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Die Konzeptionen der französischen Reichspolitik und der Vertrag von Chambord

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Die politischen Konzeptionen und Projekte, die zum Vertrag von Chambord führten, haben die Forschung von jeher stark beschäftigt76. Doch sind manche Aspekte nach wie vor ungeklärt und fordern zur weiteren Diskussion heraus. Zwei Probleme sind in diesem Zusammenhang besonders zu betonen:

1. die Bedeutung des Reichsvikariats, das der Vertrag von Chambord dem König von Frankreich über Metz, Toul und Verdun übertrug,

2. der Anspruch des Königs auf die Rolle eines Schützers der liberté germanique, ein Anspruch, der durch die voyage d’Allemagne konkretisiert wurde.

Entscheidend war zunächst gewesen, dass das Bündnis allen Reichsständen zum Beitritt offen stand und religionspolitisch neutral blieb, indem es sich allein den Schutz eines rechtmäßigen Verfassungszustandes im Reich vor einem angeblichen Usurpator zum Ziel setzte: In diesem grundsätzlichen Rahmen fand die Politik des katholischen Königs von Frankreich gegen den Kaiser ihre Legitimation. Die Hintergründe der Übertragung von Metz, Toul und Verdun an den König waren allerdings komplex: Da es sich hier um unter offensiven wie defensiven (man denke an die Erfahrung der kaiserlichen Invasion von 1544!) Gesichtspunkten gleichermaßen wichtige Stützpunkte in der lothringischen Grenzregion handelte, war die Kontrolle über die Städte eine wichtige Voraussetzung für die Erfüllung der französischen Beistandsverpflichtung.

Allerdings erklärt das strategische Bedürfnis noch nicht, warum die oppositionellen deutschen Fürsten – unter der Fiktion, für das ganze Reich zu sprechen – dem König von Frankreich die drei Städte als Reichsvikar übertrugen. Die Vereinbarung über das Reichsvikariat war in einem gesonderten Artikel des Vertrags von Chambord konkretisiert worden: Der König sollte die drei Städte, die dem Reich seit jeher zugehörten, aber nicht deutscher Zunge seien, zum Besten der gemeinsamen Sache als Reichsvikar und unter dem Vorbehalt aller Rechte des Reiches möglichst bald in seinen Besitz nehmen77. Eine nur wenige Tage ältere Fassung des Vertrages enthielt diese Bestimmung nicht und gestand dem König lediglich eine simple Besetzung der Städte in Ansehung der militärischen Notwendigkeiten zu78. Die Gründe für diese bedeutende Abänderung des Textes sind unbekannt, es spricht aber vieles dafür, dass sie auf Wunsch des französischen Unterhändlers Fresse erfolgt ist. Mit der Übertragung des Reichsvikariats ließ sich eine dauerhafte französische Kontrolle über Metz, Toul und Verdun in reichsrechtlicher Form und damit besser absichern als durch die offenen Formulierungen des ersten Vertragstexts. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Gedanke einer solchen Konstruktion nicht neu war: Schon in den Verhandlungen mit den Schmalkaldenern im Jahre 1546 war von französischer Seite vorgeschlagen worden, dass dem König das Reichsvikariat über die „welschen“ Teile des Reichs übertragen werden sollte79, und noch früher, nämlich im Vorfeld der Kaiserwahl von 1519, war sogar der Gedanke eines auf die „welschen“ Reichsteile bezogenen französischen Kaisertums lanciert worden, während die deutschen Lande einem Reichsfürsten als römischem König unterstehen sollten80. 1552 war zwar ausdrücklich nur von Metz, Toul und Verdun die Rede gewesen, aber die zusätzliche Formulierung, dass auch andere Städte, die nicht deutscher Sprache seien, dem französischen Vikariat unterstellt werden könnten, war offen genug, um Raum für weitere Erwerbungen zu lassen. Von diesem Befund her stellt sich die Frage, ob über strategische Motive hinaus bei diesen Gelegenheiten Vorstellungen über alte territoriale Rechte der Krone Frankreich in der lothringischen Region wirksam wurden: Hier kommt das schwierige und umstrittene Problem eines angeblich bereits im Mittelalter wurzelnden französischen Strebens nach der „Rheingrenze“ ins Spiel, das im Erwerb der drei Reichsstädte 1552 eine Manifestation gefunden hätte81.

Auch Moritz von Sachsen hatte im Verlauf seiner Unterredungen mit Fresse ein französisches Reichsvikariat ins Spiel gebracht. Er hatte ein dauerhaftes Bündnis Hessens und Sachsens mit dem König von Frankreich angeboten, der in dieser Allianz als Superieur et Protecteur anerkannt werden sollte. In dieser Eigenschaft sollten ihm alle Städte und Passagen der Landverbindung zu den unter seinem Schutz stehenden Territorien zur Verfügung stehen, unter der Voraussetzung des Erhalts ihrer alten Freiheiten und Privilegien. Deswegen waren Moritz und Fresse übereingekommen, dass Metz, Toul und Verdun sowie die anderen Städte, die nicht deutscher Sprache seien, dem König auf Dauer als Reichsvikar unterstellt werden sollten82. Zumindest in der Konzeption eines Moritz von Sachsen war die Präsenz Frankreichs in den drei Reichsstädten – und weiteren nicht eigens aufgeführten Gebieten in den nichtdeutschen Reichsteilen – eine notwendige Voraussetzung für eine ungehinderte Interventionsmöglichkeit des Königs im Reich. Warum dieser Gedanke nicht in die erste Fassung des Vertrags eingegangen ist, lässt sich nur vermuten: Einige von Moritz’ Mitverschwörern könnten dieser Vergabe von Reichsgut an einen ausländischen Fürsten Widerstand entgegengesetzt haben; von Hans von Küstrin ist bekannt, dass er den Ort der Verhandlungen vorzeitig verließ.

In jedem Fall brachte Frankreich, das auf einen künftigen Beitritt aller Reichsstände hoffte, der Vertrag von Chambord in seiner endgültigen Form einen doppelten Gewinn: Einmal erhielt es eine Legitimationsgrundlage, seinen Einfluss in der lothringischen Region auszudehnen und zu festigen, sodann bestätigte das Abkommen den Protektorenstatus des Königs gegenüber dem Reich und seinen Ständen. Diese „Protektion“ näherte sich in der französischen Konzeption durchaus einer quasi-kaiserlichen politischen Führungsrolle an: Alles spricht dafür, dass sie im Rahmen der französischen Konzeption als ein erster wichtiger Schritt auf dem Wege zur Kaiserkrone selbst betrachtet wurde. In den Verhandlungen von Friedewald im Februar 1552, die der Ratifikation des Vertrags durch Heinrich II. am 15. Januar 1552 in Chambord folgten, zeigte sich dies deutlich83.

Fresse legte dort verschiedene Vorschläge vor. Unter anderem machte er deutlich, dass die geistlichen Stände bei dem künftigen Feldzug unter des Königs Schutz stünden, da er „mit denselbigen eines glaubens und religion seie“84.Vor allem aber ging es um die Organisation des Bundes: Der König wollte ein gemeinsames Siegel mit seinem Wappen in der Mitte, umgeben von denen der ihm verbundenen Fürsten, mit der Aufschrift „Das siegel des unuberwintlichen bunts vor die freihait Teutschlants wider Carolum quintum den tyrannen“85. Auch Münzen sollten gemeinsam geprägt werden. Das hochst imperium des Bundes beanspruchte der König von Frankreich für sich86.

Hier wurde eine wohldurchdachte und auf den König als Mittelpunkt bezogene Konzeption des Bundes mit den Reichsständen präsentiert. Dessen Schützerrolle rückte darin in deutliche Nähe zu einer Oberherrlichkeit, so dass Heinrich Lutz ganz zu Recht von den staatsrechtlichen Zügen sprechen konnte, die eine zunächst „völkerrechtlich“ gedachte Verbindung hier annahm87. Den oppositionellen Fürsten gingen diese Vorschläge viel zu weit. Die Schutzklausel für die Geistlichkeit missfiel ihnen, das hochst imperium des Königs lehnten sie rundheraus ab88. Das trug ihnen eine gereizte Replik des französischen Unterhändlers ein, der an die in der französischen monarchischen Theorie89 längst zum allgemeinen Gedanken gewordene herausgehobene Stellung des Königs von Frankreich vor allen anderen gekrönten Häuptern erinnerte. Fresse antwortete wörtlich90:

Mit dem imperio hab ich gemeinet die er, welche dem konig zu Frankreich glaube ich von allen konigen wurde erbotten, und ist ime auch alzeit erbotten von den konigen zu Hispanien Engellandt und Venedigern in gleichem fal. Ich wil… allein sie die fursten ermanen, vleissiger aufzumerken, was man einem solchen konig in einer solchen sache solte anpieten.

Die deutschen Fürsten sagten hierauf zu, den König, so er zu ihnen komme, als Haupt achten, sich aber in allen anstehenden Entscheidungen mit ihm vergleichen zu wollen, was eine höfliche Ablehnung des imperium blieb. In der Frage des gemeinsamen Siegels war ihre Antwort ausweichend, nur in einigen zweitrangigen Punkten gaben sie nach91.

Bei dieser Gelegenheit zeigte sich also deutlich, dass es Heinrich II. durchaus darum zu tun war, im Reich einen formal gefestigten Einfluss auszuüben – und in dieser Perspektive wäre der Erwerb der Kaiserkrone trotz der zurückhaltenden Formulierungen des Vertrags von Chambord wohl der nächste sinnvolle Schritt seiner Reichspolitik gewesen.

Aber die Unvereinbarkeit der französischen Konzeption mit den Vorstellungen und Erwartungen der deutschen Fürstenopposition trat bald offen zutage. Als trotz der in Friedewald aufgebrochenen Meinungsverschiedenheiten der Krieg im Reich begann und der Kaiser gegenüber den Kräften seiner reichsfürstlichen Gegner bald in eine äußerst kritische Lage geriet, nahm Moritz von Sachsen Kontakt zu Karls Bruder Ferdinand auf und verließ die antihabsburgische Koalition unter dem Vorwand, angeblich erst jetzt über das volle Ausmaß der skandalösen Anknüpfungen des französischen Königs mit den Türken unterrichtet worden zu sein92. Kurz zuvor waren Vorstöße Heinrichs II. bei den vier rheinischen Kurfürsten Köln, Trier, Mainz und Pfalz über einen Sonderbund ergebnislos verlaufen, die möglicherweise durch das Scheitern des Projekts von Friedewald angeregt worden waren. Die vier Kurfürsten gingen auf dieses Ansinnen nicht ein und wollten lediglich vermittelnd tätig werden.

Heinrich II. versuchte angesichts des Auseinanderbrechens der Allianz von Chambord schließlich, wenigstens die Reichsstände der rheinischen Lande in einem Bund unter dem Schutz des Königs von Frankreich zu vereinen. Dieses in einem Brief an den Kurfürsten von Köln entwickelte Projekt wurde allerdings sofort wieder aufgegeben, als die Nachricht eintraf, dass Moritz Verhandlungen mit König Ferdinand aufgenommen habe. Trotz ihres schnellen Scheiterns verdient diese Initiative Aufmerksamkeit. Nach dem Scheitern des Projekts von Friedewald war sie der zweite Versuch, Frankreichs Verhältnis zum Reich langfristig in einem wenigstens partiellen Schutzbund zu ordnen – ein Schutzbund, der die Kontrolle eines Frankreich vorgelagerten Glacis und eine Führungsrolle des Königs in wichtigen Teilen des Reiches miteinander verbunden hätte. Hermann Weber hat diese Initiative zu Recht in den Rahmen einer vor allem auf die Gewinnung der rheinischen Kurfürsten abzielenden politischen Tradition Frankreichs gestellt93.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. III

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