen, wie sie gegen ihre Tränen ankämpfte. Fast tat sie ihm leid. Dann dachte er an Islin, und sein Mitleid verflüchtigte sich.
»Das war alles«, endete er barsch. Limlora dreht sich um und ging mit Gelmard zusammen davon.
ooOoo