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BRÜDER
ОглавлениеMein Bruder hätte unsere Mutter bei seiner Geburt beinahe umgebracht.
Er hatte einen riesigen Kopf, viel zu
groß, um auf natürliche Weise auf die Welt zu kommen. Die Ärzte im General Hospital in Louisville, Kentucky, versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um meinen Bruder gesund auf die Welt zu bringen, und trotzdem wäre es beinahe schiefgegangen. Schließlich nahmen sie eine Geburtszange zu Hilfe, was dazu führte, dass Muhammad mit einem leicht schiefen Kopf auf die Welt kam. Glücklicherweise war auch unsere Großmutter mütterlicherseits da, um zu helfen. Sie versicherte unserer Mom, dass sie auf das Baby aufpassen würde, saß mit meinem neugeborenen Bruder im Arm da und streichelte seinen Kopf sanft von einer Seite zur anderen. Ob dies dazu beitrug, dass er schließlich diesen wohlgeformten Kopf bekam, kann ich nicht sagen, doch die Geburtszange hinterließ jedenfalls ihr Mal auf der rechten Wange meines Bruders, das er sein ganzes Leben mit sich herumtragen würde. Wie aber unsere Mutter uns immer erzählte, konnte man schon vom Tag seiner Geburt an sehen, dass mein Bruder ein richtig attraktiver Junge werden würde – mit diesen feinen Gesichtszügen, von denen die Schläge nur so abzugleiten schienen, und dem Gesicht, das so viele Tausende Male im Fernsehen zu sehen war – das Gesicht, das fast alle auf der Welt kannten. Er war von Anfang an ein gut aussehender Junge, und Mutter liebte ihn von dem Moment an, an dem sie ihn zum ersten Mal sah.
Trotzdem, nicht alle erkannten meinen Bruder gleich. Kurz nach der Geburt legten die Krankenschwestern das falsche Baby zu Mutter ins Bett, die vor Erschöpfung noch ganz benommen war. Als sie das Namensschild erblickte, merkte sie sofort, dass dies nicht ihr Baby war. Obwohl sie dabei sicherlich in Panik geraten sein musste, hat unsere immer ruhige Mutter ihre Stimme wahrscheinlich nur ganz leicht erhoben und gesagt: „Hey, das ist nicht mein Kind.“
Sie hatte ihre eigene Art, diese Demütigungen mit Gelassenheit hinzunehmen – eine der vielen Eigenschaften, in denen sie das genaue Gegenteil unseres Vaters war. Schlussendlich brachten die Schwestern ihr meinen Bruder. Jahre später erzählte sie uns, dass die Babys auf der Station alle so ruhig gewesen seien und man kaum eines weinen gehört habe – mit Ausnahme meines Bruders natürlich, der nicht aufhörte zu weinen. Er startete wie eine Rakete, noch nicht einmal 24 Stunden auf der Welt, und war schon der Lauteste von allen, und natürlich steckte sein Geschrei die anderen Neugeborenen an. Nur mein Bruder konnte die Station so auf Trab halten. Vom Tag seiner Geburt an war Muhammad laut.
In den letzten fünfeinhalb Jahrzehnten war mein älterer Bruder „Muhammad“ für mich, doch als er das Licht der Welt erblickte, nannten ihn unsere Eltern nach meinem Vater – Cassius Clay Marcellus Senior. Er wurde am 17. Jänner 1942 geboren, 18 Monate vor mir. Unser Vater war recht angetan von Rudolph Valentino, dem Hollywoodstar, und beschloss, mich nach ihm zu benennen, Rudolph Arnett Clay. Für meinen Bruder war ich immer Rudy, und er war für mich und den Rest der Familie Gee, wegen seiner ersten Worte, die er sprach: „Gee-gee.“ Er sagte „Gee-gee“, wenn er hungrig war, seine Windeln gewechselt werden mussten oder er nur nach etwas Aufmerksamkeit und Zuwendung verlangte. Als er sich 1964 auf Muhammad umbenannte, nahm ich den Namen Rahaman an, doch unter Familienangehörigen hieß er immer noch Gee, und selbst heute nennen wir ihn noch so. Unseren Vater nannten wir Cash, und Mom war Bird, da sie immer in so ein wunderschönes Lachen ausbrach, wenn Vater für sie sang, sie neckte oder ihr Witze erzählte.
Unsere Mutter war am 12. Februar 1917 als Odessa Lee Grady geboren worden. Ihr Vater, John Grady, war zur Hälfte weiß, da er eine farbige Mutter und einen weißen irischen Vater hatte. Er war 1877 aus einer kleinen irischen Stadt namens Ennis nach Amerika gekommen. Nach einer langen und gefahrvollen Reise über den Atlantik traf und heiratete er eine befreite Sklavin. Mit innerer und äußerer Schönheit gesegnet, hatte unsere Mutter ein sehr sanftes und liebevolles Auftreten. Aufgrund ihres kräftigeren Körperbaus und der hellen Hautfarbe wurde sie oft für eine weiße Frau gehalten, sogar zu jener Zeit, in der die Hautfarbe eine wichtige Rolle im Leben der Menschen und den Möglichkeiten, die sie hatten, spielte.
Überhaupt war es eine Seltenheit, unsere Mutter verärgert oder aufgebracht zu sehen. Immer gut aufgelegt, war da immer ein Funkeln, das Mutter zu einer so umgänglichen Person machte. Sie behandelte andere mit Würde, und diese Werte gab sie auch an Muhammad und mich von frühster Kindheit an weiter. Wir wurden gelehrt, anderen Menschen freundlich zu begegnen, uns gut zu benehmen und ältere Menschen zu respektieren, egal woher sie kamen. Zweifellos erbte mein Bruder seine freundliche und generöse Seite von unserer Mutter.
Mutter legte aber auch großen Wert auf Ordentlichkeit. Sie zog uns immer gut an, doch ihre Ansprüche galten auch für unser Heim. Zu Hause sorgte sie dafür, dass wir unsere Hausarbeiten erledigten – jeden Morgen mussten wir unsere Betten machen und unsere Schmutzwäsche in den Wäschekorb legen, bevor wir aus dem Haus gingen. Reinlichkeit wurde von jedem Familienmitglied erwartet, egal ob jung oder alt. Sie hatte auch keinen Favoriten. Obwohl Muhammad der Erstgeborene war, kann ich offen sagen, dass Mutter uns beide gleich liebhatte und keinen dem anderen gegenüber bevorzugte.
Unser Vater war in vielen Belangen das genaue Gegenteil von Mutter. Er war ein talentierter Künstler, der als Schildermaler in Louisville und Umgebung arbeitete, und er erzählte uns einmal, dass er, als er in den frühen 1950er-Jahren mit dem Malen begann, erst der zweite Farbige in der Stadt war, der Tankstellenschilder malte. Zuerst malte Vater nur in der farbigen Nachbarschaft, doch nach einiger Zeit und guter Mundpropaganda fragten auch immer mehr Weiße nach seinen Diensten – und dass, obwohl es zu dieser Zeit noch Rassentrennung in der Stadt gab. Sogar Bilder von Jesus Christus, die in vielen Kirchen Louisvilles hingen, stammten von Vater. Sein Name war überall in der Stadt zu finden.
Muhammad und ich waren seine größten Fans und absolut fasziniert von seinen Gemälden. Wir sahen dabei zu, wie seine Bilder entstanden, und bewunderten sein Talent so sehr, dass wir auch malen wollten wie er. Er war später meine Inspiration, als ich mit der Malerei begann, auch wenn ich nie ganz sein Niveau erreichte, wie ich meine.
Er sagte zu meinem Bruder: „Du solltest Anwalt oder Doktor werden“, doch schlussendlich waren es Vaters andere Talente, die Muhammed während seiner Laufbahn nachleben würde. Vater war ein natürlicher Schauspieler und liebte es, zu singen oder zu tanzen. Er hatte dieses gewisse Etwas, das einen Showman ausmacht, und er ahmte die Stars seiner Zeit nach. Dazu übte er immer wieder seinen Gesang zu Hause. Etwas anderes, wofür mein Vater bekannt wurde, war sein extravaganter Kleidungsstil.
Dieser adrette, dunkelhäutige und gut aussehende Mann zog seine frisch polierten Schuhe, seine immer eng anliegende Hose und ein frisch gebügeltes Hemd an und besuchte die Jazz Clubs der Umgebung, wo er bis in die frühen Morgenstunden tanzte. Er hatte diese Art, besonders schnell zu sprechen, so als ob er es eilig hätte, zu sagen, was er sagen wollte.
„Cassius, sprich langsamer. Ich versteh kaum, was du sagst“, sagte Mutter zu ihm, ohne zu wissen, dass die Art, wie die Worte mit 100 Stundenkilometern aus dem Mund meines Vaters kamen, der Karriere meines Bruders einmal sehr zugutekommen würden.
Muhammed und ich waren immer der Meinung, dass unser Vater eine Karriere im Showbusiness hätte machen können, doch er meinte, dass es die Rassenschranke sei, die ihn davon abgehalten habe, richtig Erfolg zu haben, denn die Chancen für Farbige waren zu jener Zeit nicht existent.
Unglücklicherweise hatte Vater auch den Ruf, gerne zu trinken und ein Schürzenjäger zu sein. Er war ein Playboy, und Mutter musste sein Verhalten für den Großteil ihres Lebens tolerieren. Manchmal konnten wir unsere Eltern dabei beobachten, wie sie miteinander stritten, und Muhammad hasste es. Er versteckte sich dann unterm Bett oder kroch unter die Decke. Dabei umarmte er mich liebevoll und hielt seine Arme schützend um mich, seinen kleinen Bruder. Nichtsdestotrotz liebten unsere Eltern einander, auch wenn sie so unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Im Unterschied zu unserer Mutter war unser Vater sehr ernst und nicht einer dieser Väter, von denen viel Liebe ausging. Doch am schlimmsten war es, wenn er betrunken war und begann, mit Mutter zu streiten und ihr gegenüber gewalttätig wurde. Im Großen und Ganzen war er aber ein freundlicher Mann, der danach strebte, die Menschen korrekt zu behandeln, doch diese Momente, in denen unsere Eltern stritten, hinterließen einen bleibenden Eindruck bei Muhammad und mir, und ich denke, dass wir beide uns deswegen immer so bemühten, die Frauen in unserem Leben besser zu behandeln.
Eine Sache, die unsere Eltern allerdings gemeinsam hatten, war ihr Glaube. Sie waren beide überzeugte Christen und lebten nach der Bibel. Ich erinnere mich, wie Mutter mich und Muhammad jeden Sonntag anzog und mit uns zur Morgenmesse ging, um Reverend Wilson zuzuhören, wie er das Evangelium predigte. Obwohl sie uns zu Hause mit Liebe und Freundlichkeit überschüttete, war unsere Mutter nicht der Typ, der seine Gefühle offen in der Kirche mit Schreien und Rufen zur Schau stellte, so wie es andere Gläubige taten. In der Öffentlichkeit war sie immer eine ruhige und stille Dame, auch wenn sich davon nur sehr wenig auf ihre beiden Söhne übertrug.
Als Muhammad noch klein war, konnte er nie stillsitzen. Er hatte den Drang, immer aktiv zu sein. Bei jeder Gelegenheit, die er bekam, redete er dazwischen und hatte auch dann seinen Mund offen, wenn es keinen Grund dafür gab. Er aß und stopfte das Essen nur so in sich hinein und sagte zu Mutter: „Ich will noch mehr.“
Im Alter von fünf Jahren spielte er mit den Nachbarskindern und stand auf einer kleinen Plattform wie ein Anführer, der zur Menge spricht – mit mir im Schlepptau. Ich folgte ihm, so schnell es mein damals dreijähriger Körper zuließ. Unsere Mom sagte immer, sie habe schon damals gesehen, dass mein Bruder sich nie damit zufriedengeben würde, im Hintergrund zu bleiben. Er war geradezu dafür prädestiniert, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und immer gehört zu werden. Er war laut, stolz und bestimmt. Ich begann, einen geborenen Anführer in ihm zu sehen, jemanden, dem ich überall hin folgen würde.
Glücklicherweise gab es für zwei Jungs wie uns, die so vielseitige Interessen hatten, damals nicht viele Gelegenheiten, in echte Schwierigkeiten zu geraten. Wir lebten in einem rauen Stadtviertel im südlichen Louisville, zogen aber etwa zwei Jahre nach meiner Geburt für kurze Zeit ans westliche Ende der Stadt zu unseren Großeltern und dann, 1947, vier Blocks weiter in die Grand Avenue 3302. Das ist das berühmte Haus, das als der Ort gilt, an dem Muhammad Ali aufwuchs. Anfangs war es hart in der Gegend, doch es gab noch viel schlimmere Plätze im West End, so dass man sagen kann, dass die Grand Avenue zu den besseren Wohngegenden in der Nachbarschaft zählte. Im Osten der Stadt lag das Stadtviertel Smoke Town, das richtig schlimm war, doch keines der farbigen Viertel in Louisville war so schlimm wie die Ghettos in den Großstädten, in denen Afroamerikaner auf bestimmte Viertel beschränkt waren und wo die Bevölkerungsdichte oft dem Drei- oder Vierfachen weißer Viertel entsprach und in denen große Arbeitslosigkeit herrschte. Die Nachbarschaft, in der wir aufwuchsen, bestand vorwiegend aus Afroamerikanern, doch es waren einige Anwälte und Ärzte darunter, und es gab sogar einige wenige weiße Familien, die hier wohnten.
An dieser Stelle möchte ich auch gleich mit einem weitverbreiteten Mythos aufräumen, der schon lange existiert, nämlich dass mein Bruder und ich aus der Mittelschicht kommen. Zugegeben, wir waren nicht die ärmste Familie in der Gegend – da gab es einige, die viel schlechter dran waren –, doch den Großteil unserer Kindheit in Louisville verbrachten wir am Rande der Armutsgrenze. Das ist die Wahrheit, und ich weiß es, denn wir erlebten es ja mit. Es war nicht einfach, immer wieder Geld aufzutreiben, und es gab immer wieder Zeiten, in denen wir nicht einmal ein Auto besaßen. Als wir dann endlich eines bekamen, war es bereits zehn Jahre alt oder mehr. Wenn es einmal dringend neue Reifen benötigte, hatte Vater oft Schwierigkeiten, das Geld für neue Reifen zusammenzukratzen. Unser Haus, ein Bungalow, war ein bescheidenes Gebäude mit zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer, mit einer kleinen Essecke und Küche sowie einem Badezimmer. Wir hatten einen kleinen Vorgarten und einen lang gezogenen Garten hinter dem Haus, der sich von der hinteren Veranda bis zu einer kleinen Gasse erstreckte. Dazu standen mehrere große Bäume in unserem Hinterhof, mit einem kleinen Teich, in dem ein Goldfisch schwamm. Es war sicher kein schlechter Platz zum Wohnen, doch es gab immer wieder Zeiten, in denen wir uns nötige Reparaturen im Haus nicht leisten konnten und damit leben mussten. So waren zum Beispiel unser Dach und die Mauern für mehrere Jahre in einem so schlechten Zustand, dass es ins Haus regnete. Die Veranda vorne am Eingang war schon bei unserem Einzug in einem so desolaten Zustand, dass sie beinahe auseinanderfiel. Vater versuchte, sie zu reparieren, doch es gab immer wieder andere Dinge, die wichtiger waren und wofür das Geld herhalten musste.
Auch die meiste Kleidung, die Muhammad und ich als Kinder trugen, kam von der Wohlfahrt oder wurde uns geschenkt. Wir trugen Leibchen und Schuhe aus zweiter Hand, die nicht mehr als einen Dollar kosteten. So gesehen würde ich Muhammads und meine Kindheit sicherlich nicht als ein Aufwachsen in der Mittelschicht bezeichnen. Obwohl unser Vater ein nicht ganz unbekannter Maler war und unsere Mutter als Putzfrau für einige weiße Familien arbeitete, war es trotz aller unserer Bemühungen nicht leicht, mit dem Geld auszukommen. Aber immerhin konnten uns unsere Eltern ernähren. Und auch wenn mein Bruder und ich kaum Geld hatten, nicht mit Geschenken überhäuft wurden und selten das bekamen, was wir wollten, so reichte es meist aus, dass wir einander hatten, um glücklich zu sein.
So teilten sich Muhammad und ich zum Beispiel ein Zimmer von fünf mal sechs Metern – wobei unsere Betten nebeneinanderstanden. Einige Kinder hätte das vielleicht gestört, doch wir wuchsen dadurch als Brüder noch enger zusammen. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht, bis wir einschliefen. Er erzählte mir, dass er von großen Dingen träumte und es einmal zu etwas bringen würde, und er erzählte mir, dass er reich und berühmt werden würde. Ich erinnere mich, dass er zu mir sagte, er würde Mutter und Vater ein großes neues Haus kaufen sowie einen nagelneuen Cadillac, und er selbst würde eine Viertelmillion Dollar auf dem Konto haben. Genauer gesagt, meinte er, dass diese Viertelmillion – es war immer diese Zahl – auf einem Sparbuch liegen würde, damit sich die Familie keine Sorgen machen müsse, wenn sie einmal in Not geraten würde. Viele Leute dachten, die Ambitionen meines Bruders seien nur Träumereien, doch ich war überzeugt, dass Muhammed der Auserwählte war. Ich wusste schon immer, dass er es zu etwas ganz Großem bringen würde.
Während Muhammad also über den Reichtum, den er einmal besitzen würde, tagträumte, verlor er nie seinen Sinn für Humor. Dieser Humor, für den er in seinem späteren Leben so bekannt war, zeigte sich schon in seiner Kindheit. Überhaupt machte es ihm viel Spaß, Leuten Streiche zu spielen – meist in unendlichen Varianten, die er sich für jeden einfallen ließ, von dem er glaubte, dass er darauf hereinfallen würde, aber ganz speziell für mich. Eines Tages kam ihm die grandiose Idee, mich dazu zu bringen, wie am Spieß zu schreien. Er band eine lange Schnur um die Vorhänge in unserem Zimmer. Um meine Aufmerksamkeit zu erregen, zog er an der Schnur, während er gemütlich auf seinem Bett lag.
„Hey, Rudy“, sagte er, „in unserem Haus spukt ein Geist!“
Das Nächste, was unsere Eltern mitbekamen, war, dass ich sie schreiend aufweckte, um ihnen zu sagen, dass es bei uns spukte. Vater sprang auf und rannte in unser Zimmer, um nachzusehen, was los war, und durchschaute den Trick sofort.
„Cassius Junior, willst du wohl sofort damit aufhören, solche Scherze mit deinem kleinen Bruder Rudolph zu treiben!“, erinnere ich mich, ihn sagen hören.
Dabei war er noch ganz verschlafen, und er verwendete den vollen Namen meines Bruders, um zu zeigen, wie ernst es ihm war – nicht, dass dies Muhammad jemals abgeschreckt hätte, weiterzumachen.
„Ich habe dich richtig gut drangekriegt, Rudy“, wiederholte er immer wieder und bog sich dabei vor Lachen. Das hätte sein Slogan sein können.
Muhammad bewunderte alles an unserer Nachbarschaft. Unsere Nachbarn waren insgesamt recht nett, und die allgemeine Stimmung war die einer engen Gemeinschaft. Doch das, was ihm am meisten gefiel, war, dass ihm die Umgebung unendlich viele Gelegenheiten bot, zusammen mit gleichgesinnten Kindern Unfug und Chaos zu stiften. Wie ich bereits erwähnt habe, war mein Bruder einer der Rädelsführer unter den Kindern in unserem Viertel, hochgekommen aufgrund der natürlichen Hierarchie, die sich immer einstellt, wenn genügend Kinder zusammenkommen. Ich war dabei sein permanenter Kumpan, doch ich überließ es immer ihm, zu führen, während ich mich im Hintergrund hielt, vor unserem Haus auf der Veranda saß oder in dem kleinen Restaurant um die Ecke. Es gab auch eine andere Ecke, abseits der wachsamen Augen unserer Eltern, wo wir spielten und würfelten.
Klar hatten wir auch Spielzeug, wenn unsere Eltern es sich leisten konnten, und spielten damit, aber wie andere Kinder bastelten wir uns auch eigenes. So banden wir eine Schnur um das Ende eines Besens, nahmen den Stiel zwischen die Beine, und schon hatten wir ein Pferd und rannten unter lautem Gejohle die Straße auf und ab, als gäbe es keine anderen Sorgen auf dieser Welt. Und wie alle Jungs spielten wir natürlich auch Cowboy und Indianer mit den anderen Kindern. Muhammad, der wie immer alles bestimmte, bestand darauf, der Cowboy zu sein, und sagte, dass ich den Indianer spielen musste. Damals wurden die Cowboys in den Westernfilmen immer als die Guten porträtiert, und die Indianer waren die Bösen. Mein Bruder wollte immer der Gute sein, denn die Guten gewannen immer.
Natürlich war das alles nur Spiel und Spaß, aber bereits in jungen Jahren begannen mein Bruder und ich, miteinander zu konkurrieren. Da wir beinahe gleich alt waren, wetteiferten wir bei fast allem, was wir taten. Vor allem Muhammad wollte bei jedem Spiel oder Wettbewerb, bei dem er mitmachte, gewinnen, und es machte keinen Unterschied, ob es darum ging, wer schneller war oder höher springen konnte, oder ob wir mit Murmeln oder Verstecken spielten. Verlieren war keine Option. In den 1950er-Jahren war Pro Wrestling sehr beliebt, und auch unsere Eltern waren davon begeistert und sahen sich immer die Kämpfe im Fernsehen an, zumindest dann, wenn der Fernseher in unserem Haus funktionierte. Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass mein Bruder alles nachspielen wollte, was die Wrestler im Fernsehen taten – auf meine Kosten natürlich.
Das Ganze konnte auch schon einmal etwas ausarten, wenn wir versuchten, uns gegenseitig im Wohnzimmer niederzuringen, aber es war bei Weitem keine einseitige Sache. Als Kind war ich immer etwas größer und kräftiger gebaut als er, der viel schlanker und recht schlaksig war. Bevor er mit dem Boxen anfing, war mein Bruder eigentlich nie wirklich besonders daran interessiert, Sport zu betreiben – und es gab viele andere Kinder, die körperlich weit beeindruckender aussahen als er, auch wenn er schnell und ehrgeizig war.
Was den Sport anbelangt, so konnte er sich nie so recht mit Basketball oder Baseball anfreunden, jenen Sportarten, die fast alle Jungs in unserem Alter so oft wie möglich spielen wollten. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Haus unseres Freundes Adrian, gab es ein brachliegendes Areal, auf dem wir uns immer trafen, und obwohl Muhammad sich nicht besonders für organisierten Sport interessierte, spielte er trotzdem aus Spaß mit. Allerdings war er kein Fan von Tackle Football, denn es erschien ihm ironischerweise als zu brutal. Dafür spielte er gerne die entschärfte Variante, Touch Football, da er ein sehr guter und beweglicher Läufer war, der sich unseren Versuchen, ihn zu berühren und damit zu stoppen, immer wieder entzog, genauso wie er später einmal um die besten Boxer seiner Generation herumtänzelte. Und schon damals auf dem Spielplatz begann er zu prahlen. Der Nervenkitzel, wenn er einer Herausforderung gegenüberstand, schien einen Schalter bei ihm umzulegen, und er rief: „Ich bin zu schnell für dich!“, während er über die Wiese sprintete. „Du kannst mich nicht einholen! Du kannst mir zusehen, wie ich den Touchdown mache!“
Und dieses Selbstbewusstsein konnte er dank seines erstaunlichen, natürlichen Bewegungstalents meist auch rechtfertigen.
Glücklicherweise waren Muhammad und ich meist im selben Team, genauso wie wir den Großteil unseres restlichen Lebens zusammen verbrachten, und diese Sommertage in unserer Kindheit blieben uns immer in Erinnerung. Damals waren wir einfach arglose Kinder mit grenzenloser Energie. Muhammad sorgte immer für Stimmung und versuchte allem, was er anfasste, eine Portion Begeisterung einzuhauchen. Im Gegenteil zu mir, der alles meist viel zu ernst nahm – zumindest, wenn man meinem Bruder Glauben schenken durfte. Obwohl ich mich eigentlich mit meiner Rolle abgefunden hatte – immerhin war ich 18 Monate jünger –, gab es Momente, in denen dann doch eine gewisse Frustration hochkam. Aber selbst dann wurde es nur sehr selten handgreiflich. Mutters stilles Missfallen und Vaters etwas handfestere Herangehensweise verhinderten gröbere Auseinandersetzungen. Abgesehen davon war dieser Konkurrenzkampf zwischen uns nur von Vorteil für mich. Muhammad wollte gemocht und anerkannt werden. Das war ihm schon mit der Muttermilch mitgegeben worden. Immer wieder versuchte er, andere zu beeindrucken und sich von der Gruppe abzuheben. Es gab jedoch eine Sache, bei der ich meinen Bruder ausstechen konnte, und wie es das Schicksal wollte, war es genau das, was ihn am meisten ärgerte.
Einfach gesagt: Es fiel mir immer leicht, mit Mädchen zu sprechen. Ja, das klingt vielleicht überraschend, aber als wir Teenager waren, interessierten sich die Mädchen mehr für mich als für meinen Bruder. Und ich hatte bereits lange vor ihm Freundinnen. Die Mädchen in der Nachbarschaft und in der Schule kannten uns beide, und Muhammad himmelte sie still aus der Ferne an, denn es fehlte ihm das Selbstvertrauen, sie anzusprechen. Wenn es darum ging, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würden, war er wie gelähmt. Egal wie sehr er sich bemühte, seine Schüchternheit zu verstecken, sie war immer zu bemerken. Trotz seines typisch dreisten Verhaltens und seines entwaffnenden Lächelns war ein Zurücklächeln alles, was er bekam, zumindest in diesen prägenden Jahren unserer Jugend. Es klingt vielleicht recht eigenartig, aber damals sahen einige Mädchen meinen Bruder als das, was man heute als „Nerd“ oder Sonderling bezeichnet – zumindest sagten mir das einige, mit denen ich sprach, denn er spielte kein Football oder Basketball, die Sportarten für „richtige“ Männer. Es lag definitiv nicht an seinem Aussehen. Es hatte mehr mit seiner Persönlichkeit zu tun, die hinter dem draufgängerischen Äußeren mit ihren eigenen Stolpersteinen zu kämpfen hatte. Seine Versuche, dies zu kompensieren, machten die Situation meist noch schlimmer für ihn. So lief er neben dem Schulbus her und rief die Namen von Mädchen und Jungen, und die meisten Mädchen versanken in ihren Sitzen und schämten sich mehr für ihn als für sich selbst.
Muhammad konnte es nicht leiden, dass ich die Aufmerksamkeit der Mädchen auf mich zog, und damals war dies vielleicht das Einzige, was einen Keil zwischen uns als Brüder hätte treiben können. Auf dem Heimweg von der Schule, zum Beispiel, stieg ich meist früher aus dem Bus, um meine Freundin nach Hause zu begleiten und noch eine Weile bei ihr abzuhängen. Die folgende Szene spielte sich nicht nur einmal ab: Meine Freundin und ich hingen also bei ihr zu Hause ab, bis wir ein Klopfen an der Tür hörten. Als wir öffneten, stand da mein Bruder mit unschuldigem Gesicht.
„Hey, Rudy, Mom sagt, du sollst sofort nach Hause kommen oder es gibt Probleme“, war der Standardsatz. „Sie hat mir gesagt, ich soll dich holen gehen und du sollst dich sofort auf den Weg machen!“
Da ich Angst davor hatte, Probleme zu Hause zu bekommen, entschuldigte ich mich bei meiner Freundin, rannte so schnell ich konnte die etwa vier Häuserblocks nach Hause und dachte immer darüber nach, weswegen ich Probleme bekommen sollte.
„Was ist denn los, Mom?“, fragte ich sofort, als ich ins Haus kam, nur um in das ahnungslose Gesicht unserer Mutter zu blicken, die ganz überrascht schien, dass ich da war, und keine Ahnung hatte, wovon ich sprach.
Immer wieder und wieder fiel ich auf Muhammads Masche herein, und er wiederholte diese Scharade, wann auch immer er sich danach fühlte. Ich habe ihn mehr als einmal beschuldigt, das alles nur aus Eifersucht zu tun. Ein paarmal stritten wir auch deswegen. Das war die einzige Zeit in unserer Jugend, in der mich mein Bruder wirklich zornig machte. Das war kein Spiel, in dem er mich schlagen konnte, und es muss ihn wirklich geschmerzt haben, seinem kleinen Bruder dabei zuzusehen, wie er ihn in einer Sache, die er nicht so ganz verstand, so ausstach. Trotzdem, egal wie hitzig unsere verbalen Auseinandersetzungen waren, es gab keine Phase während unserer gesamten Kindheit, in der wir uns deswegen geprügelt hätten. Kein Mädchen konnte unser Verhältnis zueinander kaputt machen.
Ob wir nun hinter Mädchen herjagten, Touch Football spielten oder uns selbst Spiele ausdachten – unsere Eltern hatten eine goldene Regel, die mit aller Strenge durchgesetzt wurde und die lautete, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein mussten. Das war nichts Ungewöhnliches zu jener Zeit, als Kinder meist frühmorgens das Haus verließen und den ganzen Tag auf der Straße verbrachten, wo sie allerlei Unfug trieben, bevor sie bei Sonnenuntergang wieder nach Hause zurückkehrten. Die meisten Leute in unserem Viertel konnten sich den Luxus einer Armbanduhr nicht leisten. Mein Vater hatte allerdings eine einfache Lösung für das Problem: „Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wie spät es ist. Schau lieber, dass du wieder zu Hause bist, bevor die Straßenbeleuchtung angeht, sonst gibt’s Saures.“
Also spielte sich immer das Gleiche ab. Sobald es dunkel wurde, ging die Straßenbeleuchtung an, und wir liefen alle nach Hause. Doch nicht immer ging es sich rechtzeitig aus. Wenn wir zu spät kamen, wurden wir nach guter alter Tradition mit einer Tracht Prügel im Badezimmer bestraft. Muhammad ging immer als Erster, während ich vor der Tür wartete, bis Vater mich hineinrief, nachdem er mit meinem Bruder fertig war. Muhammad hatte nichts für Vaters harte Bestrafung für unser Zuspätkommen und andere Vergehen übrig, doch der hatte seine eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu regeln waren. Man kann sagen, Vater nahm seine Pflicht, uns Grenzen zu setzen, sehr ernst. Diese Art, wie er seine Stimme erhob und einen gemeinen Blick aufsetzte, der sich über sein Gesicht zog und die bevorstehende Bestrafung ankündigte.
Meist sah er, wie wir aus Furcht vor der Bestrafung schon ganz steif dastanden, doch da war es bereits zu spät. Regeln waren dazu da, um befolgt zu werden, und Vater stellte sicher, dass wir sie auch ernst nahmen. Vielleicht war es das und einige andere Dinge, warum Muhammad am Ende seiner Teenagerjahre auf Distanz zu unserem Vater ging. Damit meine ich nicht, dass sich die beiden zerstritten hätten, aber dieses spezielle Verhältnis, das sich zwischen Vätern und Söhnen oft bildet, war bereits verloren, bevor es wachsen konnte.
Gegenteilig zu dem, was so einige Biografen schrieben, würde ich niemals sagen, dass unsere Kindheit in Louisville von häuslicher Gewalt geprägt war. Erstens tat Vater niemandem absichtlich und grundlos weh. Die meiste Zeit über dachten Muhammad und ich nicht einmal an seine Vorstellung von Disziplin, denn wir brachen die Regeln immer wieder aufs Neue und verschwendeten keinen Gedanken an die Konsequenzen. Natürlich disziplinierte unser Vater uns hin und wieder mit einer Tracht Prügel, doch in den 1940er- und 1950er-Jahren war das ein weithin akzeptiertes und als notwendig angesehenes Mittel. Kindern den Hintern mit dem Gürtel zu versohlen, war sicherlich nichts Außergewöhnliches in der afroamerikanischen Gemeinde, vor allem wenn das Brechen von Regeln ernste Konsequenzen haben konnte. Im Nachhinein erkannte Muhammad, dass Vater es nur gut meinte, und akzeptierte, dass es nur zu unserem Besten gewesen war. Denn es war wirklich gefährlich, spät abends noch unterwegs zu sein, vor allem in unserer Gegend, und egal was er sich sonst noch dabei dachte, unser Vater wollte nicht, dass seine Kinder in die üblen Dinge, die nachts auf den Straßen passierten, verwickelt wurden. Schon damals waren Drogen ein Problem, genauso wie Raubüberfälle, Schlägereien und brutale Messerstechereien, und als Vater zweier schwarzer Jungs hatte er noch viel mehr Sorgen, die er sich machen musste. In den 1950er-Jahren gerieten in einigen Teilen der USA die Vorurteile Farbigen gegenüber völlig außer Kontrolle. Die Gewalt, die von verschiedenen rassistischen Gruppierungen angezettelt wurde, war speziell in den Südstaaten weitverbreitet, und Louisville war nicht weit davon entfernt. Als Jugendlichen wurde es Muhammad und mir schnell bewusst, dass die Tatsache, dass wir schwarz waren, uns anders machte. In unserer Stadt versuchten die Schwarzen, auf ihrer Seite zu bleiben und sich sozusagen in Selbstisolation zu begeben. Wir hatten so gut wie keine Probleme in unserem Viertel, doch in anderen Gegenden wurde man immer mit seiner Hautfarbe konfrontiert. Die Lage war sehr angespannt, und Schwierigkeiten lauerten an jeder Ecke.
Vor allem eine Geschichte zeichnet ein gutes Bild, wie Diskriminierung in unserer Jugend als etwas Alltägliches akzeptiert wurde. Als Muhammad acht war, nahm Mutter ihn mit in die Stadt. Als sie wieder nach Hause kamen, liefen Tränen über seine Wangen. Es stellte sich heraus, dass er durstig gewesen und vor einem Laden gestanden war und weinend um Wasser gebeten hatte – nur, dass der Laden Farbige nicht bediente. Mutter nahm ihn bei der Hand, ging in den Laden und bat die Verkäuferin um ein Glas Wasser, doch die Frau – so erzählte Mutter später – hatte Angst. Sie erzählte unserer Mutter, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn sie „Neger“ bediene. Da stand also ein kleiner, schluchzender Junge, der weinte und nur um ein wenig Wasser bat, um seinen Durst zu stillen, und seine Mutter konnte ihm nicht einmal Wasser in einem Laden in seiner Heimatstadt kaufen. Der Vorfall gipfelte darin, dass ein Wachmann zu Mutter und Muhammad ging und sie aufforderte, den Laden zu verlassen, damit die Situation nicht noch weiter eskaliere. Mutter vermied Konfrontationen und machte auch kein großes Aufheben darum, doch dieser und andere Vorfälle erinnerten meinen Bruder und mich permanent daran, dass wir im Prinzip nur zweitklassige Bürger in unserer eigenen Stadt waren.
Unsere Hautfarbe bestimmte, wo wir hin essen gehen konnten, wo unser Vater arbeiten konnte, in welchen Parks wir spielen durften und wie wir behandelt wurden, wenn wir gegen das Gesetz verstießen. Es war etwas, das Muhammad und ich lange mit uns herumschleppten. Obwohl Mutter für uns beide beinahe wie eine Weiße aussah, wurde sie im Alltag wie eine Farbige behandelt, und selbst als wir uns daran gewöhnt hatten, konnten wir es nie akzeptieren. Vor allem Muhammad fragte unsere Eltern oft, warum Menschen mit schwarzer Hautfarbe so viel Leid ertragen mussten.
Es war zum Teil dieses politische Klima, das – selbst als wir bereits Teenager waren – dafür verantwortlich war, dass Muhammad und ich uns allein nie weit weg vom West End begaben. Wir waren von unseren Eltern und anderen Leuten aus unserer Community gewarnt worden und wussten, was uns unter Umständen in einer Stadt zustoßen konnte, die so weitgehend „aufgeklärt“ war wie Louisville. Die einzigen Schwierigkeiten, in die wir gerieten, waren weiter weg vom West End – wenn wir uns in den falschen Teil der Stadt, dorthin, wo nur Weiße lebten, wagten. Trotzdem, die Tatsache, dass wir so eingeschränkt waren, war ein Stachel, der sehr tief saß. Es kam nicht selten vor, dass einige weiße Jungs in ihren Autos vorbeifuhren und rassistische Beleidigungen brüllten. „Hey, Nigger, was machst du hier?“, riefen sie uns zu und versuchten, uns damit zu provozieren und in eine Situation zu bringen, die schnell gefährlich werden konnte. Natürlich machte es uns was aus, doch mein Bruder und ich taten unser Bestes, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Schließlich waren wir uns der brutalen Schlägerattacken und Lynchmorde, die in Gegenden wie Mississippi noch immer stattfanden, bewusst. Der tiefe Süden war zwar eine andere Welt, doch es war eine Welt, die uns unsere Eltern immer wieder in Erinnerung riefen, indem sie uns Bilder des entstellten Gesichts von Emmet Till zeigten, dessen Mörder freigesprochen wurden, und uns damit vor Augen hielten, wie es uns ergehen könnte, wenn wir aus Hass und Wut zurückschlagen würden.
Trotz all dieser Spannungen und auch wenn er seiner eigenen Frustration immer wieder einmal Luft verschaffen musste, hat Muhammad nie jemanden schikaniert. Das kann ich bezeugen. Ja, er war schon auch ein Großmaul, und er hatte definitiv die körperlichen Voraussetzungen und das Können, seinen Worte Nachdruck zu verleihen, aber meines Wissens nach gab es niemanden in unserer Schule oder Gegend, der jemals behauptet hätte, dass mein Bruder ein gemeiner Kerl gewesen wäre. Ich habe niemals gesehen, dass er jemandem etwas getan hätte, der es nicht selbst herausforderte. Wir waren so eng miteinander, dass man sein letztes Geld darauf verwetten hätte können, dass ich mit von der Partie war, egal wohin er ging. Unsere Eltern waren ziemlich deutlich, als sie meinten, dass wir immer aufeinander achtgeben müssten, wenn sie nicht dabei waren, egal wohin wir gingen. Muhammad war stolz darauf, dass ich sein kleiner Bruder war. Er war mein Beschützer, und alle Kinder, die uns kannten, wussten genau, wie nahe wir uns standen. Sie wussten, dass sie sich nicht einfach mit einem Bruder anlegen konnten. Nein, da musstest du dich schon mit beiden anlegen. Wenn es jemand auf Muhammad abgesehen hatte oder versuchte, sich mit ihm anzulegen, war ich sofort zur Stelle und verteidigte ihn wie ein Tiger, auch wenn ich wusste, dass ich den Kampf verlieren würde. Man konnte nicht gegen meinen Bruder kämpfen, ohne dass ich mich einmischen würde, und Muhammad ging dazwischen, wenn jemand versuchte, mir etwas zu tun. Natürlich wurden wir so in einige Raufereien verwickelt, und als Muhammad dann zwölf war, erkannten wir beide, dass wir anscheinend ein Talent fürs Kämpfen hatten.