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DER BEGINN EINES TRAUMS

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Es war im späten Oktober 1954, als das Fahrrad meines Bruders gestohlen wurde.

Das Rad, ein weiß-rotes Schwinn,

war ein Weihnachtsgeschenk gewesen und sollte eigentlich für uns beide sein, doch mein Bruder fuhr weit öfter damit als ich. Damals fuhren Kinder überall mit ihren Rädern hin – zum Laden ans Eck, aber auch zusammen mit Freunden durch die Stadt auf der Suche nach Abenteuern aller Art. An jenem Tag hatten wir erfahren, dass eine Heimmesse in der 4th Street im Zentrum von Louisville stattfand, und Muhammad und ich sowie ein weiterer Freund machten uns auf den Weg dorthin, um uns das Treiben anzusehen. Wir stellten unsere Fahrräder an einem Geländer neben dem Ausstellungsgebäude ab, wo wir dachten, dass sie sicher wären, und gingen dann hinein, um einen vergnüglichen Nachmittag zu verbringen. Und wir hatten auch unseren Spaß. Es gab Stände mit Haushaltswaren und Kleidung, aber auch Kioske, die Essen und Snacks anboten, sowie schicke Autos. Zur Unterhaltung der Besucher, die mit ihren Familien gekommen waren, gab es dazu auch Livemusik.

Nach etwa drei Stunden beschlossen wir, wieder zu gehen und heimzufahren. Wie schon erwähnt, war es bei uns zu Hause eine der wichtigsten Regeln, rechtzeitig wieder daheim zu sein. Wir gingen also zurück zu unseren Fahrrädern, doch als wir dort ankamen, waren sie verschwunden – gestohlen. Geschockt und aufgebracht begann mein Bruder zu weinen. Einerseits war es ein Weihnachtsgeschenk unserer Eltern, doch vielmehr hatte Muhammad Angst davor, dass uns unser Vater eine ordentliche Tracht Prügel erteilen würde, wenn er von unserer Nachlässigkeit erfuhr. Als dann auch andere Leute aus dem Gebäude kamen, schluckten wir unsere Tränen hinunter und fragten, wo wir einen Polizisten finden könnten. Ein Mann zeigte auf ein Gebäude nebenan, und so machten wir uns auf den Weg, um den Diebstahl zu melden.

Noch immer mit Tränen in den Augen betraten wir einen großen Kellerraum, und das Erste, was wir hörten, waren dumpfe Schläge und Ächzen sowie das Geräusch von Sprungseilen, die auf den Boden klatschten, und von Fäusten in Boxhandschuhen, die auf schwere Sandsäcke einschlugen. In dem Raum befand sich etwa ein halbes Dutzend Männer und ältere Burschen, die verschiedene Boxübungen machten. Das war keine Polizeistation, sondern ein Fitnessstudio, doch auf der anderen Seite des Raums stand ein Mann mittleren Alters in einer Polizeiuniform.

Sein Name war Joe Martin. Er war gerade dabei, einigen Burschen die Feinheiten einer guten Boxstellung zu erklären, als wir zu ihm hinübergingen. Muhammad hatte sich nun gesammelt und sprach ihn an: „Entschuldigung, mein Herr, wir waren gerade oben bei der Ausstellung, und als wir wieder rauskamen und zu unseren Fahrrädern gingen, waren sie nicht mehr da. Jemand hat sie gestohlen. Können Sie uns vielleicht helfen, sie wiederzubekommen?“

Martin, der wie ein Gentleman aussah, nahm die Beschreibung der gestohlenen Räder auf und sagte uns, er würde eine Anzeige schreiben. Allerdings ließ er uns nicht gehen, ohne für sich selbst Werbung zu machen: „Übrigens“, sagte er nebenbei, als der offizielle Teil erledigt war, „warum kommt ihr beiden Jungs nicht morgen noch einmal vorbei, sagen wir gegen sechs Uhr abends, dann könnt ihr boxen lernen.“

Plötzlich hatte Muhammad, der noch immer ganz verweint aussah, dieses herausfordernde Funkeln in den Augen und erklärte diesem imposanten Polizisten, dass er dem Dieb eine ordentliche Abreibung verpassen würde, wenn er ihn zu fassen bekäme. Martin, der, wie wir mit der Zeit lernen sollten, ein sehr geduldiger Mann war, hörte sich den Schwall an Drohungen an, bevor er meinem Bruder vorschlug, er solle zuerst lieber kämpfen lernen, vor allem boxen, bevor er überhaupt über so etwas nachdenken könnte. Wir wussten nur wenig über das Boxen und hatten uns nie ernsthaft überlegt, diesen Sport zu betreiben, doch wie sich herausstellen sollte, war Muhammad so verzaubert von dem, was er da sah, von dem Geruch und der Atmosphäre in der Boxhalle, dass er darüber beinahe sein Fahrrad vergaß. Martin hatte die Anzeige aufgenommen und wiederholte noch einmal die Öffnungszeiten des Boxstudios und gab Muhammad ein Mitgliedsformular mit nach Hause. Noch immer um den Verlust seines Fahrrads besorgt, aber ganz aufgeregt, diesen Sport einmal auszuprobieren, nahm mein Bruder das Stück Papier freudig entgegen.

Um es gleich vorwegzunehmen – das Fahrrad tauchte nicht mehr auf. Was allerdings etwas überraschend war, dass unsere Eltern Verständnis zeigten, als wir ihnen von dem Diebstahl erzählten, und unser Vater unsere Nachlässigkeit ignorierte. Das Interesse meines Bruders am Boxen bestand allerdings weiter, und so wurde er Mitglied in Joe Martins Boxstudio, und ich folgte ihm, so wie immer.

Was die meisten Leute nicht wissen, ist, dass auch einer unserer jüngeren Cousins ein Boxer war. Er boxte bereits lange, bevor wir damit begannen. Noch vor Martins Angebot hatte er bereitwillig angeboten, Muhammad das Boxen beizubringen, denn er wusste um das Talent meines Bruders, in Schwierigkeiten zu geraten, und wollte, dass er sich verteidigen könnte, wenn es zu Auseinandersetzungen mit anderen Kindern käme. Es war auch unser Cousin, der uns anfangs ins Boxstudio begleitete und dafür sorgte, dass wir unser Interesse am Boxen nicht verloren und uns nicht durch irgendwelche Kindereien ablenken ließen. Auch wenn unser Cousin bestrebt war, Muhammad zum Boxen zu bringen, so war er selbst kein besonders guter Boxer und gab den Sport schließlich auf. Mein Bruder und ich blieben aber weiter dabei.

Ich erinnere mich noch deutlich an Muhammads ersten Tag im Studio. Er sprang sofort ins kalte Wasser und stieg mit einem älteren Jungen in den Ring, da er dachte, er könne locker mit ihm mithalten, auch ohne Boxerfahrung. Doch mein Bruder brauchte keine Minute, um festzustellen, dass es nichts half, einfach wild um sich zu schlagen. Muhammad versuchte alles, um den anderen Jungen k. o. zu schlagen. Doch die überlegene Erfahrung seines Partners und dessen Schlagkraft bescherten Muhammad einige Sterne vor den Augen und eine blutige Nase. Martin gefiel die Begeisterung meines Bruders – dieser erste, schiefgegangene Ausflug in die sogenannte „süße Wissenschaft“ zeigte die Leidenschaft und das Herz, das mein Bruder besaß.

In Martins Boxstudio, dem Columbia Gym, trainierten sowohl schwarze als auch weiße Boxer unter einem Dach. Trotz der Rassenprobleme in Louisville zu dieser Zeit brachte der Boxsport Menschen unterschiedlicher Hautfarbe auf eine Art und Weise zusammen, die es sonst nur selten wo gab. In diesem Keller wurden alle gleich behandelt und trainierten unvoreingenommen miteinander. Als Muhammad in Martins Studio trainierte, zog er die Aufmerksamkeit eines Boxtrainers namens Fred Stoner auf sich. Stoner hatte selbst ein Boxstudio auf der anderen Seite der Stadt, wo eigentlich nur farbige Boxer trainierten. Auch wenn Muhammad loyal zu Martin war, so waren mein Bruder und ich bei unserem ersten Turnier, an dem wir teilnahmen, sehr von Stoners Schützlingen beeindruckt – ihre Schuhe und Shorts passten zu ihren Mänteln, und überhaupt sahen sie so aus, als ob gut für sie gesorgt wurde.

Trotzdem wollte Muhammad sein Verhältnis zu Martin nicht belasten, und so fand er einen Weg, mit beiden zu arbeiten – ohne dass einer der beiden etwas davon mitbekam. Wie üblich folgte ich meinem Bruder – etwas, in dem ich damals bereits sehr geübt war. Ich überließ Muhammad die Führung und klebte an ihm wie ein Magnet. Wir trainierten am frühen Abend zusammen in Martins Studio und fuhren dann in Stoners Keller für noch mehr körperliche und mentale Torturen. Aber es machte sich bezahlt. Jeder Trainer hat so seine Eigenarten, und verschiedene Stile und Tricks zu lernen, war am Anfang sehr hilfreich für unsere Entwicklung.

Meine Größe und Stärke und Muhammads schnelle boxerische Entwicklung halfen uns dabei, rasch die Rangliste in beiden Studios hochzuklettern. Wir trainierten beide sehr hart, doch ich muss zugeben, dass meine Selbstdisziplin im Vergleich zu der meines Bruders zu wünschen übrig ließ. Boxen wurde zu Muhammads Lebensinhalt: Er rannte neben dem Schulbus her und verzichtete auf Softdrinks in seinem Streben nach Erfolg. Ich machte mit, denn er war mein Bruder, und ich hing mit ihm ab, aber seine Leidenschaft fürs Boxen war um einiges stärker als meine. Er wollte es wirklich bis ganz oben an die Spitze schaffen und war gewillt, die nötigen Opfer dafür zu bringen. Er verschlang alles, was mit Boxen zu tun hatte. Er hatte sich in die „süße Wissenschaft“ verliebt und prahlte vor mir damit, wie er der Allergrößte sein und damit das Leben unserer Familie verändern würde. Das spielte von Anfang an mit. Muhammad, dem die Geldprobleme unserer Familie immer bewusst waren, wollte von Anfang an berühmt werden.

Dieser Traum vom vielen Geld sollte später einmal beinahe ironisch erscheinen – denn als er es schließlich zu Reichtum gebracht hatte, war ihm das alles ziemlich egal, und er verschenkte sein Geld, so als ob Reichtum etwas Unanständiges wäre. Doch in jener Zeit waren das Streben nach Reichtum und der Aufstieg unserer Familie aus der Armut eine wichtige Motivation für meinen Bruder. Andererseits, welcher Teenager wäre nicht davon inspiriert, ein Sportheld zu werden, berühmt zu sein und so viel Geld zu haben, wie er wollte? Meine Motivation war mehr das Geld und der Ruhm als das Streben nach Perfektion.


Es dauerte nicht lange, bis wir regelmäßig an Wettkämpfen teilnahmen. Die anderen Kinder in der Schule wussten, dass wir boxten, denn sie sahen uns im lokalen Fernsehen in der Sendung Tomorrow’s Champions, die Amateurkämpfe übertrug. Für jeden Kampf, die meistens von Joe Martin organisiert wurden, bekamen wir vier Dollar. Wie sich herausstellte, verfolgten auch die Leute aus der Nachbarschaft unsere Karriere als Amateurboxer, und nach nur wenigen Kämpfen waren wir so etwas wie lokale Promis in unserer kleinen Welt – speziell in der afroamerikanischen Community in der Umgebung. Was uns allerdings mehr überraschte, war die Tatsache, dass weiße Kinder, mit denen wir Kontakt hatten, sich nun freundlicher gegenüber Muhammad und mir verhielten, da sie wussten, wie beliebt wir waren. Als weißes Kind mit Vorurteilen warst du damals trotzdem beeindruckt, wenn du über Muhammad gelesen hast oder ihn kämpfen sahst.

„Hey, ich habe deinen Kampf gestern Abend im Fernsehen gesehen“, sagten die Kinder zu ihm auf der Straße, die gleichen Kinder, die ein oder zwei Jahre davor nicht einmal in unsere Richtung geblickt hatten.

Dadurch kam mein Bruder schon früh auf den Geschmack von Ruhm, lange bevor er dazu auserkoren wurde, unser Land bei den Olympischen Spielen zu vertreten, was ihn schließlich weit über die Grenzen unserer lokalen Gemeinde hin berühmt machte.

Wie in den anderen Bundesstaaten des Südens waren die Schulen in Louisville auch nach Rassen getrennt – von der Grundschule bis zum Ende der High School. Muhammad und ich schlossen eine Schule, an die nur Farbige gingen, ab. Dort waren alle ziemlich gleich, da sie aus ähnlich bescheidenen Verhältnissen kamen. Viele der jungen Burschen und Mädchen, die in der Gegend aufwuchsen, bekamen staatliche Beihilfen für ihr Schulessen, und keiner hatte besondere materielle Besitztümer. Die Rassentrennung und die Armut lehrten uns schnell, dass schwarz sein bedeutete, dass man anders war. Doch meinem Bruder und mir wurde auch schon früh bewusst, dass dies furchtbar ungerecht war. Wenn wir den Fernseher einschalteten, sahen wir immer wieder Horrorgeschichten: Hunde, die auf Schwarze losgelassen wurden, und Lynchmorde – alles begleitet von Bildern, die sich für immer in unser Gedächtnis einbrannten. Als zwei junge farbige Männer dachten sich Muhammad und ich: Warum werden Afroamerikaner hier in Amerika anders behandelt? Als Kinder und Jugendliche konnten wir nichts dagegen tun, doch ich glaube, dass Muhammad schon damals den Plan hegte, die Welt zu verändern.

Andererseits nahm Muhammad die Schule aber nicht so wichtig. Er war der Klassenclown. Er war von vornherein nicht gerade der beste Schüler und bemühte sich auch nicht wirklich in der Schule, selbst noch bevor er mit dem Boxen begann. Bildung und Lernen waren nicht gerade etwas, dem er viel Bedeutung oder Wert beimaß, und als er dann in der High School mit dem Boxen begann, stellte er den Boxsport über die Schule. Muhammad musste sich manchmal sogar richtig motivieren, um nicht die Schule zu schwänzen, doch da seine Chancen, aufgrund von Bildung erfolgreich zu sein, eher dünn waren, fokussierte er seine Bemühungen auf andere Dinge.

Damit war er nicht allein. Wenn es eine Person gab, die der treibende Motor hinter meinem Bruder war, dann war das unser Vater. Unsere Mutter hatte nichts dagegen, aber Cash Clay stieg aufs Gas. Weder Mutter noch Vater hatten einen wirklich sicheren Job, und als mein Bruder und ich ein gewisses Talent fürs Boxen zeigten, sah unser Vater darin einen Weg, unseren Sorgen zu entkommen. Nicht nur einen Weg aus unseren Geldproblemen und der Armut heraus, sondern auch einen Weg zu Ruhm und Reichtum. Unser Vater bildete sich ein, dass beide seiner Söhne Weltmeister werden würden. Er hatte großes Vertrauen in uns. Vater war es ernst damit, und er saß bei allen unseren Kämpfen in der vordersten Reihe. Er war ein stolzer Vater. Er war einer unserer größten Fans. Und ich möchte es noch einmal wiederholen: Vater dachte wirklich, dass wir beide groß rauskommen würden – nicht nur Muhammad.


Ich denke, nicht einmal mein Bruder wüsste, wie viele Kämpfe genau er im Alter zwischen 12 und 18 Jahren unter Joe Martins Führung bestritt. Ich weiß, dass er sehr oft kämpfte – mehr als einmal im Monat, und ich ebenso – und selten einmal aussetzte. Schon in den ersten Kämpfen konnte man erste Hinweise auf sein großartiges Können, das er später entwickelte, entdecken, als er lernte, um die Gegner herumzutänzeln, Schlägen auszuweichen und sich den Schwingern seiner Kontrahenten so zu entziehen, dass einige Traditionalisten dabei Albträume bekamen. Er gewann sechs Kentucky Golden Gloves und zwei nationale Meisterschaften und bestritt dabei sicherlich über 100 Kämpfe, von denen er bloß acht verlor. Im Jahr 1960 nahm er im Halbschwergewicht an den Golden Gloves teil, um zu vermeiden, dass wir während des Turniers aufeinandertrafen, und er gewann den Titel mühelos.

Etwas später im selben Jahr reiste er nach San Francisco, um dort an einer Vorausscheidung für einen Platz im Nationalteam teilzunehmen. Dabei schaltete er überlegen eine Handvoll Gegner aus, bevor er dann einen harten Kampf gegen Allen Hudson gewann und sich somit einen Platz im Team für die Olympischen Spiele in Rom sicherte.

Ich fuhr nicht nach Rom. Meine Eltern und ich sahen die Kämpfe meines Bruders im Fernsehen. In den Kämpfen sah er wie gewohnt unbesiegbar aus und schlug seine Kontrahenten mit Leichtigkeit. Die schienen noch nie ein Schwergewicht gesehen zu haben, das so beweglich war, ausweichen konnte und tänzeln. Doch wir wussten, dass das Finale viel härter werden und er dort auf einen sehr erfahrenen Gegner stoßen würde.

Es war der 5. September 1960, als er gegen den Polen Zigzy Pietrzykowski in den Ring stieg. Beide Boxer wogen etwa 81 Kilo. Der Pole war ein harter Linkshänder und mit seinen sieben Jahren mehr auf dem Buckel deutlich erfahrener als mein Bruder. Nichtsdestotrotz triumphierte Muhammad nach einstimmiger Entscheidung und gewann damit die Goldmedaille im Halbschwergewicht. Es war ein Traum, der Realität geworden war, ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Bei seiner Ankunft am Flughafen von Louisville wurde er von einer großen Menschenmenge empfangen. Meine Eltern und ich, der Bürgermeister von Louisville, der Stadtrat, einige lokale Geistliche sowie Schüler, Direktoren und Lehrer der Central High School waren gekommen, um ihn zu begrüßen. Zahlreiche Fotografen der örtlichen Presse warteten, um einen Schnappschuss vom neuen Champion machen zu können. Mein Bruder, unsere Eltern und ich wurden mit einer Eskorte vom Flughafen durch die Straßen von Louisville bis zur Central High School gefahren. Dort tummelten sich bereits die Schüler und viele andere Menschen mit Transparenten, auf denen stand: Willkommen zu Hause Cassius Marcellus Junior, Olympiasieger im Halbschwergewicht. Als unser Wagen sich der Schule näherte, liefen Schüler und Gratulanten herbei, um ihren Lokalhelden aus Louisville persönlich zu sehen, und Muhammad genoss jeden Moment. Wir folgten Muhammad in die Aula, wo bereits zwei Sessel auf der Bühne für unsere Eltern bereitstanden. Unsere bescheidene Familie wusste natürlich, dass dies ein großer Moment war, doch er war sogar noch größer, als wir uns je hätten vorstellen können.

Als dann alle ihre Plätze eingenommen hatten, trat der Direktor der Schule, Mr. Alwood S. Wilson, nach vorne und begann mit seiner Rede. Er erzählte dem Publikum, wie furchtbar stolz er, die Lehrerschaft und die Schüler auf einen ehemaligen Schüler waren, der die Goldmedaille errungen hatte. Nach einer emotionalen Ansprache bat er Muhammad vor das Mikrofon, um von seinen Erlebnissen bei den Olympischen Spielen zu erzählen. Das Publikum stand auf und feierte ihn minutenlang mit stehenden Ovationen.

Muhammad erhob sich von seinem Sessel und begann, zur versammelten Menge zu sprechen. Er lobte seinen polnischen Kontrahenten, einen Mann, der ihm, wie er zugab, einen harten Kampf geliefert und ihn mit Schlagsalven eingedeckt hatte. Allerdings war mein Bruder nicht so bescheiden, dass er es sich verkneifen hätte können, zu sagen, dass er zu schnell und zu klug für den Polen gewesen war, und er schrieb seinen Sieg seiner Entschlossenheit und seinem boxerischen Können zu, das er jahrelang perfektioniert hatte. Er erzählte uns, wie stolz er darauf war, die Medaille nach Amerika geholt zu haben. Er sprach darüber, wie er davon geträumt hatte, dass er es eines Tages nicht nur zu den Olympischen Spielen schaffen würde, sondern dort auch triumphieren würde, und dass, nachdem dieser Traum wirklich geworden war, er das olympische Podium als Plattform nutzen würde, um sich Gehör zu verschaffen. Die Olympischen Spiele, so sagte er vor allen Anwesenden, seien der goldene Schlüssel zu vielen Wahrheiten: Es war eine Wortwahl, die viele im Publikum verwirrte, da zu diesem Zeitpunkt kaum jemand wusste, dass mein Bruder sein Interesse an der Rassenpolitik der Vereinigten Staaten entdeckt hatte. Als Muhammad dann fertig war, stand das Publikum erneut auf und applaudierte lautstark. Danach fragten ihn aufgeregte Schüler, ob sie die Medaille sehen und berühren dürften. Einfach nur einen Blick darauf werfen, war nicht genug. Alle wollten das Gold mit ihren Händen anfassen. Muhammad stieg von der Bühne und stand mit einem Lächeln da, und die Schüler kamen zu ihm, um die Früchte seiner harten Arbeit mit ihren eigenen Händen zu berühren.

Nach diesem aufregenden Auftritt wurde Muhammad wieder aus dem Gebäude eskortiert, und wir fuhren quer durch die Innenstadt bis zu unserem Haus. Ich genoss den Moment am Beifahrersitz, während Muhammad auf der Rückbank saß und der Menge mit seinem typischen Grinsen zuwinkte.

Als wir dann vor unserem Haus in der Grand Avenue ankamen, waren bereits alle unsere Nachbarn da, um dem neuen Champion einen entsprechenden Empfang zu bereiten. Die lokale Presse war auch da, um ein Interview und ein paar Schnappschüsse zu bekommen. Ich erinnere mich, wie ich auf die Medaille starrte und wie wundervoll sie aussah, als sie da um seinen Hals baumelte, während er zu den Anwesenden sprach. Schließlich löste sich die Menge auf, und alle waren noch ganz aufgeregt, dass sie einen Olympiahelden persönlich kennengelernt hatten. Ich dachte zurück an die Jahre, in denen wir zusammen trainiert hatten, wie wir frühmorgens gemeinsam laufen gegangen waren und uns über die besten Amateurboxer unterhalten hatten. Muhammad hatte damals immer voller Überzeugung zu mir gesagt: „Rudy, eines Tages werde ich mir olympisches Gold im Halbschwergewicht holen.“

Und ich hatte immer an die boxerischen Fähigkeiten meines Bruders geglaubt, und es gab keinen Moment, in dem ich diesen Optimismus durch pessimistische Gedanken trüben ließ. Trotzdem gibt es kein schöneres Gefühl auf der Welt, als den Erfolg eines Familienmitglieds selbst mitzuerleben. Unsere Eltern sagten uns immer, dass wir uns im Boxen engagieren müssten, wenn wir erfolgreich sein wollten. Unser Vater erklärte uns, dass wir immer wieder Hürden auf unserem Weg zum Erfolg überwinden würden müssen. Einige Eltern unterstützen ihre Kinder so gut wie gar nicht, doch unsere ermunterten uns, und das ist etwas, an das ich mich immer erinnern werde.

Nach dem Olympiasieg änderte sich das Leben meines Bruders – aber auch das meinige. Dank meines Bruders war ich nun eine Art Berühmtheit an meiner Schule. Meine Mitschüler lächelten mir zu und wünschten mir alles Gute, wenn ich sie am Gang traf oder mit ihnen im Klassenzimmer saß. Ich war in meinem letzten Jahr an der Central High School, und es ist mir immer noch in Erinnerung.

Mehr als fünf Jahrzehnte später weiß jeder, dass Muhammad seine Goldmedaille in den Ohio River geworfen hat, weil er in einem Restaurant in unserer Heimatstadt nicht bedient wurde – und das sogar nach seinem Olympiasieg. Irgendwo habe ich gelesen, dass diese Geschichte von einem Unbekannten erfunden worden und nun weitverbreitet wäre. Sie schrieben, dass mein Bruder seine Medaille verloren hätte und ich ihm dabei geholfen hätte, sie wiederzufinden. Es wurde behauptet, dass wir das gesamte Haus auf den Kopf gestellt hätten, aber sie nicht fanden. Ich glaube, Sie, werter Leser, können sich vorstellen, dass diese Medaille ein Prestigesymbol darstellte, auf das mein Bruder besonders stolz war. Leider meinte irgendwer, es besser zu wissen, und verbreitete diesen Schwachsinn. Also möchte ich die Dinge an dieser Stelle geraderücken: Muhammad und ich gingen zusammen in besagtes Restaurant, und wir wurden nicht bedient.

Muhammad sagte: „Ich hätte gerne einen Cheeseburger.“

Die Kellnerin antwortete: „Wir mögen hier keine Neger.“

Worauf mein Bruder sarkastisch meinte: „Ich will ja auch keinen Neger, sondern einen Cheeseburger.“

Da es uns schnell klar war, dass wir hier nicht bedient werden würden, verließen mein Bruder und ich verärgert und angewidert das Lokal.

Als wir dann zur 2nd Street Bridge kamen, nahm mein Bruder seine geliebte Medaille und warf sie in den Fluss. Ich versuchte, ihn davon abzuhalten, doch er sagte: „Nein, Rudy. Ich bin tief verletzt. Diese Verachtung, die mir entgegengebracht wurde, tut mir sehr weh.“

Und dann begann ich zu weinen.

Das war das letzte Mal, dass wir beide die Olympiamedaille gesehen haben. Also, ich war dabei und habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.


Nach den Olympischen Spielen wechselte Muhammad ins Profilager und unterschrieb bei der Louisville Group – einem Konsortium aus zehn Millionären –, die sein Managementteam wurde. Sie waren an meinen Bruder nach seinem Sieg in Rom herangetreten und boten ihm an, für sein Training, die Reisen, Wohnen und Versorgung aufzukommen sowie ein Antrittsgeld und ein garantiertes Einkommen zu zahlen. Im Gegenzug würden sie 50 Prozent dessen verlangen, was er an Preisgeldern und aus sonstigen Aktivitäten verdienen würde.

Das bedeutete auch den Abschied von Joe Martin, der, wie ich hier noch einmal festhalten will, Muhammad immer gut führte und trainierte und zu dem wir in jener Zeit ein exzellentes Verhältnis aufgebaut hatten.

Muhammads erster Profikampf fand am 29. Oktober 1960 gegen Tunney Hunsaker in der Louisville Freedom Hall statt. Nach dem Kampf, der über sechs Runden ging und den mein Bruder nach Punkten gewann, beschloss Muhammads Management, die Dienste des weithin respektierten Boxtrainers Angelo Dundee in Anspruch zu nehmen. Das bedeutete, dass Muhammad nach Miami Beach ziehen musste, wo Angelo das berühmte 5th Street Gym betrieb.

Mein Bruder hatte Angelo bereits zuvor in unserer Heimatstadt getroffen. Das war im Jahr 1958 gewesen, als Angelo den Halbschwergewichtschampion Willie Pastrano, der für einen Kampf gegen George Holman nach Louisville gekommen war, trainierte. Muhammad verfolgte das Geschehen im Boxsport schon damals sehr aufmerksam und verpasste niemals eine Gelegenheit, einen Boxer oder Trainer, den er respektierte, zu treffen, wenn er die Möglichkeit dazu hatte. Also rief er Angelo nach dem Kampf aus der Hotellobby auf dessen Zimmer an und fragte ihn, ob er ihn und seinen Boxer für fünf Minuten sehen könnte. Nach einer längeren Pause willigte Angelo ein, und so gingen Muhammad und ich auf sein Zimmer, um ihn und seinen niedergeschlagenen Kämpfer zu treffen. Na ja, Muhammad bahnte sich quasi den Weg in das Zimmer und bellte Angelo an, er solle ihn doch als Boxer nehmen. Dundee und sein Boxer sahen gerade fern, tranken Orangensaft und aßen Kartoffelchips, als wir hereinplatzten.

Pastrano, der im Unterleibchen auf dem Bett lag und sich gerade mit einer Schüssel Eiscreme tröstete, ignorierte meinen Bruder anfangs. Er dachte, Muhammad wäre wieder einer dieser enthusiastischen Teenager mit einer großen Klappe. Mein Bruder, der sich nie scheute, seine Meinung kundzutun, begann sofort damit, vor Angelo zu prahlen, dass er der nächste Weltmeister im Halbschwergewicht sein würde. Einerseits war Angelo von dieser Angeberei erstaunt, denn dieses Verhalten war damals nicht üblich bei Sportlern. Andererseits war er aber auch der Typ, der diese Art von Selbstbewusstsein als etwas Positives bei einem Boxer sah – eine wichtige Eigenschaft in einem so harten Sport. So wurde aus den fünf Minuten eine dreieinhalbstündige Unterhaltung, bei der Muhammad den Coach und Pastrano mit Fragen löcherte. Muhammad war sehr neugierig, und Angelo konnte seine Begeisterung deutlich sehen, und ich denke auch, dass er damals bereits feststellte, dass dieser junge Mann vor ihm etwas Besonderes war.

Das war zwei Jahre, bevor mein Bruder Olympiasieger wurde. Nachdem mein Bruder Olympiagold geholt hatte, traf er in Louisville zufällig erneut auf Angelo. Diesmal war Angelo empfänglicher für sein Anliegen und meinte zu Muhammad, dass er zu ihm nach Miami trainieren kommen solle. Auch wenn dieses Angebot damals sehr verlockend war, lehnte Muhammad es ab. Warum? Ich weiß es nicht. Als jedoch dann die Louisville Group Coach Dundee anheuerte, um ihre neue goldene Gans zu trainieren, war es das Beste, was Muhammad widerfahren konnte, und der Beginn einer neuen Ära.

Bevor Muhammad wechselte, hatte er mit Jersey Joe Walcott trainiert, der ihn immer den Boden aufwaschen ließ. Muhammad gefiel es dort überhaupt nicht. Er hasste es. Er hatte sich bereits öfters bei Jersey Joe beschwert, doch immer ohne Ergebnis. Immer wieder sagte er ihm, er wäre nicht als Putzfrau hier, sondern um zu trainieren. Seine Beschwerden stießen jedoch auf taube Ohren, und als mein Bruder mit Angelo sprach, wollte er nur mehr so schnell wie möglich weg von hier. Angelo hatte den Anruf irgendwie erwartet und freute sich darüber, und Muhammad, ganz verzweifelt, sagte zu ihm: „Ich will morgen zum Training kommen.“

„Wo bist du?“, fragte Angelo.

„Ich bin in Louisville.“

Angelo fragte: „Wie willst du dann hierherkommen?“

„Ich komme mit dem Auto,“ antwortete mein Bruder.

Also fuhr er den ganzen Weg nach Miami, eine Fahrt von 15 Stunden, doch in Muhammads Augen war es das allemal wert.

Am nächsten Tag, es war ein Sonntagmorgen, machte sich Muhammad auf den Weg ins berühmte 5th Street Gym. Angelos kleiner Sohn Jimmy kam sonntags mit seinem Vater immer mit ins Studio. Als die Dundees um 10 Uhr vormittags ankamen, sahen sie Muhammad geduldig auf den Stiegen sitzen und warten. Jimmy war von meinem Bruder sofort beeindruckt.

Zusammen gingen sie dann die Treppe hoch ins Boxstudio, wo Angelo meinem Bruder die bescheidene Trainingshalle zeigte. Muhammad überraschte Angelo damit, als er meinte, dass er gerne ein Sparring haben würde und einen Kampf am Dienstag – zwei Tage nach der Marathonfahrt. Angelos Bruder Chris, der ein Promoter war, sollte den Kampf ansetzen. Muhammad wollte natürlich unbedingt die verlorene Zeit aufholen. Also ließ Angelo ihn mit Willie Pastrano und einer Handvoll anderer Schwergewichte sparren.

Es war eine Sparring-Session, an die sich alle erinnern sollten, und eine weitere Demonstration der frühen Genialität meines Bruders. Um ehrlich zu sein, versohlte mein Bruder Willie und Angelos anderen jungen Schwergewichten ordentlich den Hintern. Er war einfach genial im Ring. Beeindruckt von Muhammads ausgezeichneter Vorstellung, drehte sich der Coach zu seinem Starschüler Willie – der ja immerhin Weltmeister im Halbschwergewicht war – und sagte zu ihm: „Du hattest einen schlechten Tag. Du gehst besser nach Hause. Du bist müde.“

Muhammad wollte dem Coach einfach unbedingt zeigen, was er zu bieten hatte. Normalerweise schonte er seine Trainingspartner, doch diesmal war er vollgepumpt mit Adrenalin und wollte sein Können zeigen. Er nahm daher keine Rücksicht auf seine Sparringspartner und nahm sie ziemlich her.

Sein neuer Coach hatte schnell erkannt, was hier abgelaufen war, und nannte meinen Bruder „the best kid“, also den besten Jungen. Das war aber nicht das Ende des ersten Aufenthalts meines Bruders in Miami. Nach dem ersten Training trafen sich Muhammad sowie Angelo und Jimmy mit Freunden zum Mittagessen in einem Lokal am Ende der Straße. Angelo war ganz begierig darauf, seinen Freunden seinen neuen Olympiahelden vorzustellen. Als die drei das Lokal betraten, starrte der Mann hinter der Theke Muhammad finster an und sagte: „Wir haben hier keine Neger.“

Danach folgten dann noch viel schlimmer Beleidigungen, die meinem Bruder überhaupt nicht gefielen. Es war, als hätte ein Außerirdischer das Lokal betreten. Man hätte es Muhammad nicht verübeln können, wenn er diesem Mann Manieren beigebracht hätte, doch in diesem Moment griff Angelo ein.

„Wir wollen ja auch keine haben“, sagte er und blickte dem Mann dabei in die Augen. „Wir wollen Hamburger. Wir setzen uns jetzt hier hin und essen in Ruhe zu Mittag.“

Damit war der Punkt erreicht, an dem auch der Kellner nicht mehr viel dagegen tun konnte. Es war in seinem eigenen Interesse, ein Auge zuzudrücken und den Mund zu halten. Nach dieser unerfreulichen Begegnung setzten sich alle und aßen, und Muhammads Coach stellte ihn mehreren seiner Freunde vor.

Aufgrund der Rassentrennungsgesetze war es nicht einfach, eine Unterkunft für Muhammad zu besorgen. Bevor sein neuer Coach ein Quartier für ihn fand, wohnte Muhammad erst im Mary Elizabeth und dann im Sir John Hotel in Overtown, einem ausschließlich Weißen vorbehaltenen Stadtteil. Angelo machte sich um das Wohlergehen meines Bruders Sorgen, und das hatte auch seinen Grund. Allein die Anwesenheit eines Farbigen in einer solchen Gegend reichte aus, um ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und mein Bruder gehörte nicht gerade zu den Menschen, die sich unauffällig verhielten.

Schließlich fand Angelo eine Unterkunft für ihn in der 7th Avenue und 118th Street, die gleich um die Ecke von Angelos Wohnung war. Ein graues, ebenerdiges Haus mit einem kleinen Garten nach vorn und hinten raus. Nicht gerade eines Olympiasiegers würdig. Aber selbst dann endeten die Probleme aufgrund seiner Hautfarbe nicht. Wenn Muhammad als Teil seines Trainingsprogramms zum Studio lief, wurde er immer wieder von der Polizei aufgehalten. Angelo erhielt fast täglich Anrufe von der Polizei, die alle sehr ähnlich klangen. Sie glaubten meinem Bruder nicht, dass er im berühmten 5th Street Gym trainierte, und bestanden darauf, seine Geschichte zu überprüfen.

„Angelo, boxt der junge Mann für dich?“, fragte der Polizist am anderen Ende der Leitung.

„Ja, das ist einer von meinen Jungs“, antwortete dann Angelo manchmal schon verärgert. „Lasst ihn bitte zum Training gehen.“

Miami war nicht gerade besser als andere Orte in den Vereinigten Staaten, wenn es um Vorurteile ging, doch Gott sei Dank wohnte mein Bruder in der Nähe von Angelos Haus. Als dann ihr Verhältnis immer besser wurde, verbrachte Muhammad jeden Feiertag mit der Familie Dundee.

Ich war in meinem letzten Schuljahr, als mein Bruder den Vertrag mit der Louisville Group unterzeichnete und nach Miami Beach übersiedelte. Nachdem er ins Profilager gewechselt war, gab er einen großen Teil seines Geldes, das er von dem Konsortium aus Louisville erhielt, dafür aus, unseren Eltern ein neues Heim zu kaufen. Mutter hatte oft über die Dinge gesprochen, die sie gerne gehabt hätte – darunter auch ein neues Haus. Ich erinnere mich noch genau daran, wie glücklich unsere Mutter war. Nun konnte sich unsere Familie den einen oder anderen Luxus leisten, da mein Bruder eine erfolgreiche Zukunft vor sich zu haben schien. Es dauerte nicht lange, und Muhammad holte mich zu sich nach Miami. Trotz seines engen Verhältnisses mit den Dundees hatte mein Bruder kaum jemanden, dem er vertrauen konnte, und so holte er mich 1962 zu sich, da er jemanden aus der Familie um sich haben wollte. Für meinen Teil muss ich sagen, dass ich bis dahin nie einen ordentlichen Job hatte, und so ergriff ich die Gelegenheit mit beiden Händen. Meine erste Aufgabe war es, ein Mitglied von Muhammads Entourage und seinem Team zu sein. Unnötig zu erwähnen, dass ich sofort meine Koffer packte und bei ihm einzog. Ich lebte mich schnell bei meinem Bruder ein. Muhammad und ich verbrachten unsere Freizeit oft damit, im Wohnzimmer zu sitzen, Filme anzuschauen und uns zu entspannen. Um spätestens 11 Uhr nachts waren wir dann meist im Bett, da wir ja schon früh am Morgen rausmussten, um das Lauftraining zu absolvieren.

Neben seiner Geduld im Umgang mit der Polizei war Angelo genau das, was mein Bruder brauchte. Er war ein wunderbarer Mensch, der die Herzlichkeit eines Lieblingsonkels mit einem ans Übernatürliche grenzenden Verständnis für die Psyche eines Boxers in sich vereinte. Er schaffte es, in die Köpfe seiner Schützlinge zu sehen und sie dazu zu bringen, Dinge zu vollbringen, ohne dass sie etwas davon mitbekamen, was genau das war, was mein Bruder zu diesem Zeitpunkt in seiner Karriere benötigte. Muhammad war immer dickköpfig gewesen, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und so musste Angelo Mittel und Wege finden, ihn davon zu überzeugen, dass alles, was er tat, seine eigene Idee war. Angelo verbrachte viel Zeit damit, Muhammad zu manipulieren und ihm vorzugaukeln, dass er selbst die Entscheidung traf, mehr oder weniger zu trainieren, an einem bestimmten Schlag zu arbeiten oder sonst etwas. Wenn er wollte, dass mein Bruder mehr Uppercuts schlagen sollte, dann lobte er ihn für das eine Mal in der Runde, als er einen schlug, und in der nächsten Runde schlug Muhammad dann vielleicht sogar ein halbes Dutzend.

Eine meiner Lieblingsanekdoten über Angelo hat allerdings mit einem anderen Boxer zu tun, den er zur selben Zeit wie meinen Bruder trainierte. Dieser Boxer hatte sein Selbstvertrauen in seine Schläge verloren und dachte, seine Schläge wären einfach nicht mehr hart genug. Wie wahrscheinlich jeder Boxer weiß, sind solche Zweifel pures Gift – wenn du dir nicht mehr zutraust, hart genug zu schlagen, traust du dir auch keinen Schlagabtausch mehr zu, und du gehst unter. Eines Tages also, vor Beginn des Trainings, lockerte Angelo die Verankerung an der Boxbirne, und als der besagte Boxer das erste Mal zuschlug, löste sich die Schraube, und die Boxbirne flog in hohem Bogen durch die Halle. Der verdutzte Boxer dachte, sein Schlag wäre wieder so richtig explosiv, und boxte von nun an wieder voller Selbstvertrauen.

Es ist großartig, einen Coach wie Angelo an deiner Seite zu haben, jemanden, der einem im Hintergrund hilft. Und ich sah, welchen Unterschied dies machte – gelegentlich drehten Muhammad und ich ja auch ein paar Runden im Ring gegeneinander, und manchmal gewann er und manchmal ich. Doch ich fühlte, wie er schnell besser, schneller und stärker wurde.

Aber auch Muhammad tat das seinige dazu. Jeder Boxer arbeitet hart, doch Angelo sagte immer wieder, dass er nie einen Kämpfer in seinem Boxstudio hatte, der so viel arbeitete wie Muhammad – und das aus dem Mund eines Mannes, der in seiner Karriere mehr als 15 Weltmeister trainierte. Tatsächlich meinte Angelo, dass Muhammad manchmal auch zu viel trainierte. Schon am Anfang seiner Karriere steckte Muhammad zu viele Schläge im Training ein. Angelo wusste genauso gut wie ich, dass Muhammad es absichtlich zuließ, dass seine Sparringspartner ihn am Kopf trafen. Selbst als er dann einen Kopfschutz trug, erduldete er weiter die harten Treffer, denen andere Boxer immer auszuweichen versuchten. Er war nämlich der Überzeugung, dass ihn dies auf richtige Kämpfe vorbereiten würde, was sich damals nicht halb so verrückt anhörte, wie es heute klingt. Wie man es auch betrachtet, mein Bruder war ein Vollprofi, der hart trainierte und alles tat, um sich auf seine Kämpfe gut vorzubereiten. Und seine härtesten Kämpfe standen ihm noch bevor.

Mein Bruder, Muhammad Ali

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