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Willkommen in Europas „Dritter Welt“

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Reisen sind anscheinend eine gute Gelegenheit für unfreiwillige sexuelle Abenteuer. Ein anderes Abenteuer dieser Art erlebte ich sechs Jahre später auf der schönen grünen Insel Irland:

Mit meiner Reisebegleitung Marion verband mich nichts weiter, als dass sie wie ich aus dem nicht nur im Sommer von Kohlköpfen aller Art bevölkerten Landkreis Dithmarschen stammte, in Göttingen Mathematik studierte und ich sie schon mehr als einmal mit meinem Nachthimmel-blauen VW-Käfer gegen eine bescheidene Benzinkosten-Beteiligung nachhause gefahren hatte. Ein, zwei Jahre später hatte ich dann die besondere Ehre, von ihr als ihr exklusiver persönlicher Begleiter auf eine selbstorganisierte Kreuzfahrt kreuz und quer durch ganz Irland eingeladen zu werden.

Gerade erst war sie stolze Besitzerin eines eigenen Vehikels geworden. Mit ihrem quietsch-grünen, nagelneuen Renault R4, der wesentlich geräumiger war als meine eigene, alte Schrottkiste, gingen wir zu zweit auf große Tour. Und trafen nach einer ziemlich langen Fahrt mit ihrem Auto per Schiff eines schönen Sommernachmittags anno 1976 im irischen Fährhafen Rosslare ein – ohne uns vorher über die genaue Route, über Übernachtungsmöglichkeiten oder über andere Notwendigkeiten einer derartigen Entdeckungsreise irgendwelche Gedanken gemacht zu haben.

Und so traten wir auch nicht gleich die Suche nach einer nächtlichen Bleibe an: Zu faszinierend war das, was vor uns lag. Gleich hinter dem Fähranleger bogen wir von der Hauptstraße ab und landeten sofort in der „Pampa“ – im wahrsten Sinn des Wortes. Schon England und der Süden Wales hatten auf uns zwei, vom stahl-kalten technischen Wohlstand der BRD verwöhnten Rotznasen nicht gerade den Eindruck absoluter Modernität gemacht, aber hier, so schien es, waren wir von jetzt auf gleich in einem Dritte-Welt-Land gelandet: Autos wie aus dem Museum, mickrig schmale Landstraßen und Häuser, die eher wie Notbehausungen aussahen, nach unseren hochfliegenden Maßstäben ziemlich primitiv aus grobem Naturstein zusammengehauen und danach bis auf das ebenfalls aus einfachsten Materialien bestehende Hausdach fast ausnahmslos weiß getüncht. Fast alle Häuser wurden bewacht von wolfsgroßen Hütehunden, deren größter Spaß es war, das halbe Dutzend motorisierter Fahrzeuge, das über den lieben langen Tag verteilt vorbei zu kommen geruhte, anzufallen, zu jagen und zu verbellen.

Das Ritual war immer dasselbe: Wir fuhren durch die fast leere grüne Landschaft auf ein Haus zu – außer ein paar Schafen, einer Handvoll Möwen und einigen stumpf wiederkäuenden Kühlen weit und breit keine lebende Seele zu sehen. Aber in demselben Moment, in dem wir das allein stehende Haus erreichten, brach die Hölle los: Mit ohrenbetäubendem Gebrüll schoss ein braunes, graues oder schwarzes haariges Monster aus seinem hinter einer Mauer gelegenen Versteck hervor und schmiss sich so vor unseren Kühler, dass wir kaum noch den Schwanz sehen konnten. Jeden Moment musste es zum Aufprall kommen! Aber nein, stattdessen tauchten plötzlich hässlich gelb-weiße, wütend gefletschte Zähne neben unserem Auto auf und spritzten einzelne Speichelfetzen an die Seitenscheiben. Wenige Sekunden später war der Spuk schon wieder vorbei, denn nach anfänglichen Irritationen zogen wir es vor, besser nicht zu bremsen, sondern einfach weiterzufahren. Und so gab sich das wütend bellende Monster für uns erst mit einiger Entfernung im Rückspiegel als ein immer kleiner werdendes Exemplar der Gattung „Hund“ zu erkennen.

Wir haben alle mal klein angefangen

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