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KRIEG & VERDAMMUNG

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Zu Beginn des Vietnamkriegs war mein Bruder weder dafür noch dagegen. So gesehen spiegelte er damit auch die Einstellung der restlichen

Bevölkerung der Vereinigten Staaten wider. Viele Menschen hatten eine vage Idee davon, dass der Kommunismus aufgehalten werden müsse, bevor er sich in diesem südostasiatischen Land festsetzen konnte, doch noch viel mehr meinten, dass Amerika nicht eingreifen sollte. Andererseits muss man auch den vorherrschenden Patriotismus berücksichtigen. Wie den meisten anderen Kindern wurde Muhammad und mir in der Schule beigebracht, dass jeder Krieg, in dem Amerika kämpfte, dazu diente, den Frieden zu erhalten und die Demokratie beziehungsweise die Freiheit auf der Welt zu verteidigen. Mein Bruder hätte keine Probleme damit gehabt, zum Militär zu gehen, hätte man ihn als Teenager eingezogen, das sagte er sogar selbst. Doch dieser Denkprozess änderte sich komplett, als er erwachsen war und selbst begann, über Dinge nachzudenken.

Das erste Mal, dass Muhammad sich weigerte, den US-Streitkräften beizutreten, war im März 1966. Das war nicht lange, nachdem er in Kanada gewesen war, wo er einen Kampf gegen George Chuvalo bestritt. Chuvalo war ein harter, aggressiver Boxer, jemand, der sich nicht scheute, selbst den einen oder anderen Schlag einzustecken, damit er einen Wirkungstreffer landen konnte, und es gab mehr als nur eine Handvoll Leute, die sehen wollten, wie er meinen Bruder auf die Bretter schickt. Chuvalo sprach darüber, dass er nicht wie Liston unter Druck aufgeben würde, und unterstrich seine Bilanz von 47 Kämpfen, in denen er nie k. o. gegangen war. Der Kampf musste in Kanada stattfinden, da mehrere amerikanische Veranstaltungsorte uns abgewiesen hatten, was meinen Bruder dazu trieb, der Welt zu sagen, dass er dafür, dass er eine gute Sache verfolge, bestraft würde. Zusätzlich zur normalen Entourage waren in Kanada noch Jim Brown, Howard Cosell und Bob Arum dabei. Einige Monate zuvor hatte Muhammad zusammen mit Jim, Bob, Herbert und John Ali die Boxpromotion-Firma Main Bout Inc. gegründet, die Muhammads Kämpfe vermarkten sollte. Also musste Jim mit an Bord kommen. Bob Arum, ein Anwalt aus einer jüdischen Familie, der eigentlich keine Ahnung vom Boxen hatte, hatte meinen Bruder bereits in einigen juristischen Dingen vertreten.

Auch wenn die meisten Sportkommentatoren Chuvalo keine Chance gaben, so war es eine exzellente Gelegenheit für Kanada, den Champ zu sehen. Fans und Medien stürmten Sully’s Gym in Toronto, um einen Blick auf den Boxchampion zu erhaschen, der gekommen war, um den Lieblingsboxer der Nation in die Schranken zu weisen. Das Boxstudio lag im ersten Stock und war recht groß. Ich erinnere mich, dass es dort einen Ring, sechs schwere Sandsäcke und einige Speedballs gab. Die Wände waren mit Postern von Boxgrößen wie Sugar Ray Robinson, Rocky Marciano und anderen Champions von anno dazumal vollgepflastert. Im Erdgeschoß befand sich eine Autowerkstatt, die mit gebrauchten Wagenteilen handelte. Das Studio gehörte dem Boxpromoter Earl „Sully“ Sullivan, der Muhammad nach Toronto eingeladen hatte, da der Kampf woanders nicht stattfinden konnte, selbst nirgendwo anders in Kanada. Ursprünglich hätte der Kampf in Montreal stattfinden sollen, doch die Veranstalter dort lehnten ab. Schließlich ließen sich die Besitzer des Maple Leaf Gardens in Toronto mit Sullys Hilfe überreden, und Muhammad bekam die Erlaubnis, in Ontario zu boxen.

Die Atmosphäre war immer voller Euphorie, wenn Muhammad das Publikum während seiner täglichen Sparringeinheiten im Ring verzauberte. Die Fans zahlten zwischen einem und fünf Dollar, um den Weltmeister im Schwergewicht beim Sparring zusehen zu dürfen, und dieses Geld kam einem wohltätigen Projekt zur Unterstützung von Kindern aus armen Familien zugute. Muhammad sparrte mit mehreren seine Trainingspartner, inklusive meiner Wenigkeit. Er hatte gerade seine Runden mit Jimmy Ellis beendet, als Angelo einen jungen Boxer namens Spider Jones aus der näheren Umgebung fragte, ob er nicht ein paar Runden mit Muhammad drehen wolle. So eine Gelegenheit konnte sich der junge Mann natürlich nicht entgehen lassen. Jones war anfangs recht nervös, denn das gesamte Studio war zum Bersten voll mit Zusehern und Journalisten aus der ganzen Welt. Es war ein besonderes Erlebnis für diesen damals 22-jährigen Boxer, einfach so ins kalte Wasser geworfen zu werden und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Inzwischen war Muhammad auch wieder fit genug, um mehrere harte Runden zu gehen, nachdem er nicht gerade in Bestform ins Training gestartet war. Als sie also ihre Sparringrunde drehten, begann Muhammad, seinen Gegner in die Seile zu stoßen, und drängte ihn dazu, auf ihn einzuprügeln. Der verdutzte Jones nahm die Einladung bereitwillig an. Muhammad duckte ab, blockte und wich dem Schlaghagel gekonnt aus, um dann mit ein oder zwei Jabs und blitzschnellen Schlägen zu kontern. Allerdings versuchte er nicht, seinen Sparringspartner mit Schlägen einzudecken oder ihn anderweitig zu sehr in Bedrängnis zu bringen.

Es war typisch für Muhammad, seine Sparringspartner recht schonend zu behandeln. Anders als George Chuvalo, Joe Frazier und Sonny Liston, die im Sparring voll aufdrehten, als wäre es ein echter Kampf, war mein Bruder immer entspannt, experimentierte, probierte Neues und ließ seinen Partnern eine Chance. Angelo pflegte zu sagen, dass er glaube, Muhammad hätte nie eine Sparringeinheit gewonnen, da er sie nicht ernst nahm – trotzdem arbeitete er aber hart. Andererseits war der Muhammad Ali, den ich im Studio beim Sparring sah, nicht der gleiche Ali, der im Ring vor Tausenden von Zusehern kämpfte. Damit meine ich, dass, wenn man ihn beim Sparring beobachtete, es so aussah, als würde er „verlieren“. Doch in dem Moment, wenn er im Ring in der Arena stand, machte er ernst. Boxen war seine Leidenschaft, doch ich kann Ihnen auch versichern, dass er keinen Spaß daran hatte, anderen wehzutun. Das war etwas seltsam, denn obwohl er diesen brutalen Sport ausübte und dabei einigen der härtesten und brutalsten Boxern in der Geschichte des Sports gegenüberstand, fand er nie daran Gefallen, anderen Leuten Schmerzen zuzufügen. Muhammad war kein Finisher wie Sugar Ray Robinson oder Sonny Liston oder später auch Mike Tyson. Er war der Typ, der dir einfach boxerisch überlegen war und dich mental besiegte. Wenn er einmal in deinem Kopf war, dann gewann er aufgrund deiner Fehler und dem unglaublichen Druck, den du spürtest.

Doch da war noch mehr. Muhammad war mehr als nur ein gewitzter Kämpfer. Er hatte auch Mut. Er war ein Krieger. Und kein echter Krieger will seinen Sparringspartner verletzen, den Mann, der ihm beim Training für die echten Kämpfe hilft. Ich bin mir sicher, dass Spider Jones, als er in den Ring stieg, erwartete, vor den fast 700 Leuten im Studio gedemütigt zu werden. Mein Bruder war ja immerhin eine Sensation in Toronto. Er war gekommen, um gegen ihren Champion zu kämpfen. Auch wenn er keiner von ihnen war, so hießen ihn die Kanadier herzlich willkommen, als wäre er einer der ihren. Das Studio war vollgepackt mit Leuten, also würde man denken, dass Muhammad ein bisschen angeben würde und diesem Boxer, der sein Bestes versuchte, auf ihn einzuschlagen, einige richtige hammerharte Schläge verpassen würde. Natürlich hatte Jones die Herausforderung angenommen, als er in den Ring stieg, und später gab er zu, dass er wirklich geglaubt habe, von Muhammad gedemütigt und zusammengeschlagen zu werden – doch dem war überhaupt nicht so. Die beiden gingen über drei anstrengende Runden, in denen sich Jones beim Versuch, Treffer zu landen, genauso verausgabte, wie er es durch das Einstecken von Schlägen tat. Mein Bruder andererseits hatte nach der Einheit noch genügend Kraft, um dem Publikum zuzuwinken.

Was danach passierte, war noch überraschender. Muhammad saß zusammen mit Spider Jones im Umkleideraum, den alle Boxer miteinander teilten. Jones, ein begeisterter Sänger, stimmte Stand by Me an, was Muhammads Interesse erweckte.

„Ein großartiges Lied“, sagte Muhammad zu ihm. „Von wem ist das?“

„Ben E. King!“, antwortete Jones und begann, über Kings Leben zu referieren – wie seine Karriere begonnen hatte und wie er zum Leadsänger in einer Gruppe namens The Drifters wurde.

Mein Bruder war neugierig geworden, denn er verabsäumte fast nie eine Gelegenheit, sein Wissen auf Gebieten, die ihn interessierten, zu erweitern. Es endete damit, dass beide dasaßen und lange über Musik sprachen, während sie sich von ihrem Schlagabtausch im Ring zuvor erholten. Sam Cooke, einer der damals bekanntesten Sänger, war ein guter Freund Muhammads. Er war auch sein Lieblingssänger, wie er Jones erzählte. Jones wusste selbst viel über Cooke und erzählte meinem Bruder einige Dinge über ihn, die auch Muhammad nicht kannte. Ich selbst habe Sam auch getroffen: Er war damals bei der Feier nach dem Sieg über Liston dabei gewesen, und obwohl er kein aktives Mitglied der Nation of Islam war, so kannte er jedenfalls ihre Lehren. Doch Spider Jones hatte noch viel mehr Hintergrundwissen zu Sam zu bieten: über seine musikalische Karriere, seine Zeit mit den Soul Stirrers. Leider wurde Sam 1964 erschossen. Laut Polizei war es angeblich Notwehr gewesen, doch Freunde behaupteten, dass das nicht stimmte. Muhammad hatte selbst Zweifel an diesem Urteil und sprach darüber mit Jones.

Erstaunt über das beeindruckende Wissen dieses jungen Mannes über Musik, sagte mein Bruder: „Junge, du solltest zum Radio gehen.“

Witzigerweise hatte Jones dies bereits seit Längerem in Erwägung gezogen, was er meinem Bruder auch sagte.

Muhammad meinte zu ihm: „Ich wurde geboren, um Weltmeister im Schwergewicht zu werden. Du bist dazu geboren, der Weltmeister des Radios zu werden! Du musst zum Radio, dort ist dein Platz!“

Und Jones sagte: „Ich weiß.“

Dieses Gespräch blieb Jones im Gedächtnis, und mein Bruder erinnerte sich an den Tag, an dem er wieder nach Hause flog – kurz bevor er nach einem 15-Runden Kampf gegen Chuvalo, den Muhammad nach Punkten gewonnen hatte, zum Flughafen fuhr –, und er Jones umarmte.

„Das nächste Mal, wenn ich wiederkomme, will ich Gast in deiner Radiosendung sein“, sagte Muhammad zu ihm. „Wenn du dann keine Radioshow hast, dann versohle ich dir den Hintern!“

Muhammad teilte also eine gemeinsame Leidenschaft mit seinem neuen kanadischen Freund. Von da an ging es immer um Musik, wenn er und Jones sich über den Weg liefen.

Er sagte dann: „Sing Stand by Me! Mann, Spider Jones, du weißt alles über Musik!“

20 Jahre später führte Jones ein Interview mit Muhammad. Mein Bruder, wie die meisten Leute wissen, war ein großartiger Interviewpartner, und jeder, der mit ihm sprach, erkannte schnell, dass sich hinter dem sportlichen Äußeren ein besonderer Intellekt versteckte. Muhammad hatte den Hang, Interviewer mitten im Satz zu unterbrechen. Er stand mitten im Gespräch auf und begann ein wenig mit ihnen zu sparren, es war unglaublich. Er kam immer als sehr intelligent rüber und sprach über seine Religion und soziale Anliegen, wenn ihm die Plattform in den Medien geboten wurde. Er sprach für ihn wichtige Themen an, fand jedoch immer wieder auch Zeit für das eine oder andere Späßchen. Etwas, was er nie machte, war, sich abfällig über seine Gegner zu äußern, außer er warb gerade für einen Kampf. Vor Kämpfen gab es kein Pardon. Wenn dann der Kampf vorüber war, dann behandelte er seine Kontrahenten allerdings wieder wie gute Freunde. Einmal während eines Gesprächs über seine Freundschaft mit Musikern hörte ich Muhammad sagen, dass er glaube, dass sein Freund Sam Cooke ermordet worden sei.

Nach Cookes Tod machte sich eine Verschwörungstheorie rund um die Schießerei breit, und sie klang sogar recht plausibel. Es gab damals gewisse einflussreiche Personen, die nicht wollten, dass Farbige ein eigenes Plattenlabel besaßen. Sam Cooke hatte sein eigenes Label gegründet und produzierte den Großteil seiner Songs selbst. Damit behielt er auch alle Rechte an seinen Liedern. Es dauerte nicht lange, und er wurde unter sehr mysteriösen Umständen erschossen, um es einmal diplomatisch auszudrücken. Bertha Franklin, die Managerin des zwielichtigen Hacienda Motels in Los Angeles, hatte ihn laut ihren Behauptungen in Notwehr erschossen, da er sie angeblich vergewaltigen wollte. Die meisten Menschen aber behaupteten, dass es eine Verschwörung war. Sam hätte jede Frau haben können, die er wollte, ohne Gewalt anzuwenden. Er war ein sehr gut aussehender Mann, gerade einmal 33 Jahre alt und am Höhepunkt seiner Musikkarriere. Er war einer der besten Sänger weit und breit.

Cookes Tod traf meinen Bruder schwer. Er liebte Sam. Sie waren wirklich gute Freunde geworden. Sam besuchte uns früher oft in Miami, und wir hingen zusammen ab und verbrachten eine tolle Zeit miteinander. In jenen Tagen gehörten viele Plattenfirmen der Mafia, speziell in Großstädten wie New York und Chicago. Otis Redding hatte ebenfalls sein eigenes Plattenlabel gegründet und war wenige Monate später, im Jahr 1967, zusammen mit vier seiner Bandmitglieder und dem Piloten bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Wer weiß, vielleicht war es ja nur Zufall, doch Muhammad sprach öfters über Sam und seinen Tod. Irgendwann nahm mein Bruder dann seine eigene Version von Ben E. Kings Stand by Me auf, die sich mehr schlecht als recht verkaufte. Ob Muhammad ein solider Sänger geworden wäre, wenn er ins Musikgeschäft eingestiegen wäre? Ich denke, mit etwas Übung hätte er Potenzial gehabt. Er hatte generell eine gewisse Begabung für Dinge, wenn er sich darauf konzentrierte.


Am 28. April 1967 sollte Muhammad vor der Einberufungskommission in Houston erscheinen. An jenem Morgen rief er Herbert an – wie immer, wenn er Rat brauchte. Ich hörte meinen Bruder oft morgens oder abends mit Herbert telefonieren. Unsicher, was seine Zukunft betraf, fragte Muhammad: „Was wird passieren?“

Er fragte Herbert nicht, was er bei der Anhörung sagen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass er genau wusste, dass er der Kommission seine Prinzipien darlegen würde. Er war nicht bereit, sich der Regierung einfach zu ergeben. Auch das wusste ich. Muhammad beriet sich mit Herbert, um dessen Meinung zu erfahren. Ehrlich gesagt, hinterfragte er seinen Manager nur sehr selten, auch wenn andere Leute im Dunstkreis meines Bruders der Meinung waren, dass Herbert zu viel Kontrolle über die meisten Dinge hatte, wenn nicht sogar über alles. Herbert spielte eine entscheidende Rolle während seiner Karriere und bestimmte meist, was Muhammad tun sollte. Wie auch immer, wir waren uns sehr wohl der Konsequenzen bewusst, die eine Verweigerung auf Muhammads weiteren Weg haben könnte.

In der Zwischenzeit versuchte Arum sein Bestes, um meinen Bruder davon abzubringen und ihn zu überzeugen, den Deal, den er der Regierung vorgeschlagen hatte, anzunehmen. Dieser Deal besagte, dass Muhammad Schaukämpfe zur Unterhaltung der Truppen vorführen sollte. So würde seine weitere Karriere keinen Schaden nehmen, und Muhammad könnte weiter professionell boxen. Hinter verschlossenen Türen warnte Arum meinen Bruder, dass er beruflichen Selbstmord beginge, sollte er diesen lukrativen Deal ausschlagen. Außer mir dachte so ziemlich jeder im Umkreis von Muhammad, dass die Wahrscheinlichkeit für meinen Bruder, jemals wieder einen Boxring zu betreten, gleich null war. Und Arum – der wusste, dass die Karriere meines Bruders vorbei wäre, wenn er diesen Deal ausschlug – sagte ihm klipp und klar, dass er gerade dabei war, eine Dummheit zu begehen. Alle rund um meinen Bruder – einschließlich unseres Vaters und sogar Herberts, auch wenn der den Anweisungen seines Vaters Folge leistete – wollten, dass mein Bruder diesem Deal zustimmte. Immerhin hingen sie alle mehr oder weniger finanziell von ihm ab, und so war es keine große Überraschung, dass der Deal auch in ihrem Interesse war. Später einmal erklärte Arum öffentlich, dass der Grund, warum er Muhammad so unter Druck gesetzt hatte, das Angebot anzunehmen, war, weil er nicht wollte, dass mein Bruder ins Gefängnis gehen müsste. Er sei sehr besorgt um ihn, meinte er. Vor allem war der Promoter natürlich darüber besorgt, seine goldene Gans zu verlieren.

Am Anfang des Krieges war Muhammads Antwort auf die Einberufung größtenteils von der Reaktion der Nation of Islam bestimmt, denn viele schwarze Muslime verweigerten den Kriegsdienst, und mein Bruder folgte eigentlich nur ihrem Beispiel. Er handelte nach seinen Glaubensprinzipien, doch er betrachtete den Krieg nicht unbedingt als eine ungerechte Sache. Das änderte sich jedoch mit Fortdauer des Krieges, als Muhammad neu eingestuft wurde. Muhammad war kein besonders eifriger Leser, und damals, beim ersten Mal, waren seine Lese- und Schreibfähigkeiten gerade einmal ausreichend gewesen, und die Tests, die er bei der Stellungskommission ausfüllen musste und die als Kriterium zur Einberufung dienten, fielen ihm recht schwer. Erst als die Armee nach mehreren Jahren hartem, blutigem Dschungelkrieg mehr Soldaten benötigte, wurden die Qualifikationskriterien für die Einberufung gesenkt. Doch anstatt meinen Bruder erneut zu testen, klassifizierten sie die Ergebnisse des alten Tests aufgrund der neuen Kriterien neu und erklärten ihn im Nachhinein für tauglich. Sie können sich vorstellen, wie das bei meinem Bruder ankam. Erst wurde er als dumm abqualifiziert und ausgemustert, doch als die Armee dringend mehr Soldaten für Vietnam benötigte, war er plötzlich wieder klug genug.

Als er herausfand, dass er als tauglich eingestuft worden war – ich denke, wir befanden uns damals gerade in dem Bungalow, den er in Miami gemietet hatte, als er den Anruf bekam –, war die erste Reaktion meines Bruders: Warum ich? Ich bin doch Weltmeister im Schwergewicht. Mit meinen Steuern finanziere ich so viele Gewehre, Panzer und Soldaten. Warum holen die nicht andere, die keine Steuern zahlen? Seine erste Antwort hatte also rein gar nichts mit seinen Prinzipien zu tun, doch es steckte trotzdem etwas mehr dahinter. So wie ich es sah, war Muhammad anfangs nicht klar, dass man ihn nicht an die Front schicken würde, um dort Menschen zu töten. Schon zuvor war es meist gang und gäbe gewesen, dass bekannte Sportler, die zur Armee gingen, im Normalfall mit ungefährlichen Aufgaben betraut wurden, wie etwa mit Vorführungen, um die Truppen bei Laune zu halten, und ich denke, man konnte davon ausgehen, dass, wenn er sich verpflichtet hätte, er ebenso wenig an die Front gekommen wäre. Zu Beginn schien er dies allerdings nicht zu begreifen, und er begann, sich so in seine Wut hineinzusteigern, dass er sich in der Öffentlichkeit so vehement gegen den Krieg aussprach, bis ihn die meisten Amerikaner als einen Ausgestoßenen betrachteten. Als er realisierte, dass ihm persönlich keine Gefahr drohte, war er dann nicht mehr bereit, seine Prinzipien zu opfern.

„Warum soll ein schwarzer Mann von weißen Männern geschickt werden, um braune Menschen umzubringen?“, sagte er. „Ich bin ein Muslim, und wir ziehen nicht in den Krieg, solange er nicht von Allah selbst ausgerufen wurde. Ich persönlich habe keinen Streit mit dem Vietkong.“

Natürlich machten sich auch unsere Eltern Sorgen. Ich erinnere mich, wie mein Bruder zu ihnen sagte: „Ich folge dem ehrenwerten Elijah Muhammad. Ich bin ein Muslim. Elijah Muhammad sagt, ich kann nicht für dieses Land kämpfen. Ich kann nicht einfach unschuldige Menschen töten, die mir nichts antun. Diese Menschen nennen mich nicht ‚Nigger‘. Ich kann dort nicht hinfahren und kämpfen. Ich werde es nicht tun.“

Darauf sagten unsere Eltern: „Wenn das deine Überzeugung ist, dann tu das, was du für richtig hältst. Geh und stehe deinen Mann. Wir stehen zu 100 Prozent hinter dir.“

Selbst heute noch übersehen viele Leute die Tatsache, dass unverhältnismäßig viele Afroamerikaner eingezogen wurden, um in Vietnam zu kämpfen. Das sorgte wiederum für einen anderen Konflikt: Da waren nun Menschen, die mit ihrem Gewissen kämpften, unsicher darüber, aus welchem Grund in Vietnam Krieg geführt wurde, doch viele von ihnen hatten Söhne, Onkel, Brüder und Väter, die zum Militär gingen, um gegen den Kommunismus zu kämpfen. Also gab es einige, die die Entscheidung meines Bruders unterstützten und sich gleichzeitig fragten, warum ihre Verwandten dienen mussten, und andere, die der Meinung waren, dass mein Bruder über dem Gesetz stehen solle.

Vor allem Mainstream-Amerika betrachtete Muhammad als einen Dummkopf, aber auch als einen vorlauten schwarzen Mann, der nicht wusste, wo sein Platz war. Er war gelegentlich der „Kentucky Clown“ genannt worden, oder die „Louisville Lippe“, doch nachdem er der Nation of Islam beigetreten war und seinen Namen auf Muhammad Ali geändert hatte, bekam die Kritik an ihm einen immer aggressiver werdenden Unterton. Nun, als er sich weigerte, mit gutem Beispiel voranzugehen und sich zum Militärdienst zu melden, wurde er zu einem öffentlich gehassten Sportler, vor dessen Tür die Kommentatoren und Zeitungsschreiber Schlange standen, um ihr Gift auf ihn zu spritzen.

Mein Bruder, Muhammad Ali

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